Staatshaushalt 2024Mit Proust gegen die Schere: Die „Chambre de commerce“ sucht verlorene Handlungsspielräume

Staatshaushalt 2024 / Mit Proust gegen die Schere: Die „Chambre de commerce“ sucht verlorene Handlungsspielräume
Suchen nicht die verlorene Zeit: Carlo Thelen (r.), Generaldirektor der „Chambre de commerce“, und Ökonom Anthony Villeneuve Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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In ihrem Bericht zum Staatsbudget von Finanzminister Roth warnt die Handelskammer vor einer sich immer weiter spreizenden Schere zwischen Staatsausgaben und -einnahmen. Der öffentliche Dienst müsse sparen, und auch im Sozial- und Gesundheitssystem drängt man auf Reformen.

Wer hätte gedacht, dass in so einem technischen Dokument wie einem Haushaltsentwurf so viel Poesie stecken kann? Wie so viele andere Institutionen der luxemburgischen Politik und Wirtschaft hat sich auch die „Chambre de commerce“ in den vergangenen Wochen ausgiebig mit dem von Finanzminister Gilles Roth (CSV) präsentierten Gesetzesprojekt für das Staatsbudget 2024 auseinandergesetzt. An diesem Montag hat die Handelskammer ihren Bericht zum Haushalt der Öffentlichkeit präsentiert. Er trägt den feuilletonistischen Titel „A la recherche des marges de manoeuvre perdues“ – in offensichtlicher Anlehnung an Marcel Prousts berühmtes „A la recherche du temps perdu“. Wo aber der Ich-Erzähler in Prousts Monumentalwerk der modernen Literatur angesichts der Vergänglichkeit des Lebens seinen Blick in die Vergangenheit richtet und in seiner Erinnerung nach Wahrheit sucht, nach etwas, das bleiben könnte, geht es der „Chambre de commerce“ ganz und gar um die Zukunft. Genauer: um verlorene Handlungsspielräume.

Generaldirektor Carlo Thelen nennt das auf der Pressekonferenz die „Haushaltsgleichung“: Luxemburg habe sich 2023 in einer technischen Rezession befunden, so Thelen. Das Großherzogtum, lange der „Outperfomer“ Europas in Sachen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, hat seinen Vorsprung eingebüßt. Während auf der einen Seite die Arbeitslosenzahlen gestiegen seien, seien auf der anderen Seite die Betriebsgründungen zurückgegangen, so der Generaldirektor. „Viele Betriebe mit weniger als fünf Angestellten mussten dichtmachen“, sagt Thelen. Die Gründe: ein gestiegener bürokratischer Aufwand – aber auch ein neuer „Absentismus“ der Mitarbeitenden, so der Handelskammerdirektor, der sich nach der Covid-Pandemie noch verstärkt habe und auch durch neue Urlaubsregelungen begünstigt werde. „Die Jahresarbeitszeit ist um 174 Stunden gesunken im Vergleich zu vor zwei Jahren“, sagt der Generaldirektor. „Das ist gut für die Work-Life-Balance, aber schwer für die Betriebe.“

Keine Gießkannen-Maßnahmen bei der Tripartite

Weil sich Wachstum und Beschäftigung auf dem absteigenden Ast befänden, so die Analyse der Kammer, habe in Luxemburg ab dem Jahr 2022 eine Schere eingesetzt: Die Ausgaben des Staates steigen schneller als die Einnahmen, die Staatsverschuldung wächst. Im Budget für das Jahr 2024 sollen die Ausgaben des Zentralstaats um 7,6 Prozent steigen, die Einnahmen jedoch nur um 7,1 Prozent. Ein Minus von 1,9 Milliarden Euro. Das alles verringere die Handlungsspielräume des Staates, so die „Chambre de commerce“. Für sie stellt sich die Frage, wie die nötigen Mittel zur Diversifizierung der Wirtschaft finanziert werden können, für den digitalen und ökologischen Wandel und zur Aufrechterhaltung des Sozialsystems.

Um die Schere zu schließen und verlorene Handlungsspielräume zurückzugewinnen, sei es wichtig, den Anstieg der laufenden Ausgaben einzudämmen, so Anthony Villeneuve, Ökonom der Handelskammer.  Im Speziellen gehe es dabei vor allem um die ansteigenden Kosten im öffentlichen Dienst. Diese müsse man unter Kontrolle bringen, so die Handelskammer – mithilfe von Digitalisierung und einer Optimierung der Verwaltung. Auch warnte Generaldirektor Thelen davor, bei zukünftigen Tripartite-Verhandlungen Hilfspakete „mit der Gießkanne“ zu verteilen, bei solchen Maßnahmen müsse man in Zukunft gezielter arbeiten.

Vor allem die Wettbewerbsfähigkeit Luxemburgs bereitet Thelen Sorgen. Während die Handelskammer die geplante Senkung der Unternehmenssteuer begrüßt, kritisiert sie, dass weiterhin keine Reform der Lohn-Indexierung geplant sei. Außerdem wundere man sich über die Ausgabenkürzungen zur Entwicklung des Finanzplatzes, sei dieser doch der „Hauptmotor der luxemburgischen Wirtschaft“. Was die Nachhaltigkeit des luxemburgischen Sozialmodells angeht, kommt die „Chambre de commerce“ in ihrer Analyse außerdem zu einem klaren Schluss: Eine Reform des Rentensystems und auch eine Modernisierung des Gesundheitssystems seien unvermeidbar.

Der Proust-Titel kann es nicht verschleiern. Es geht der Handelskammer nicht um schwelgerische Träume, sondern um die dringliche Realität der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Oder, um es doch noch einmal durch Proust zu sagen: Es ist keine Zeit, um Madeleines in den Tee zu dippen.