KurzgeschichteMehr als nur Lockdown-Literatur: Mit „Blue like a Tangerine“ erklärt Elise Schmit ihr Schreiben

Kurzgeschichte / Mehr als nur Lockdown-Literatur: Mit „Blue like a Tangerine“ erklärt Elise Schmit ihr Schreiben
Elise Schmit ist Autorin, Philologin und Literaturkritikerin. 2019 erhielt sie für den Kurzgeschichten-Band „Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen“ den Servais-Preis Foto: Boris Loder

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Immer mehr Werke, die in der Coronazeit entstanden sind, erscheinen aktuell auf dem Büchermarkt. So auch die illustrierte Kurzgeschichte „Blue like a Tangerine“ der Luxemburgerin Elise Schmit. Im Tageblatt-Interview beantwortet die Autorin die Frage, ob die Pandemie den Text prägte – und erklärt, inwiefern die Erzählung der Schlüssel zu ihrem Schaffen darstellt.

Tageblatt: Ist der Text in der Pandemie entstanden?

Elise Schmit: Mit dem Schreiben des Textes habe ich letztes Jahr begonnen. Im ersten Lockdown hatte ich angefangen, kurze Texte für Freund*innen zu schreiben, um sie zu unterhalten. Dieser Text ist einer davon.

Wurde er auch thematisch von der Pandemie beeinflusst?

Ja und nein. In den meisten meiner Texte stelle ich Krisensituationen dar. Dabei handelt es sich meistens um innerliche Krisen – obwohl ich meine Figuren auch oft in Situationen versetze, die äußerlich schwierig sind. Das Wort „Corona“ erscheint nicht im Text und es geht auch nicht um das Virus, sondern einfach um eine allgemein schwere Lage.

Klar, konkret auf eine Seuche bezieht sich der Text nicht. Dennoch sickert das Gefühl von Vereinzelung, das viele Menschen im letzten Jahr heimgesucht hat, durch. Lässt sich der Text als Allegorie für die Einsamkeit der Menschen in der Coronazeit lesen oder ist das zu kurz gegriffen?

Das wäre mir tatsächlich zu kurz gegriffen. Die Metaphern, die ich im Text benutze, habe ich bewusst so offen und vielfältig gestaltet, dass man sie nicht einfach auflösen kann. Isolation ist ein Thema, mit dem ich mich konstant beschäftige. In dem Sinne ist mir die Coronazeit entgegengekommen. Die Welt hat das gemacht, was meine Figuren ohnehin in der Ausgangssituation der jeweiligen Geschichte erleben: Sie werden auf sich selbst zurückgeworfen.

Zu den Metaphern: Ein blauer Vogel, der aus einer Mandarine schlüpft … Das ist auf jeden Fall ein verschlüsseltes Bild. Warum fiel Ihre Wahl auf genau diese Obstsorte?

Als ich zu schreiben anfing, hatte ich noch Mandarinen zu Hause. Es muss also im Mai gewesen sein, denn danach gibt es keine mehr. Es ist eine Anspielung auf Paul Eluards Gedicht „La Terre est bleue comme une orange“. Aber weil ich nicht Paul Eluard bin, habe ich etwas von geringerer Größe genommen, sprich eine Mandarine.

Mit dem Schlüpfen des blauen Mandarinenvogels dringt das Fantastische in die tagtägliche Realität ein. Das erinnert an Gabriel García Márquez und den magischen Realismus, in dem sich unsere materielle Wirklichkeit mit der Welt der Träume und des Übernatürlichen verschränkt. Sehen Sie sich als Vertreterin dieser Strömung?

Von seinen Merkmalen her passt der Text wahrscheinlich zum magischen Realismus. Ich habe ihn aber nicht geschrieben mit dem Vorsatz, eine Geschichte zu entwerfen, die zu dieser literarischen Bewegung passt. Normalerweise schreibe ich sehr konkrete, realistische Texte, die die Dinglichkeit der Welt hervorheben. Ich habe natürlich aber auch schon vorher Texte wie „Blue like a Tangerine“ verfasst, die, sagen wir, verspielter sind.

Die Kurzgeschichte ist aber ziemlich düster …

(Lacht) Formal verspielt, meinte ich.

Sie meinen mit fantastischen Elementen? 

Ja, genau. Und darüber hinaus operiert der Text ja mit vielen erzählerischen Kniffen. Es gibt einen unzuverlässigen Erzähler und verschiedene Erzählebenen, die ineinander übergehen.

Stichwörter Metafiktion und Selbstreflexivität …

Als ich den Text schrieb, ging es mir darum, einer Person, mit der ich befreundet war, exemplarisch zu zeigen, worüber ich schreibe, wie ich schreibe und wie groß die Bandbreite erzählerischer Möglichkeiten ist, die ich selbst für mich festlege. Das hat zu einem sehr dichten Text geführt. Teil einer Reihe ist er nicht. Die anderen Texte, die ich 2020 für Freunde angefangen habe zu schreiben, habe ich – im Gegensatz zu diesem – nicht beendet. „Blue like a Tangerine“ hat den ganzen Raum eingenommen, weil ich gemerkt habe, dass ich dabei war zu erklären, was ich eigentlich mache, wenn ich schreibe.

Der Entstehungskontext des Texts spielt also eine große Rolle. Wie würden Sie denn überhaupt Ihr Schreiben mit nicht-literarischen Begriffen definieren?

Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das ist auch nicht meine Aufgabe. Ich wehre mich dagegen, dass Autor*innen die Definition ihres Schreibens mit ihrem Schreiben mitliefern müssen. Ich finde das auch nicht interessant, ehrlich gesagt. Das Geschichtenerzählen ist ja immer mehr als nur eine Theorie, zum Glück. Wer nach einer Theorie sucht, kann das tun, aber ich muss sagen, dass ich dazu keine Lust habe.

Natürlich, das kann oder möchte man ja auch nicht unbedingt. Festhalten kann man aber, dass „Blue like a Tangerine“ für Ihr Schreiben in irgendeiner Form beispielhaft ist.

Auf merkwürdige Weise ja, obschon der Text auf Englisch ist und ich davor noch nichts in dieser Sprache geschrieben habe. Dadurch, dass ich das gemacht habe, habe ich gemerkt, dass es funktioniert, und deswegen habe ich damit weitergemacht. Mein zweites englischsprachiges Werk, ein Theaterstück mit dem Doppeltitel „Under The Sun / Ënner der Sonn“, habe ich dieses Jahr geschrieben. Im Oktober soll es aufgeführt werden.

In Ordnung. Was bedeutet „Blue like a Tangerine“ denn persönlich für Sie?

Ich glaube, ich habe noch nie einen persönlicheren Text aus der Hand gegeben. Deswegen ist das sehr merkwürdig für mich. Ich bin froh, dass Antic-Ham den Text illustriert hat. Dadurch war ich mit dem Projekt nicht alleine. Es war so, als ob man mich bei der Hand genommen hätte. (Pause) Ich benutze in meinen Texten zum Beispiel gerne Ironie. Das ist ein Mittel, sich die Welt auf Distanz zu halten. In „Blue like a Tangerine“ wird diese Ironie stellenweise gebrochen. Eigentlich ist mir der Text zu nah, zu gefährlich.

Trotzdem haben Sie sich dazu entschieden, den Text zu veröffentlichen.

Ja. Manchmal muss man etwas wagen.

Noch ein letzter Punkt: In dem Text wird die Frage aufgeworfen, ob sich zwei Menschen überhaupt nahekommen können. Liebe, besonders die partnerschaftliche, geht zwangsläufig einher mit Einsamkeit. Aber auch das vertrackte Verhältnis zwischen dem Ich-Erzähler und dem blauen Mandarinenvogel buchstabiert das aus. Soll damit die (Un-)Möglichkeit von Intimität beleuchtet werden?

Absolut. Das ist der Kern des Ganzen. Isolation ist das Hauptthema meines Schreibens. Es ist verbunden mit meinem Menschenbild, das man nicht unbedingt teilen muss. Im Zentrum steht die Idee, dass der Mensch alleine ist und auch nicht aus sich selbst herauskommt. Und die große Hoffnung oder Illusion, mit der sich die Menschen über Wasser halten, ist schlussendlich die Liebe. Die Vorstellung, nicht alleine zu sein und einen Weg aus der Monade, in der man sich steckt, herauszufinden. (Pause, lacht) Ob das funktioniert, ist eine andere Frage.

„Blue like a Tangerine“

In der Kurzgeschichte „Blue like a Tangerine“ kommt es zur unverhofften Begegnung zwischen dem Ich-Erzähler und einem blauen Vogel, der eines Tages aus einer Mandarine schlüpft. Der Ich-Erzähler, der nach eigenen Angaben selbst schriftstellerisch tätig ist, versucht, sich um seinen neuen Hausgast zu kümmern. Dies ist aber gar nicht so einfach, da sich das Tier ausschließlich von Mandarinen ernährt – das Obst aufgrund von Lieferengpässen jedoch ein seltenes und teures Gut darstellt. Immer wieder spricht der Erzähler von der andauernden „Krise“, die die Preise materieller Güter in die Höhe schnellen lässt und zwischenmenschliche Begegnungen auf kurze Interaktionen beim Einkaufen reduziert.
Dadurch, dass die – vermutlich politische – Notlage jedoch nicht näher definiert wird, entsteht ein diffuses Gefühl von Bedrohung, das durch die Unabgeschlossenheit der Handlung noch betont wird. Der Text trägt die Signatur des pandemischen Ausnahmezustands in sich, ist aber zugleich viel mehr als reine Lockdown-Literatur: Auto(r)reflexion und Elegie auf die (fast) gänzliche Unerreichbarkeit tiefer emotionaler Verbundenheit.