Mentale GesundheitKrieg in der Ukraine: Psychologe Marc Stein erklärt, was man bei Angstgefühlen tun kann

Mentale Gesundheit / Krieg in der Ukraine: Psychologe Marc Stein erklärt, was man bei Angstgefühlen tun kann
Auf der ganzen Welt blicken Menschen mit Sorge auf das Geschehen in der Ukraine und gehen dagegen auf die Straße – auch im Großherzogtum  Foto: Editpress/Anouk Flesch

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Bilder der Zerstörung, Nachrichten zu atomarer Bedrohung, Krieg: Schreckliche Nachrichten erreichen die Menschen weltweit seit fast drei Wochen aus der Ukraine. Und auch wenn man in Luxemburg nicht unmittelbar in das Geschehen involviert ist, kann das Angst machen – manchen mehr, anderen weniger. Psychologe Marc Stein erklärt, wie man das Gedankenkarussell bremsen kann. 

Tageblatt: Marc Stein, Sie arbeiten als Psychologe bei der Polizei, sind Präsident der „Société luxembourgeoise de psychologie“ (SLP) und Mitglied einer europäischen Arbeitsgruppe zum Thema „Psychologie bei Katastrophen, Krisen und Traumata“. Was raten Sie Menschen hier im Großherzogtum, die wegen des Krieges besorgt sind oder gar große Angst haben?

Marc Stein: Zuerst einmal ist es normal, sich Sorgen zu machen oder Angstgefühle zu haben. Diese Empfindungen weisen auf Bedrohungen hin – das ist eigentlich nichts Schlechtes. Kontraproduktiv ist allerdings, wenn sich sehr große Angst entwickelt oder gar Panik entsteht. Wenn der Alltag dadurch beeinflusst wird, man nicht mehr abschalten und einen guten Film oder ein Glas Wein genießen kann. Man ständig nervös ist, nicht gut schläft, Verdauungsprobleme hat, mit wenig Appetit oder sogar Fressattacken zu kämpfen hat. Auch Hautausschlag oder Rückenschmerzen können auftreten. Wer stark beunruhigt ist, dem rate ich dazu, sich anders mit dem Thema auseinanderzusetzen.

„Sich anders mit dem Thema auseinandersetzen“, wie genau kann das aussehen? 

Indem man die Angst auf Basis von Fakten hinterfragt: Wie real ist es, dass morgen hier in Luxemburg Krieg ausbricht? Es gibt meiner Meinung nach keine realen Anhaltspunkte dafür, dass das der Fall sein wird. Und man sollte sich nicht wegen etwas fertig machen, das nicht ist. Manche aber verfallen in ein Katastrophendenken. Sie lesen nur noch Negatives, was die Angst wiederum wachsen lässt – ein Teufelskreis. Vor allem diese Menschen sollten darauf achten, wie sie Medien konsumieren. Ich rate dazu, ein- oder zweimal am Tag einen seriösen Nachrichtensender einzuschalten. Man sollte auch bewusst nicht in den sozialen Medien auf alle möglichen Artikel klicken. Ängstlichen Personen kann es helfen, die Push-Mitteilungen von Nachrichtenplattformen auszuschalten. 

Sie sprechen die Seriosität der Nachrichtenplattformen an: Spielt die Art und Weise, wie Menschen sich informieren, bei der Entwicklung von Ängsten eine Rolle? 

Es geht dabei nicht nur um die Frage der Frequenz – also wie oft konsumiere ich Nachrichten? –, sondern auch um die der Seriosität der Medien. Wenn man etwas liest, hört oder sieht, sollte man hinterfragen, ob die Information auch wahr ist. Im Netz sind derzeit viele Dinge im Umlauf, die nicht geprüft sind und schlichtweg nicht stimmen. Deshalb rate ich ausdrücklich davon ab, sich über Plattformen zu informieren, die ohnehin nur Panik verbreiten. Stattdessen sollte man auf seriöse Nachrichtenportale setzen. 

Psychologe Marc Stein 
Psychologe Marc Stein  Foto: Editpress/Hervé Montaigu

Ein Ratschlag ist also, sich bewusst zu informieren. Was sind andere, nützliche Empfehlungen?

Atemübungen können hilfreich sein. Denn Angst ruft in unserem Körper eine Stressreaktion hervor: diesem wird signalisiert, dass er sich bereit zum Flüchten oder Kämpfen machen soll. Die Atmung geht schneller. Dagegen kann man ansteuern – indem man während ein paar Minuten bis vier zählt und solange einatmet. Dann erneut bis vier zählt und währenddem den Atem anhält. Und dann nochmal bis vier und währenddem ausatmet. Das baut Spannung im Körper ab. Zuhause kann man auch eine Runde um den Block gehen oder im Büro ein paar Mal die Treppen rauf- und runtergehen. Hauptsache, man geht einer anderen, körperlichen Aktivität nach, um so die Stressreaktion zu unterbrechen. Das funktioniert, man muss es nur machen. 

Man lenkt sich zum Teil also auch von seinen Gedanken ab. Vorhin sprachen Sie von einem gemütlichen Filmabend, einem guten Glas Wein. Solche Dinge können einem schon fast falsch vorkommen, wenn an einem anderen Ort Krieg herrscht.

Klar, dass man da moralische Bedenken hat. Aber was hilft es anderen, wenn es mir schlecht geht? Ich sehe das so: Wenn man eine gute psychische Hygiene hat – wie wir es nennen –, dann ist man umso fähiger, anderen zu helfen. Wer mental stabil ist, kann anpacken, wenn Hilfe gebraucht wird. Sich beispielsweise melden, wenn freiwillige Helfer gesucht werden. Und so seinen kleinen Baustein beitragen. Ich rate allgemein dazu, sich Zeit für sich selbst und die eigene Familie zu nehmen, Sport zu machen oder anderen Hobbys nachzugehen. Wer gerne Musik macht, sollte das auch weiterhin tun. Das alles ist wichtig – übrigens auch dann, wenn man nicht in einer Krisensituation steckt. 

Man hat den Eindruck, dass die Nachrichten bei den einen kaum Sorgen auslösen, andere aber eben sehr ängstlich reagieren. Wie kommt das?

Tatsächlich lässt manche das Thema kalt, sie interessiert es nicht und sie haben deshalb auch keine Probleme, damit umzugehen. Bei anderen ruft der Krieg Unverständnis und Kopfschütteln hervor. Andere machen sich etwas Sorgen und wiederum andere haben richtig Angst. Letztlich hängt das immer auch davon ab, was man bereits durchlebt hat: Wer schon einmal ähnliche Erfahrungen gemacht hat, kann nun eine Art Déja-vu haben. Man muss bedenken, dass neben der Kriegsgeneration unserer Großeltern im Großherzogtum auch viele Menschen leben, die nicht in Luxemburg geboren sind. Einige von ihnen haben vielleicht schon einen Krieg oder Ähnliches erlebt. Wenn jemand schon einmal Todesangst hatte und das nicht verarbeitet wurde, ist es sehr wahrscheinlich, dass das nun bei ähnlichen Gefühlen wieder hochkommt. 

Es ist nicht zum ersten Mal, dass uns Bilder aus Kriegsgebieten erreichen. Die Betroffenheit der Menschen scheint dieses Mal allerdings besonders groß. 

Das liegt zum einen an der geografischen Nähe: Bis zur Ukraine sind es gerade einmal rund 1.500 Kilometer. Auch ist der Angriff Russlands einer auf die Werte der westlichen Gesellschaft – auf Werte wie Meinungsfreiheit oder Pressefreiheit, die auch uns wichtig sind. Wir sind es gewohnt, uns über verschiedene Medien informieren zu können, die Presse darf hier kritisch berichten. Wir können uns mit den Menschen in der Ukraine identifizieren, denken „die sind wie ich, die ähneln mir“. Dadurch spüren wir uns ihnen näher, sind empathischer und empfinden mehr Mitgefühl. 

Niemand weiß genau, wie es nun weitergeht. Auf was soll man in puncto mentale Gesundheit auf Dauer aufpassen? 

Für die meisten ist die Situation eine Belastung und auch wenn es nicht einfach ist, muss man akzeptieren, dass man nicht alles kontrollieren kann. Wenn der Krieg länger anhält, wird man sich hier, nüchtern gesagt, auch im Alltag daran gewöhnen. Wer allerdings extreme Ängste entwickelt und merkt, dass das Thema gar nicht mehr aus dem Kopf geht, sollte nicht davor zurückschrecken, professionelle Hilfe zu suchen. Auf der Webseite slp.lu gibt es eine Liste mit nützlichen Adressen und Kontaktdaten von Psychologen sowie Psychotherapeuten.