PorträtJulie Reichard feiert 100. Geburtstag: „Was soll ich im Altersheim, das ist etwas für alte Leute“

Porträt / Julie Reichard feiert 100. Geburtstag: „Was soll ich im Altersheim, das ist etwas für alte Leute“
Die Zeit vergeht: Julie Reichard posiert mit einem Foto, das sie als 23-Jährige zeigt Foto: Editpress/Alain Rischard

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Sie lebt alleine in ihrer Wohnung in Alzingen und versorgt sich selbst. In Anbetracht ihres stolzen Alters ist das keine Selbstverständlichkeit. Denn am heutigen Dienstag feiert Julie Reichard ihren 100. Geburtstag. Im Gespräch mit dem Tageblatt blickt die gebürtige Escherin auf ihr langes Leben zurück.   

„Ich habe nie gedacht, so alt zu werden. Mein Mann war drei Jahre jünger als ich. Also habe ich ihm immer gesagt: ‚Wenn ich einmal sterbe, such dir eine Jüngere‘“, sagt Julie Reichard lachend. Am 6. August 1949 hatten Eugène und Julie geheiratet, kennengelernt hatten sie sich eineinhalb Jahre zuvor im Tanzlokal „Hein“ auf der Escher „Grenz“. Julie Reichard kommt aus der „Hiehl“, kam am 19. September 1923 in der heutigen Jean-Pierre-Bausch-Straße 31 neben dem „Wäschbour“ in ihrem Elternhaus zur Welt.  „Ich bin eigentlich gar nicht gerne tanzen gegangen“, erinnert sich Julie Reichard, „damals war es so, dass die Männer die Frauen zum Tanz aufforderten. Das tat Eugène und dann fragte er, ob wir uns wiedersehen könnten. Ich sagte: ‚Mal schauen.‘ Eine Woche später sind wir zusammen ins Kino Rex. Und eineinhalb Jahre später haben wir dann geheiratet.“     

1949 heirateten Julie und Eugène
1949 heirateten Julie und Eugène Foto: Editpress/Alain Rischard

1950 kam mit Romain der erste Sohn zur Welt, später folgten Tochter Josiane und ein weiterer Sohn, Marcel. Heute hat Julie Reichard sieben Enkel und acht Urenkel. Die Geburt ihres ersten Kindes bezeichnet die 100-Jährige als den schönsten Moment ihres langen Lebens. „Ich lag in der ‚Maternité‘ in einem großen Zimmer und sie legten mir Romain in den Arm. Ich fragte ihn: ‚Bass du elo mäin?‘“   

Ehemann Eugène war ein Tetinger, er arbeitete im Kayler Gaswerk. Die Familie wohnte in der Großstraße in Tetingen gegenüber des Friedhofs. Julie kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt. „Ech hat Aarbecht genuch“, sagt sie, die damals wie heute eine exzellente Köchin ist. Was vielleicht daran liegt, dass eine ihrer Lehrerinnen an der Escher Haushaltsschule Ketty Thull war, die 1946 das Standardwerk der Luxemburger Küche schlechthin schrieb. Noch heute kocht Julie Reichard jeden Tag für sich selbst. Auf fremde Hilfe ist sie kaum angewiesen.    

Das geht, weil sie geistig voll auf der Höhe ist. Jeden Tag löst sie Kreuzworträtsel, seit 30 Jahren führt sie Tagebuch. Julie Reichard lebt allein in ihrer Wohnung in Alzingen. Sie fühlt sich wohl in ihren eigenen vier Wänden und sagt: „Was soll ich im Altersheim, das ist doch nur etwas für alte Leute.“ Langeweile kommt bei ihr selten auf, auch, weil sie gerne fernsieht. „Sturm der Liebe“ ist ihre Lieblingsserie, Charlton Heston ihr Lieblingsschauspieler. Die Formel-1-Rennen verfolgt sie gespannt. Sogar „Naked Survival“ hat sie schon geschaut. Und natürlich täglich die Nachrichten. „Aber nur einmal am Tag, denn auf der Welt passieren zu viele schlimme Sachen.“

Was soll ich im Altersheim, das ist doch nur etwas für alte Leute

War demnach früher alles besser? „Et wor anescht“, sagt Julie Reichard, „früher ist man den Menschen auf der Straße begegnet, heute ist das nicht mehr so“. Sie spricht davon, eine schöne Jugend gehabt zu haben, auch wenn der Zweite Weltkrieg ihr einen großen Teil davon raubte. An den Tag der deutschen Invasion kann sie sich noch genau erinnern. „Mein Vater verlegte gerade einen neuen Parkettboden zu Hause. Ich sagte zu ihm: Hör auf damit, es ist Krieg. Er antwortete: Das muss aber fertig werden.“ Also verlegte er den Boden weiter, war um 18.00 Uhr fertig. Zwei Stunden später saß die Familie in einem Kleintransporter und fuhr Richtung Südfrankreich. Bei Montpellier schlief man in einer Garage auf Stroh.

 
  Foto: Editpress/Alain Rischard

Ihr zukünftiger Ehemann Eugène war ebenfalls dort, doch kannten sich die beiden damals noch nicht und fanden erst später heraus, dass sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren. Anschließend ging es nach Cournonterral, wo die Flüchtlinge aus Luxemburg zu neunt ein kleines Zimmer bewohnten. Nach drei Monaten fuhren sie mit gemischten Gefühlen zurück nach Esch. Die Fenster des Hauses in der Hiehl waren eingeschlagen, ansonsten alles beim Alten. Julie wurde von den Besatzern zum Arbeitsdienst geschickt. Den absolvierte sie im Laboratorium der Belvaler Schmelz, wo auch ihr Vater arbeitete. „Et wor e schappegt Liewen deemools, alles wor rationéiert“, erinnert sich Julie Reichard. Ihr zukünftiger Mann wurde derweil zwangsrekrutiert und landete im berüchtigten Gefangenenlager Tambow. 

Gene für ein langes Leben

Nach dem Krieg zog Julie für zwei Jahre in die Schweiz und arbeitete als Krankenschwester. Ihre ältere Schwester hatte einen Schweizer geheiratet und war in die Alpenrepublik gezogen. „Ich wäre auch dort geblieben. Doch meine Mutter musste an der Galle operiert werden und daher bat mich mein Vater, nach Hause zu kommen.“ Von ihren Eltern bekam Julie jedenfalls die Gene für ein langes Leben vererbt. Ihre Mutter starb 1990 im Alter von 90, ihr Vater wurde 87 Jahre alt, obwohl er Kettenraucher war. Wäre sie in der Schweiz geblieben, hätte sie ihren zukünftigen Ehemann Eugène wohl nie kennengerlernt. Der starb 1999, Julie Reichard senkt die Stimme ein wenig, wenn sie über ihn spricht. Ihr Mann hatte Alzheimer, die letzten beiden Jahre seines Lebens waren schwierig. „Es war hart. Man kann das als schwierigsten Moment in meinem Leben bezeichnen. Trotzdem wünschte ich mir, dass er noch hier wäre. Ich bekomme zwar oft Besuch von meiner Familie, trotzdem wäre ein Leben zu zweit schöner.“ 

So bleiben die Erinnerungen, und jede Menge Fotos. Zum Beispiel von den Urlauben der Familie. Als Kind war Julie fast jedes Jahr mit der Familie in die Schweiz zur Schwester gefahren. Als sie ihre eigene Familie gegründet hatte, beschränkten sich die Reisen auf die belgische Küste, die man einige Male besuchte. Und auf einen Urlaub auf Mallorca, den einzigen Flug ihres Lebens. Ehemann Eugène wollte danach kein Flugzeug mehr besteigen.      

Heute also wird Julie Reichard 100 Jahre jung. Das Geheimnis ihres langen Lebens? „Net ze vill Stress, gutt schlofen a gesond liewen“, antwortet sie. Dazu gehört, nicht zu rauchen. Ein halbes Glas Wein gönnt sie sich noch heute häufig, „aber nur zum Mittagessen“, sagt Julie Reichard, die nie einen Führerschein oder ein Handy besaß. „Ich habe in meinem Leben immer das gemacht, was ich für richtig hielt“, so das Geburtstagskind abschließend. 

Familienbande (v.l.n.r.): Alphonsine, Marcel, Julie, Josiane, Nicole und Romain
Familienbande (v.l.n.r.): Alphonsine, Marcel, Julie, Josiane, Nicole und Romain Foto: Editpress/Alain Rischard
liah1elin2
20. September 2023 - 12.32

Meine Hochachtung Madame und herzliche Gratulation.

Leila
19. September 2023 - 10.58

Gratulation! Optisch kaum verändert, nur Haarschnitt, Farbe und Brille! Wunderbar, wenn man so altern kann! Dass sie nicht ins Altersheim will (und auch nicht brauch) ist bewundernswert!