DeutschlandInterview mit SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz: „Es darf keinen neuen Lockdown geben“

Deutschland / Interview mit SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz: „Es darf keinen neuen Lockdown geben“
„Na, es ist doch gut, wenn wir die Zweifler überzeugen können“: Olaf Scholz, Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Foto: dpa/Annette Riedl

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Lange lag die SPD in den Umfragen zurück, nun holt sie auf. Die persönlichen Werte ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz sind schon länger gut, nun will er verstärkt um Zustimmung kämpfen. Wir sprachen mit ihm über die Lage in Afghanistan, Corona, den Kohleausstieg – und ob er am Ende vielleicht ein Gewinner ohne Regierungsamt ist.

Tageblatt: Herr Scholz, Sie wollen Deutschlands nächster Regierungschef werden. Was bedeutet das Desaster in Afghanistan für Deutschland und den Westen?

Olaf Scholz: Das sind schlimme und bedrückende Bilder und Nachrichten, die uns seit Tagen aus Afghanistan erreichen. Dort spielt sich ein Drama ab, das alle entsetzt, die sich jahrelang für eine bessere Zukunft dieses Landes, für Demokratie und mehr Rechtsstaatlichkeit eingesetzt haben. Mich bewegt die Frage, wie es geschehen konnte, dass die Taliban quasi ohne nennenswerten Widerstand der Regierung und von immerhin knapp 300.000 Soldaten der afghanischen Armee das Land übernehmen konnten.

Wie konnte es zu einer solch falschen Lageeinschätzung der Ministerien kommen?

Wie es aussieht, hat die komplette internationale Staatenwelt die Lage nicht richtig beurteilt. Auch die US-Nachrichtendienste sind wohl bis zuletzt nicht davon ausgegangen, dass die Taliban die Macht in Kabul in solch kurzer Zeit übernehmen würden. Noch am Freitag vergangener Woche glaubten viele, die Hauptstadt werde noch mindestens 30 Tage frei bleiben, es waren dann nicht mal 30 Stunden.

Außenminister Heiko Maas, Ihr Parteikollege, steht wegen bürokratischer Hürden bei den Visa besonders unter Druck. Genießt er trotz der Vorfälle Ihr volles Vertrauen?

Der Außenminister ist für diesen Vorhalt die falsche Adresse. Aber ich will nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Jetzt müssen alle ihre Arbeit tun und unsere Soldatinnen und Soldaten bei ihrer schwierigen Evakuierungsmission unterstützen.

Wie kann man den Menschen, die vor den Taliban flüchten, helfen?

Die Bundeswehr hat eine Luftbrücke etabliert, mit der jetzt in mehreren Flügen täglich Deutsche, europäische Verbündete und auch afghanische Bürgerinnen und Bürger aus Kabul ausgeflogen werden. Es geht u.a. um Ortskräfte der Bundeswehr, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und politisch bedrohte Afghanen, z.B. Frauen, die sich für Gleichstellung eingesetzt haben. Das ist ein wichtiger Schritt – neben den USA sind auch wir Deutsche am Flughafen präsent. In naher Zukunft werden sicher auch noch mehr Afghanen ins Exil gehen und vor allem in den Nachbarländern Afghanistans Schutz suchen. Wir müssen dort Entwicklungs- und Integrationsperspektiven ermöglichen. Pakistan, Iran, Irak und auch die Türkei brauchen dafür die Unterstützung der Weltgemeinschaft.

Dies sind überwiegend keine Staaten, die Deutschland unterstützen will …

Wir erleben gerade eine außerordentliche Krise und der Schutz der Flüchtlinge hat Priorität. In den internationalen Beziehungen kann man sich seine Gegenüber nicht aussuchen, viele teilen oft nicht unsere Vorstellungen und Werte. Aber wenn sie den Flüchtlingen Schutz bieten, ist das Anlass genug zu helfen.

Sie wollen verhindern, dass die Menschen nach Europa kommen?

Es geht darum, jetzt schnell das Richtige zu tun. Und das ist jetzt erst mal die Evakuierung.

Es gibt die Forderung nach einem Bundesaufnahmeprogramm. Wie viele Menschen könnte Deutschland aufnehmen?

Jetzt geht es um akute Hilfe in der Not. Und die Genannten, die Ortskräfte von Medien und Hilfsorganisationen z.B., die auf unseren Listen stehenden Personen, nehmen wir später unbürokratisch auch auf, wenn sie nicht jetzt am Flughafen in Kabul in ein Flugzeug steigen.

Kommen wir zur Innenpolitik. Das Kabinett hat am Mittwoch den Wiederaufbaufonds für die Flutregionen beschlossen. Kann es sich Deutschland leisten, immer mit „Wumms“ gegenzusteuern bei Naturkatastrophen dieser Art, wenn diese künftig verstärkt vorkommen?

Die Folgen dieser Naturkatastrophe sind sehr groß. Ich habe mir das vor Ort angeschaut, habe das Entsetzen erlebt über die vielen Toten, über die Verletzten und die Zerstörungen in Rheinland-Pfalz, in Nordrhein-Westfalen und auch in Bayern. Bis heute gibt es Vermisste. Die Trauer über den Verlust der Eltern, der Geschwister, der Kinder können wir mit keinem Geld der Welt lindern. Wir können aber dabei helfen, Häuser, Betriebe und Infrastruktur wiederaufzubauen. Das ist eine nationale Katastrophe. Da ist es gut, dass der Bund und auch die Länder, die davon nicht unmittelbar betroffen sind, gemeinsam unterstützen. Das ist ein Beweis von Solidarität, der unserem Land guttut.

Menschen überlegen bereits, den betroffenen Regionen den Rücken zu kehren …

Mit den 30 Milliarden Euro an Hilfen verbinden wir die klare Botschaft: Wir setzen auf den Wiederaufbau. Vielleicht kann nicht jedes Haus an gleicher Stelle aufgebaut werden, aber hoffentlich im selben Ort. Die Bürgerinnen und Bürger sollten in ihrer Heimat bleiben können. Deshalb werden wir auch mehr Geld in den Schutz vor solchen Katastrophen investieren.

Die Flut hat uns vor Augen geführt, welche Folgen der Klimawandel in Deutschland haben kann. Warum halten Sie am Kohleausstiegsdatum von 2038 als spätestem Zeitpunkt fest? Die Unternehmen sind doch teils schon schneller.

Gerade steigen wir aus der Nutzung der Atomenergie aus, danach aus der Kohleverstromung. Und wir wollen ein erfolgreiches Industrieland mit guten Arbeitsplätzen bleiben. Damit das klappt, brauchen wir erheblich mehr Strom als heute – und zwar erzeugt mit Windkraft und Sonne. Deshalb müssen schon im ersten Jahr der neuen Regierung die nötige Strommenge des Jahres 2045 festgelegt, der dazu nötige Ausbau der Stromnetze beschlossen und das Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. Umso schneller wir das schaffen, umso eher können und werden wir die Kohleverstromung hinter uns lassen. Augenblicklich stockt der Ausbau – übrigens auch und insbesondere in Ländern mit grüner Regierungsbeteiligung. Baden-Württemberg hat im vergangenen Jahr gerade mal zwölf Windkraftanlagen genehmigt. Ich will die Jahrhundertaufgabe anpacken, Deutschland zu einem klimaneutral wirtschaftenden Industrieland zu machen.

Mit Blick auf den Lockdown haben Sie im Frühjahr vom Biergarten gesprochen, in dem sie wieder sitzen wollen im Sommer. Das hat geklappt. Wie ist Ihre Prognose für den Herbst?

Der Herbst 2021 wird anders – für die Allermeisten besser – verlaufen. Wichtig ist, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger sich impfen lassen. Aktuell sind 63,7 Prozent der Bürgerinnen und Bürger mindestens einmal geimpft, mehr als 58 Prozent sind durchgeimpft. Das ist gut, aber noch nicht gut genug. Ich verstehe die Skepsis, die mancher anfangs vor der Impfung hatte. Doch angesichts von mehr als 100 Millionen Impfungen allein in Deutschland zeigt sich doch, dass die Sorge vor den Folgen der Impfungen unbegründet ist. Die Impfung schützt. Wer nicht geimpft ist, riskiert seine Gesundheit und sein Leben.

Die Ständige Impfkommission hat ihre Empfehlung auf Kinder ab zwölf Jahren ausgedehnt. Wird es Schulen nur noch für „2G“-Schüler geben?

Das schließe ich aus. Es gibt die Schulpflicht – und das Recht auf Bildung. Nach den langen Schulschließungen, nach Wechsel- und Fernunterricht, bin ich ein klarer Verfechter von Präsenzunterricht an Schulen. Die Schulen müssen offenbleiben. Mit den Impfungen, mit dem Schutz durch Masken in Innenräumen, aber auch mit den regelmäßigen Tests an den Schulen können wir das Infektionsgeschehen kontrollieren. Aus meiner Sicht darf es keinen neuen Lockdown geben. Der wäre angesichts der Impfquote schwer begründbar. Wer sich schützen will, kann sich impfen lassen. Wer auf diesen Schutz verzichtet, kann nicht erwarten, dass die gesamte Gesellschaft noch einmal solch einschneidende Maßnahmen mitträgt.

Wird sich „2G“ im Privatsektor durchsetzen?

Private Unternehmen haben die Möglichkeit, ihr Angebot auf Geimpfte und Genesene zu beschränken. Es ist damit zu rechnen, dass das häufiger passieren wird. Der Staat folgt einem allgemeineren Grundsatz, deshalb bin ich dafür, hier neben Geimpften und Genesenen auch Getestete weiter zuzulassen. Die Tests werden allerdings ab Mitte Oktober für den Einzelnen nicht mehr kostenlos sein.

Kann sich Deutschland von der eingesetzten „Bazooka“ gegen die wirtschaftlichen Folgen der Krise wieder erholen?

Kurze Antwort: Natürlich. Ausführlicher: Bis Ende nächsten Jahres werden wir knapp 400 Milliarden Euro an zusätzlichen Krediten aufgenommen haben, um die gesundheitlichen, ökonomischen, sozialen Folgen der Corona-Krise zu bekämpfen. Wir haben damit Gesundheit und Leben geschützt, Unternehmen gestützt und Arbeitsplätze gesichert. Allein von der Kurzarbeit haben mehr als zwei Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitiert. Sie haben in der Krise ihren Job behalten. Erste Anzeichen für einen größeren Aufschwung sind erkennbar. Ich bin zuversichtlich, dass Deutschland sich rasch von der Krise erholen wird.

Ein Problem der nächsten Bundesregierung wird der Umgang mit explodierenden Kosten für die Sozialsysteme sein. Junge Leute machen sich Sorgen um die Finanzierung Ihrer Rentenpolitik …

Lassen Sie mich den Sorgen mit ein paar Fakten begegnen: Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen heute geringere Rentenbeiträge als in der Ära von Helmut Kohl. Die Prognosen all der Rentenexperten aus den 90er-Jahren, die massiv steigende Beiträge vorhergesagt hatten, haben sich als falsch erwiesen. Auch junge Leute sollen sich auf ein stabiles Rentenniveau verlassen können. Wir brauchen dafür ein hohes Beschäftigungsniveau und müssen u.a. die Berufstätigkeit von Frauen fördern. Und wir brauchen einen Mindestlohn von zwölf Euro. Dann sind auch die Renten höher. Ich bin für ein stabiles Rentenniveau und will das Renteneintrittsalter nicht antasten.

Die SPD zeigt sich entschlossen und geschlossen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Mir geht es um mehr Respekt für die arbeitende Mitte, für die Geringverdiener, für die, die das Land am Laufen halten.

Damit mehr Frauen arbeiten können, braucht es in der Praxis mehr Ganztagsbetreuung. Der Rechtsanspruch im Grundschulalter ist aber auch am Veto Ihres Parteifreundes Stephan Weil aus Niedersachsen gescheitert. Werden Sie ihm und anderen Ministerpräsidenten mehr Geld bieten?

Ich bin seit langem ein Verfechter der Ganztagsbetreuung und der Gebührenfreiheit von Bildung. Beides habe ich in meiner Zeit als Bürgermeister in Hamburg eingeführt. Im Übrigen, lange bevor es breite finanzielle Unterstützung durch den Bund gab.

Empfinden Sie angesichts der Umfragen gerade Genugtuung, weil es viele Zweifler gab, ob die SPD überhaupt einen Kanzlerkandidaten braucht?

Na, es ist doch gut, wenn wir die Zweifler überzeugen können. Ich bewerbe mich darum, der nächste Kanzler zu werden. Und es berührt mich zu sehen, wie viele Bürgerinnen und Bürger mir das zutrauen. Da hat sich was verändert – und zwar nicht nur in den Umfragen, das merke ich auch in persönlichen Begegnungen – auf der Straße und auf den Marktplätzen. Es geht aufwärts.

Sie könnten als „Sieger der Herzen“ hervorgehen und dennoch in der Opposition landen …

Die Bundestagswahl ist eine Kanzlerwahl. Wer sicherstellen möchte, dass ich Kanzler werde, wählt mit Zweitstimme am besten SPD. Ich setze auf ein Votum der Bürgerinnen und Bürger, das mir erlaubt, eine Regierung zu bilden.

Sie wollen die Mitte-Wähler ansprechen, die früher möglicherweise Angela Merkel gewählt haben. Müssen Sie Ihrer Partei da nicht viel stärker einen Kurs der Mitte verordnen? Manche Wähler haben Befürchtungen, dass sie Scholz wählen und mit einem Linksbündnis aufwachen.

Wer SPD wählt, bekommt Scholz als Kanzler. Die SPD zeigt sich entschlossen und geschlossen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Wir haben ein sehr zuversichtliches Programm beschlossen. Mir geht es um mehr Respekt für die arbeitende Mitte, für die Geringverdiener, für die, die das Land am Laufen halten. Wir haben einen klaren Plan, wie wir die wirtschaftlichen Grundlagen unseres Landes mit ökologischer Industriepolitik sichern können, auch im Wettstreit mit den Supermächten China und USA.

Warum sollte FDP-Chef Christian Lindner eine Ampel unter Ihrer Führung für sinnvoller halten als eine Jamaika-Koalition?

Ich kämpfe für ein möglichst starkes Ergebnis für die SPD, damit ich eine Regierung bilden und führen kann. Am 26. September entscheiden erstmal die Wählerinnen und Wähler.

Besser nicht regieren als schlecht regieren … Gilt das auch für Sie, egal, in welcher Position?

Ich möchte die Wahl gewinnen und sehr gut regieren.