ProtestkulturHundert Prozent Zivilgesellschaft: Am Parlament demonstrieren Bürger ihren Unmut

Protestkultur / Hundert Prozent Zivilgesellschaft: Am Parlament demonstrieren Bürger ihren Unmut
Die Zivilgesellschaft äußert vor der Chamber ihre Forderungen zu den bevorstehenden Parlamentswahlen Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Mehrere Nichtregierungsorganisationen äußerten am Krautmarkt ihre Forderungen an die Politik – genau dort, wo zwei Tage vorher Bürger gegen die Zustände im Bahnhofsviertel demonstrierten.

Der Ort könnte nicht geeigneter sein: Vertreter verschiedener Organisationen der Zivilgesellschaft, also Nichtregierungsorganisationen (NGO), haben sich gestern Vormittag vor der Abgeordnetenkammer eingefunden, um sogenannte Wahlprüfsteine zu benennen und sie symbolisch in eine Art Wahlurne zu werfen. Geeignet ist die Location vor allem deshalb, weil am 8. Oktober schließlich die Abgeordnetenkammer neu gewählt wird und das Parlament als Ort der Legislative eine staatliche Institution ist. Diejenigen, die sich am Krautmarkt versammelten und die höchst diverse luxemburgische Zivilgesellschaft repräsentieren, wissen durchaus, dass es mit der Abgabe eines ausgefüllten Stimmzettels bei einer Wahl in Sachen politischer Partizipation nicht getan ist.

„Im Grunde hat der Wähler zwei Stimmen“, erklärte Serge Kollwelter vom Ronnen Dësch (www.ronnendesch.lu), „seine eigene sowie die Stimme all jener, die kein Wahlrecht haben.“ Die sich im Wahlkampf befindenden Parteien hätten auf „Köpfe“, also auf Personen, und sich wiederholende knappe Slogans auf Wahlplakaten gesetzt. Die Bürgerinitiative hingegen hatte bereits vor Kurzem die „Wahlprüfsteng“ veröffentlicht, die zum einen als Orientierungshilfe für den Urnengang dienen sollen, zum anderen sind es konkrete Wahlforderungen. Mit dabei sind folgende Vereinigungen: die Ausländerhilfsorganisation ASTI sowie Caritas, Cercle de Coopération, CID femmes et genre, CLAE, Forum Culture(s), Friddens- a Solidaritéitsplattform, Initiative Devoir de vigilance, Koalitioun Wunnrecht, Médecins du Monde, Mouvement écologique, One Planet, Ronnen Dësch und Votum Klima. Der symbolische Akt der Wahl wurde nun vor dem Parlament vollzogen, um daran zu erinnern, worum es am 8. Oktober gehen sollte. Dabei sind die Wahlprüfsteine in einzelne thematische Gruppen eingeteilt.

Gerechte Gesellschaft

In der ersten Gruppe geht es um eine „société juste et équitable“, zu der die folgenden Punkte gehören:

– Die massive Schaffung von bezahlbarem Wohnraum müsse oberste politische Priorität haben (unmittelbar bedürfe es 6.000 Einheiten an bezahlbarem Wohnraum, bis 2030 müssten es 20 Prozent sein);

– umfassende Reformen zur Eindämmung der Spekulation und zur wirksamen Kontrolle der Mieten (eine wachsende Zahl von Haushalten ist vom Wohnungsmarkt ausgeschlossen);

– eine Änderung des Revis-Gesetzes, um den Betrag an den Referenzhaushalt anzupassen und alternative Wohnformen wie etwa Wohngemeinschaften nicht mehr zu behindern (um Prekariat und Ausgrenzung zu verhindern; Personen, die zusammenleben, aber nicht über dasselbe Budget verfügen, sollten als separater Haushalt betrachtet werden und somit den Anspruch auf Sozialhilfe erhalten);

– gezieltere Hilfe für einkommensschwache Haushalte (alle Zulagen sollten an die Lebenshaltungskosten angepasst werden, insbesondere gelte es, die Armut von Alleinerziehenden-Haushalten so schnell wie möglich zu bekämpfen und deren Steuererleichterung zu erhöhen);

– eine gerechte und sozialverträgliche Steuerreform (in Luxemburg sind die Steuereinnahmen aus der Kapitalbesteuerung besonders niedrig, dies gilt auch für die Einnahmen aus der Umweltbesteuerung, mit mehr als 50 Prozent trägt der Faktor Arbeit den Großteil der Steuerlast);

– Geschlechtersensibilität und intersektionale Perspektive (die „One-fits-all“-Politik verschärfe die Kluft zwischen Arm und Reich und führe zu gesellschaftlicher Spaltung und Parallelgesellschaften; um dies zu verhindern, bedürfe es einer sozial gerechten und intersektionalen Politik, die Geschlecht, aber auch Herkunft und Ethnie, Einkommensunterschiede, sexuelle Orientierung und Behinderung in allen Bereichen berücksichtigt);

– aktiver Kampf gegen Sexismus und andere Formen der Diskriminierung (der europaweite Rechtsruck habe zur Folge, dass sexistische und rassistische Diskurse wieder mehr akzeptiert werden, mit teils dramatischen Folgen; Schwangerschaftsabbrüche würden häufiger verboten; Angriffe auf LGBTIQ-Personen haben zugenommen, Hatespeech im Internet ebenso);

– Zugang zum Gesundheitssystem für alle;

– eine würdige Asylpolitik, die auf gleichen Rechten basiert (Angebote zur psychosozialen Unterstützung müssten gestärkt werden, der Zugang zu menschenwürdigem Wohnraum und zum Arbeitsmarkt müsste verbessert werden);

– Regularisierung von Personen, die sich in einer sogenannten illegalen Situation befinden;

– eine zweite Chance für jene, deren Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde;

– die Einrichtung einer Beobachtungsstelle für Integration und Inklusion;

– die Berücksichtigung von Grenzgängern und ihren Familien;

– die Ausweitung des Freiwilligenurlaubs auf andere Bereiche (derzeit gibt es ihn in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, Jugend, Sport und Notfalldienste, aber in den Bereichen Aufnahme und Integration von Ausländern und ökologischer Wandel ist nichts geplant, obwohl sich die Freiwilligenarbeit gerade in diesen Bereichen in den vergangenen Jahren stark entwickelt hat).

„Sauvegarde de nos sources de vie“

Unter die Sparte „Pour la sauvegarde de nos sources de vie“ fallen folgende Punkte:

– eine gerechte und ambitionierte Transition angesichts der Klimakrise;

– eine gezielte Strategie zur Unterstützung einkommensschwacher Menschen beim ökologischen Wandel;

– die Wiederherstellung der Artenvielfalt in unseren Landschaften als Grundlage für Leben und Wohlbefinden (dazu bedürfte es der Neuausrichtung der Agrarpolitik; der ökologische Landbau etwa müsste konsequenter gefördert werden und die Biodiversitätsschutzpläne konsequenter umgesetzt werden)

– eine Reform der Governance in Luxemburg in Hinblick auf die Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung;

– eine Strategie, um unser Sozial- und Wirtschaftsmodell nachhaltig zu gestalten.

Nachhaltige „Governance“

Zu dem Bereich „Pour une gouvernance orientée vers le futur“ gehören unter anderem:

– eine Bewertung und Beobachtung der immer stärkeren Einbeziehung des Privatsektors, insbesondere des Finanzsektors, in die internationale Kooperation (Menschenrechte, Artenvielfalt und Umweltschutz dürfen nicht auf Kosten des kollektiven Interesses in die Hände privater Interessen gelegt werden);

– ein „devoir de vigilance“ für große Unternehmen (mit 250 Mitarbeitern oder mehr bzw. für solche, die einen Umsatz von 40 Millionen Euro oder mehr erzielen, einschließlich Banken und Investmentfonds) in Bezug auf Menschenrechte, Klima, Umwelt und Biodiversität;

– eine europäische Sicherheitsarchitektur, in der eine zivile Sicherheitspolitik eine entscheidende Rolle spielen muss (im vergangenen Jahr wurden weltweit 240 Milliarden US-Dollar für Waffen und Militär ausgegeben);

– Stopp der sinnlosen Aufrüstung, der Modernisierung von Atomwaffen; denn es gibt keine Sicherheit mit mehr Waffen; außerdem könne es Sicherheit nur gemeinsam und niemals gegeneinander geben.

„Wir gehören keiner Partei“

Nun stellt sich die Frage, wer oder was die Zivilgesellschaft repräsentiert. In der traditionellen Sicht der Nichtregierungsorganisationen, die den „Wahlprüfsteng“ initiierten, gehören deren klassische Vertreter. Es ist sicherlich der progressive Teil der Gesellschaft, der sich hierbei versammelte.

Doch kann man dies auch von jenen etwa 500 Menschen sagen, die am vergangenen Samstag im hauptstädtischen Bahnhofsviertel auf die Straße gingen, um ihrem Ärger und ihrer Wut über die dortigen Zustände Ausdruck zu verschaffen. Die Demonstration mit Bannern wie „Save Gare for a safe Luxembourg“ endete auch vor dem Parlament. Auch diese Bürger gehören zur luxemburgischen Zivilgesellschaft, ebenso die Teilnehmer der Gegendemo und jener Demo, die am selben Tag in Bonneweg zum Thema „Logement“ protestierten.

Zwar waren in der Demo der Garer „Wutbürger“ einige ADR- und CSV-Politiker zu finden. Die Organisatoren riefen jeodch: „Wir gehören keiner Partei.“ Auch sei für Rechtsextreme kein Platz unter den Demonstranten, sagte Laurence Gillen, Initiatorin des Protests im Bahnhofsviertel. Schließlich seien 85 Prozent des Garer Viertels Ausländer.  Und nicht zuletzt ist der Protest der Bürger im Viertel eben auch zu hundert Prozent zivilgesellschaftlich.

Für eine gerechte Gesellschaft
Für eine gerechte Gesellschaft Foto: Editpress/Hervé Montaigu
Grober J-P.
26. September 2023 - 9.14

Référence pour le vote, Wahlprüfsteng? Géif ech nach besser verstoen wann déi Manifestanten hir NGOën géifen präisgin. Wien repräsentéiert wien? Muss een den H. lénks um Bild kennen, oder d'Madam mat der Gouvernance steht fir ??