Jedes Jahr an Pfingsten verwandelt sich Leipzig in ein Meer schwarz gekleideter Menschen. Gemeint sind Gothics, die es einmal im Jahr zu Tausenden in die sächsische Metropole zieht, um das Wave-Gothik-Treffen (WGT) zu feiern.
Das WGT ist ein riesiges Festival mit Konzerten, Lesungen, Partys und Märkten quer über die ganze Stadt verteilt. Die Bahn setzt Sonderlinien ein, die Hotels sind ausgebucht, vor Veranstaltungsorten wie dem historischen Stadtbad im Jugendstil oder dem Felsenkeller in dem bereits Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin redeten, sammeln sich die Gothics in ihren zumeist schwarzen Gewandungen.
Eines der ersten Events des WGT in jedem Jahr ist das viktorianische Picknick im Clara-Zetkin-Park. Hier geht es ein wenig bunter zu, die Garderobe sollte möglichst der von Ladys und Gentlemen aus dem viktorianischen Zeitalter entsprechen. Und die Einwohner? Die nehmen es mittlerweile nach mehr als 25 Jahren gelassen. Die Gothics bringen Geld nach Leipzig, sind friedlich und zivilisiert.
Ästhetische Gegenbewegung
WGT 2017. Gegenüber vom Felsenkeller. Eine Gruppe aus Österreichern, Deutschen und Luxemburgern hat sich in einem Imbiss kennengelernt. „Ich glaube, ein Grund, warum die Gothics sich damals von den Punks abgesetzt haben, war, dass die Punks ihnen zu versifft waren“, sagt eine Dame im schwarzen Kleid, die definitiv älter ist, als sie wirkt, im Wiener Schmäh. Etwas später fügt sie hinzu: „Ich weiß, die Szene gibt sich als unpolitisch, im Herzen sind aber die meisten links.“
Wenn der Punk eine politische Gegenbewegung ist, dann ist Gothic vor allem eine ästhetische Gegenbewegung. Das trifft sowohl auf Kleidung und Accessoires zu wie auf die Musik. Damit ist die Gothic-Szene fast beschrieben. Bleibt noch zu sagen, dass sie mehr ein Sammelsurium von Stilrichtungen ist als eine eigentliche Stilrichtung.
Sehen und gesehen werden
Kleidung und Aussehen, das ist nicht zu bestreiten, spielen eine wichtige Rolle. Seien es die einfachen schwarzen Kleider der Post-Punks mit ihren aufgestellten Haaren. Seien es die Reifröcke, bestickten Westen und Korsetts der Schwarzromantiker. Seien es die neonfarbenen Haarteile und Kleidung der Cyber-Goths oder der Uniformen-Chic, den manche EBM-ler und Industrials pflegen.
Auf Festivals und Konzerten wird flaniert und sich präsentiert. Modell stehen für Fotografen ist heute Teil des Spektakels. Was in der Presse oft als Verkleidung bezeichnet wird, ist für die Goths der Ausdruck ihrer wahren Natur. Es sind Codes, die Szene-Insidern verraten, welche Musik derjenige hört, wie er am liebsten tanzt und welche Bands er oder sie mag.
Musik verbindet
Menschen, die nicht zur Szene gehören, werden von Gothics als „bunte Menschen“, „buntes Volk“ oder „normale Menschen“ bezeichnet. Sie selbst nennen sich im deutschsprachigen Raum „Gruftis“, „Gothics“ oder auch gerne mal „schwarze Menschen“. Die zweite Facette der Gothic-Kultur bildet natürlich die Musik. Musikfestivals sind Anlässe, sich zu treffen. Tanzen verbindet.
Was Gothics hören, ist schwer auf einen Nenner zu bringen. Die Palette reicht heute von Post-Punk und Synthpop über Industrial und Mittelalterrock bis hin zu EBM, Aggrotech und Dark Wave. Unter den Bands, die Gothics hören, sind Namen wie Joy Division, Sisters of Mercy, Siouxsie and the Banshees, Subway to Sally, Front242, DAF, Combichrist, VNV Nation, Covenant, Blutengel oder Suicide Commando.
Seine Wurzeln hat Gothic natürlich in der Punk-Bewegung. Post-Punk-Bands grenzten sich in den 70ern durch eine ruhigere Gangart und gefühlsbetonteren Texten vom Punk-Rock ab. Nach und nach bildete sich die Gothic-Subkultur.
Provozieren, aber friedlich
Selbst für die elektronischen Teile des Gothic lassen sich Wurzeln im Punk finden. In den späten 70ern fühlte sich Gabi Delgado von den Punks inspiriert, beklagte aber, dass diese Punkbands immer noch die „spießigen“ Instrumente benutzten und gründete zusammen mit Robert Görl die Deutsch Amerikanische Freundschaft. DAF brachen nicht nur Konventionen, indem sie neue elektronische Mittel zur Komposition ihrer Musik benutzten. Sie räumten auch mit dem Strophe-Refrain-Schema auf und beeinflussten eine Unzahl späterer Bands bis hin zu EBM und Industrial. Heute tritt DAF auf Gothic-Festivals auf.
Gothics provozieren mit ihrem Aussehen und ihrer Musik. Sie stellen sich dem, was wir für „normal“ oder „angebracht“ halten, entgegen. Allerdings ist Provokation für die allermeisten Gothics keine Triebfeder. Die Festivals und Konzerte sind friedlich. Man will unter sich sein und sich eine Auszeit von der bunten, komplizierten Welt gönnen. Von Jobs, Nachrichten und Politik …
Einige Bands thematisieren Politik und Ideologien künstlerisch. Laibach etwa ist bekannt dafür, Symbole aus allen möglichen totalitäreren Systemen aufzugreifen. DAF singen im gleichen Lied über Jesus Christus, Hitler, Mussolini und den Kommunismus. Einige Bands haben sich in der Vergangenheit gegen rechts positioniert. Wie gesagt: im Herzen links.
Sich tanzend auspowern
Leider aber ist die Szene manchmal phlegmatisch bis naiv, wenn es darum geht, sich gegen Idioten auszusprechen. Wenn Bands etwa fragwürdige Sprüche auf ihre Shirts drucken, Händler auf den Festivals Schmuck in Form einer schwarzen Sonne verkaufen oder einzelne glauben, mit der sexy Version einer Sowjet-Uniform aufschlagen zu müssen, führt das meist zu nichts mehr als einem Kopfschütteln.
Zugegeben: Neu ist das nicht. In den Zeiten des Punk und Post-Punk wollten Bands sowie Fans mit Hakenkreuzen gegen das Establishment protestieren, bis einige vernünftigere Menschen ihre Freunde zur Besinnung aufriefen.
Gothic, das ist eine große Familie, bei der jeder mitmachen darf. Mit Verwandtschaft, die man sich ausgesucht hat. Mit Familienfesten, bei denen es nicht zu Streit kommt. Mit Musik, die man mag und Musik, bei der man sich tanzend auspowern kann.
De Maart

"Im Herzen links' nobody is petfect!