Günther Oettinger fordert: „2019 muss das Jahr Europas werden“

Günther Oettinger fordert: „2019 muss das Jahr Europas werden“

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Günther Oettinger hatte als EU-Kommissar immer wieder brisante Themen. Seine Urheberrechtsreform hat ihn gerade wieder eingeholt. Aber er geht auch gern in die Offensive: Mit einem klaren Appell an Berlin.

Die Furcht vor einem Ende des freien Internets hält er für überzogen, die deutschen Debatten für bisweilen kleinteilig: EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger im Interview der Deutschen Presse-Agentur zu dem in Berlin oft unterschätzten Europa, zu den Vorteilen der Urheberrechtsreform und den Gefahren des Brexits.

Frage: Alle schauen auf den Brexit nach London. Was sagt dieser Prozess über den Parlamentarismus aus und über das Funktionieren politischer Prozesse?
Antwort: Dass Frau May jetzt auf Herrn Corbyn zugeht, kann ich nur mit «besser spät als gar nicht» kommentieren. Ich habe vor der britischen Demokratie allergrößte Achtung, allein wegen der Geschichte und der Bedeutung für die Demokratien auf der ganzen Welt. Aber dass die beiden führenden Parteien so lange in keiner Form eine gemeinsame Lösung gesucht haben, ist nur schwer verständlich. Jetzt besteht meiner Meinung nach fünf vor zwölf noch eine Chance, dass bis zum Europäischen Rat nächsten Mittwoch vielleicht doch noch eine klügere Lösung als ein Exit ohne jedes Abkommen kommen könnte.

Frage: Sollte die EU den Briten eine lange Verschiebung des Brexits anbieten?Antwort: Das liegt alles bei den Briten selbst. Sie müssen ja eine Verlängerung beantragen. Wir können sie durch Einstimmigkeit bewilligen oder nicht bewilligen. Und wie seit Beginn dieses Austrittsprozesses haben wir uns mit Ermahnungen oder mit Ratschlägen zurückgehalten. Es ist eine kurze Verlängerung denkbar – Stichwort 22. Mai – oder eine längere Übergangszeit – Stichwort Ende 2020, dem Ende des aktuellen Haushaltsrahmens.

Frage: Die EU-Kommission sagt, ein No-Deal-Brexit am 12. April sei sehr wahrscheinlich. Wie hoch schätzen Sie den Prozentsatz ein?
Antwort: Ich halte eine bessere Lösung als einen Exit ohne Deal für vergleichbar wahrscheinlich wie die schlechteste Lösung, einen Exit ohne Deal.

Frage: Also fifty-fifty?
Antwort: Ja.

Frage: Sollte es zu diesem No-Deal kommen, fehlen Milliarden im EU-Haushalt. Gehen Sie dann mit dem Klingelbeutel herum?
Antwort: Im nächsten Sieben-Jahre-Haushaltsrahmen 2021 bis 2027 wird die Brexit-Lücke von bis zu 14 Milliarden Euro nach meiner Planung zu 50 Prozent durch Kürzungen in der Struktur des bestehenden Haushalts gedeckt, zu 50 Prozent durch etwas höhere Einzahlungen. Für den Haushalt 2020 könnte diese Formel 50/50 ebenfalls wegweisend sein: sechs Milliarden struktureller Kürzungen und sechs Milliarden, die wir durch etwas erhöhte Einzahlungen der verbleibenden 27 erbitten. In diesem Jahr gehen wir von netto vier bis fünf Milliarden Euro aus, die uns fehlen. Auch da würde ich dann vorschlagen: Wir kürzen die Hälfte und erbitten höhere Einzahlungen zur anderen Hälfte.

Frage: Das heißt, Deutschland müsste nachschießen?
Antwort: Alle müssen nachschießen. Alle bezahlen ein.

Frage: Haben Sie eine Zahl für Deutschland?
Antwort: Es geht um weniger als eine halbe Milliarde, also um weit weniger als in den deutschen Debatten über Kindergeld, Mütterrente, Mindestrente, Respektrente und anderes. Das ist vertretbar.

Frage: Sie sprachen die deutschen Debatten gerade an. Wie wirken die auf Sie? Wie ist die deutsche Innenpolitik aufgestellt?
Antwort: Klimaschutz ist von höchster Bedeutung. Jedes einzelne Thema hat Bedeutung. Aber die Addition dieser Themen verkennt die gesamte Dimension, die Wirklichkeit jenseits der rein deutschen Tagesordnung. Die Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition hat den Namen: «Neuer Aufbruch für Europa». Davon merke ich derzeit in Berlin wenig bis gar nichts.

Frage: Woran liegt das?
Antwort: Man hat die Tagesordnung Europas noch nicht zur deutschen Tagesordnung gemacht, in nahezu keiner Partei. Wir sollten aufpassen, dass wir nicht aus Angst vor der AfD vor Europa und europäischen Themen zurückschrecken. Die Bürger sind bereit, über ein starkes Europa zu sprechen. Man darf es nicht zum Tabu erklären. Und 2019 muss das Jahr Europas werden, nicht nur wegen der Wahl. Es stehen weitreichende Entscheidungen an über den Haushaltsrahmen für das nächste Jahrzehnt, über Außengrenzschutz, über wichtige Handelsabkommen oder mögliche Handelskonflikte, über Sicherheitsstandards bei 5G.

Frage: Stichwort Digitalisierung: Auf Sie geht ja das neue EU-Urheberrecht zurück, das zuletzt heftige Proteste auslöste. Es gibt in Deutschland eine Diskussion nach dem Motto: Was auf europäischer Ebene beschlossen wurde, muss nicht für den deutschen Wähler und den deutschen Nutzer gelten. Ist das auch Ihre Position?
Antwort: Der deutsche Gesetzgeber hat die Aufgabe, das Recht, die europäische Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Darum geht es. Nicht mehr und nicht weniger. Ich bin von den beiden strittigen Artikeln unverändert und voll überzeugt. Diese Richtlinie beinhaltet ja weit mehr als das Verlegerrecht und die Pflichten für Plattformen. Da geht zum Data-Mining. Da geht es um eine Modernisierung. Aber es geht auch darum, zu einem Zeitpunkt fünf vor zwölf, dem Qualitätsjournalismus und allen kreativ Schaffenden eine Geschäftsgrundlage zurückzugeben, die ihnen in den letzten Jahren Stück für Stück entzogen worden ist.

Frage: Sie teilen nicht die Sorge, der Uploadfilter sei das Ende des freien und demokratischen Internets?
Antwort: Die Frage ist ja: Was heißt freies Internet? Das Internet ist Teil unserer Gesellschaft und steht nicht außerhalb. Ein Internet, das staatliche Gesetzgebung nicht beachten muss, das im Grunde ein eigener Kosmos wird, halte ich für falsch. Es gibt schon bisher verschiedene Verpflichtungen für die YouTubes der Welt, für Plattformen aller Art. Zum Beispiel gegen Hassreden oder Diskriminierung, Beleidigung, Verunglimpfung. Und die Plattformen sind durchaus in der Lage, diese Inhalte zu prüfen und zu löschen. Es geht schlichtweg darum, dass derjenige, der seine Arbeitszeit einsetzt und kreativ arbeitet als Komponist, als Musiker, als Schriftsteller, als Journalist, oder der dieses finanziert als Verleger, nicht mehr der Verlierer dieser technologischen Veränderung ist. Wenn wir den Qualitätsjournalismus nicht völlig verlieren wollen, dann müssen wir jetzt das Verlegerrecht definieren, dass Verleger auch anteilig für die Vergütung ihrer Journalisten eine Verhandlungsposition bekommen mit den Plattformen.

Frage: Facebook-Gründer Mark Zuckerberg wirbt mit einer Charmeoffensive in Europa und stellt auch Geld für Medien zur Verfügung. Meint der das Ernst?
Antwort: Ich glaube, dass Mark Zuckerberg begonnen hat, Europa zu erkennen und ernst zu nehmen. Wir haben nun mal einen Binnenmarkt und nicht 28 Märkte. Wir sind auf dem Weg zu einem digitalen Binnenmarkt, zu europäischen Regeln vom Datenschutz über Cybersicherheit bis zu Copyright, für Standards für alle Dienstleistungen. Deswegen ist Mark Zuckerberg gut beraten, mit Brüssel zu verhandeln und nicht mit Rom, Warschau, Berlin oder Paris.

Frage: Eine letzte Frage haben wir: Wir haben überlegt, ob wir hier Ostereier hinlegen sollen, denn Sie haben angekündigt, Sie wollten an Ostern sagen, was Sie nach ihrem Ausscheiden aus der Kommission machen.
Antwort: Das sind ja noch drei Wochen Zeit. Ich führe meine Gespräche fort, aber ich habe keine Eile. Ich fürchte, dass wir nicht Ende Oktober unser Mandat abgeben, sondern die Bestellung der neuen Kommission länger dauern wird – vermutlich bis zum Jahresende.

Zur Person: Der CDU-Politiker Günther Oettinger (65) war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident Baden-Württembergs und ist seither der deutsche EU-Kommissar in Brüssel, zuständig zunächst für Energie, später für Digitales und seit 2017 für die Haushaltsplanung der Gemeinschaft. Ende des Jahres scheidet er aus und will noch einmal beruflich durchstarten.

Disclaimer: Die dpa unterstützt einen am 22. März veröffentlichten, europaweiten Aufruf für die Reform des Urheberrechts gemeinsam mit rund 260 Verlagen, Zeitungen, Nachrichtenagenturen, Rundfunk- und TV-Anbieter sowie Produktionsfirmen und Medienschaffenden.
Zusammen mit 17 anderen europäischen Nachrichtenagenturen unterzeichnete die dpa bereits am 4. September 2018 den offenen Brief «Die Zukunft der freien Presse liegt in den Händen der EU-Gesetzgeber». Darin heißt es unter anderem, der Gesetzesentwurf, der im September im Europaparlament zur Abstimmung stand, sei «für den Erhalt der freien Presse von höchster Bedeutung».
In einem offenen Brief vom 31. Januar an Bundeskanzlerin Angela Merkel und den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron haben verschiedene Medien, darunter die European Alliance of News Agencies (EANA), zu der die Deutsche Presse-Agentur gehört, die Politiker aufgefordert, das drohende Scheitern der EU-Urheberrechtsreform zu verhindern.