Nach 20 Jahren: Grundschullehrerin hängt Job an den Nagel und wagt Schritt in Selbstständigkeit

Nach 20 Jahren: Grundschullehrerin hängt Job an den Nagel und wagt Schritt in Selbstständigkeit

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Rund 20 Jahre lang hat Jessie Hubert, 46, an einer Grundschule unterrichtet. Nun hat sich die zweifache alleinerziehende Mutter beruflich umorientiert. Sie hat sich selbstständig gemacht und unterrichtet Luxemburgisch. Ein Porträt einer starken Frau, die auch eine schwere Krankheit tapfer meisterte.

„Es gibt viele, die sich nicht mehr wohlfühlen in dem ganzen Schulsystem. Aber es gehört einiges an Mut dazu, diesen Schritt zu machen, den ich gemacht habe. Als ich einst angefangen habe, zu unterrichten, lief es richtig gut. Lehrerin sein und Kindern etwas beibringen, das machte mir richtig Spaß.“ Die Kinder standen im Mittelpunkt. Aber nach und nach haben die administrativen Aufgaben überhandgenommen. Berichte, Meetings noch und nöcher. Das Wesentliche, sprich die Zeit zum Vorbereiten und Unterrichten, so Jessie Hubert, wurde im Laufe der Jahre immer knapper.

Hinzu kam die Tatsache, dass sich auch die Kids veränderten. Und die Gesellschaft allgemein. Unzufriedenheit, Aggressionen. Eltern, denen immer weniger Zeit für ihre Kinder bleibt und die dadurch erzieherisch immer mehr von der Schule fordern. „Ich möchte an dieser Stelle keine Schuldzuweisung machen, sondern einfach nur aufzeigen, was ich erlebt habe.“

Kürzlich hat sie sich eine Videoaufnahme angeschaut. Auf den Bildern sind Szenen aus dem Schwimmunterricht. Das Ganze spielt Ende der 90er-Jahre. Sie, die Lehrerin, steht am Rande des Beckens und sagt ruhig und leise zu den Kindern, dass sie aus dem Wasser steigen sollen. Was dann auch prompt passiert. „Heute“, so Jessie Hubert, „hätte ich diese Aufforderungen zigmal lautstark wiederholen müssen, bis auch der Letzte aus dem Wasser gewesen wäre.“ So etwas raube Kraft und vor allem Zeit. Kraft und Zeit, die dann irgendwo anders fehlen.

Das System hat sie verändert

Die Ursachen? Die Kinder benötigen die ganze Zeit Beschäftigung, weil sie es von kleinauf so gewohnt sind, sagt Jessie Hubert. Viele können sich kaum mehr „langweilen“ und somit eigenständig kreativ sein. Dann ist da die Fremderziehung in den Kindertagesstätten, die jedoch nötig ist: „Viele Eltern, die beide berufstätig sind, haben keine Energie mehr, um sich um das Wesentliche zu kümmern, und das ist die Erziehung ihrer Kinder“, so Jessie Hubert.

Zudem sei es auch so, dass immer mehr Schüler Hilfe brauchen. Unterstützung von Spezialisten. Und das sei immer früher notwendig. Oft bereits im ersten Zyklus. Der behördliche Weg ist jedoch meist lang und schwerfällig. Es kommt vor, dass viele Berichte geschrieben werden müssen, ehe etwas passiert. Irgendwann wechseln dann die Zuständigkeiten. Neues Personal. Neue Verantwortliche. Und dann fängt der ganze administrative Aufwand wieder von vorne an. „Auch das geht an die Substanz und die Motivation.“ Vom Inspektorats-Büro hat es an einem bestimmten Zeitpunkt höchstens mal ein Okay gegeben. Einmal gab es bei einer Kollegin gar eine Rückmeldung, in der die Formfehler kritisiert wurden, anstatt sich auf den Inhalt zu konzentrieren.

„Ich will nicht pauschalisieren, aber vieles, was an Reformen in den vergangenen Jahren im Schulwesen in die Wege geleitet wurde, kam zu schnell und war nicht unbedingt realitätsgebunden.“ Vieles sei zudem kontraproduktiv gewesen und habe das Unterrichten zusehends erschwert. Der Lehrstoff wurde komplexer, die Methoden wurden vielfältiger und die adäquate Umsetzung war immer schwerer zu bewältigen. Es entstand Druck.

Druck, alles im zeitlichen Rahmen hinzukriegen. Dazu kommt noch, dass Schulklassen, was ihr Leistungsvermögen betrifft, nicht homogen sind. Die einen verstehen etwas rasch und können autonom arbeiten, andere brauchen länger und benötigen Hilfe. Dann sind da noch die wirklich schwierigen Fälle. Was Jessie Hubert noch fehlte, war das Spielerische. Speziell im Zyklus 1: mal spontan einen Ausflug machen oder einen Nachmittag im Wald verbringen. All das war nun mit viel administrativem Aufwand verbunden, der wiederum Zeit kostete.

Nach und nach stellte sie immer mehr Aspekte ihres Berufes infrage. Sie kam morgens nicht mehr aus dem Bett. Antriebslosigkeit. Müdigkeit. Motivationseinbrüche. Wie bei so vielen ihrer Berufskollegen. Sie fing an, nachzudenken. Darüber, was genau das Problem für sie sei. Die Kinder? Nein. Die Schule? Nein. Das System? Ja. „Durch das System habe ich mich verändert. Ich wurde krank. Unabhängig davon, wie gut ich meinen Job machte und wie engagiert ich war, scheiterte vieles daran, dass das ganze Schulsystem nicht wirklich nahe an dem war, was ich für nötig hielt.“

Was tun? „Ich habe mich umgehört und begonnen, mich zu informieren.“ Ein beruflicher Wechsel. Den sicheren Lehrerjob aufgeben. Sie machte eine Ausbildung, um Luxemburgisch zu unterrichten. Während dieser Zeit bekam sie ihre Krebsdiagnose und musste mehrfach operiert werden. „Während dieser Monate ging ich durch die Hölle“, sagt Jessie Hubert. Eines aber wusste sie ganz genau: Sie würde wieder gesund werden, sich beruflich verändern und ihr Leben neu gestalten.

„Es gibt Dinge im Leben“, sagt sie heute, „die sind wichtiger als die sichere Lehrerstelle.“ Die Gesundheit und die persönliche Zufriedenheit. Vor drei Jahren hat Jessie Hubert einen „congé sans traitement“ beantragt und sich selbstständig gemacht.

Ihr ganzer Unmut und ihr ganzer Frust sind verschwunden. Rund 30 Stunden unterrichtet sie pro Woche. Mal an Sprachschulen, mal in Unternehmen, wo die Belegschaft Luxemburgisch lernen soll, mal gibt sie öffentliche Intensivkurse oder Abendkurse für große Gruppen. „Ich bin ein neuer Mensch geworden und habe wieder Spaß am Unterrichten.“ Sie sprüht vor Lebenslust. Da sei kürzlich eine junge Russin gewesen, die unbedingt Luxemburgisch lernen wollte. Oder ein älterer Herr aus Portugal, der jetzt, nachdem er seit über 30 Jahren hierzulande lebt, entdeckt hat, wie „schön und vielfältig“ die luxemburgische Sprache sei.

Vor Kurzem hat sich eine ganze Gruppe enttäuscht darüber gezeigt, dass der Kursus nun abgeschlossen war. „Das war eines der größten Komplimente, das mir je in meinem Beruf gemacht wurde. Das hat mich so etwas von motiviert und glücklich gemacht.“

Zu den 30 Stunden Unterricht wöchentlich kommen rund fünfzehn Stunden Vorbereitung und Organisation hinzu. Dann sind da noch die Fahrten mit dem Auto zu den einzelnen Auftragsgebern. 500 bis 600 Kilometer fährt Jessie Hubert pro Woche. Abends ist sie dann schon mal geschafft.

Auftragsmäßig läuft es gut bei Jessie Hubert. Sie hat reichlich Kunden, vor allem aber hat sie wieder Spaß an der Arbeit. „Arbeitsaufwand und Gehalt stehen natürlich in einem anderen Verhältnis zueinander als in meinem früheren Halbtagsjob als Lehrerin.“ Auch der Urlaub ist auf drei oder vier Wochen geschrumpft.

In ihrer knappen Freizeit leitet sie außerdem mit anderen Freiwilligen ein großes „Centre de formation“, das die vom Ministerium bezuschussten Sprachkurse anbietet. „Weil es für die Leute, die eine Fremdsprache erlernen wollen, wichtig ist, und weil es mir persönlich wichtig ist“, so Jessie Hubert. Als selbstständige „Formatrice fir d’Lëtzebuergescht“ zu arbeiten, stellt sie vor neue Herausforderungen, da viele Aspekte dieses Berufes in ihren Augen klarer definiert werden müssen. All das schmälert jedoch nicht ihre Leidenschaft und ihre Freude am Beruf. Sie hat viele Ideen im Kopf, die sie umsetzen möchte, um ihren Arbeitsalltag, den ihrer Berufskollegen und das Lernen der Schüler zu vereinfachen.

Sie hat ein Bild im Kopf

Wenn ehemalige Lehrerkollegen in ihrer Gegenwart oft zu Recht, jedoch „auf hohem Niveau“ klagen, kann sie dies zwar verstehen, da sie früher genauso gedacht hat. Jetzt sieht sie dies jedoch meisten anders. Und sehr bedenklich findet sie es, wenn, wie es jetzt der Fall ist, in der Grundschule Personen, die über keine Ausbildung verfügen, auf nicht besetzte Posten eingesetzt werden. Die Schule als großes Experimentierfeld. Und Schüler und Lehrer als mögliche Opfer.

Sie hat ein Bild im Kopf. Die gesamte „Ecole fondamentale“ sitzt in einem riesigen Boot. Alle schreien aufgeregt durcheinander, aber keiner versteht den anderen. Und keiner bemerkt, dass das Boot dabei ist, auf einen rauschenden Wasserfall zuzusteuern. Ein paar Passagiere wollen sich Gehör verschaffen, um auf den Wasserfall aufmerksam zu machen, aber wegen des ganzen Geschreis hört sie keiner. Kurz entschlossen ergreifen diese paar Passagiere die Rettungsringe, springen ins kalte Wasser und schwimmen in eine andere Richtung.

Grober J-P.
6. Oktober 2018 - 19.37

Man kennt das, schlimmer wird es noch wenn man junge Paragraphenreiter vorgesetzt bekommt, die von "Tuten und Blasen" keine Ahnung haben, nennt man auch modernes Bildungssystem.