Große Namen gegen das Kinosterben? Das Festival von Cannes in einem fragmentierten Überblick

Große Namen gegen das Kinosterben? Das Festival von Cannes in einem fragmentierten Überblick

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Auf welche Filme können sich Kinogänger, die nicht (bei den Filmfestspielen) in Cannes sind, demnächst freuen? Welche Tendenzen für die Zukunft des Kinos liest man im Chaos des Festivals ab? Wieso endet auch dieses Jahr die Hegemonie der männlichen Regisseure nicht? Das Tageblatt liefert Antwortelemente in einer fragmentierten Festivalvorstellung.

Ein Festival hat per se keinen roten Faden. Es handelt sich um einen Treffpunkt, ein kollektives Zusammenkommen, im Laufe dessen ein jeder Einzelner sich seine persönlichen Rosinen herauspickt.

Journalisten sind da, um Filme zu sehen, aufkommende Filmemacher hoffen, Kontakte zu knüpfen, Produzenten übernehmen den wirtschaftlichen Aspekt des Geldscheffelns und Geldausgebens – und mancher will einfach nur gesehen werden. Ein Festival wie Cannes gibt den Anschein eines gemeinschaftlichen Treffens, tatsächlich verhält es sich jedoch wie beim Leviathan von Hobbes – unter dem Deckmantel einer gemeinsamen Leidenschaft knüpfen sich Verbindungen, wenn sich die gemeinsamen Interessen dann auflösen, geht jeder wieder seiner Wege.

Wir stellen ein ganz persönliches, zwangsweise bruchstückhaftes Narrativ der diesjährigen Auflage vor. Ein Narrativ, das den Schwerpunkt auf die noch immer unterrepräsentierten Filme von Regisseurinnen, die Frage nach dem Kampf gegen die Streamingdienste und eine starke Filmauswahl legt. Ein Narrativ, das wir zeitgleich in den nächsten Tagen in Form eines täglichen Logbooks mit persönlichen Eindrücken fortführen werden.

Netflix: ewige Gefahr oder reaktionäre Angst?

Die Filmfestspiele von Cannes sind mittlerweile zum Symbol eines Widerstands gegen den Streamingdienst Netflix geworden, der im vergangenen Jahr mit Großaufträgen an Regisseure wie die Coen-Brüder („The Ballad of Buster Scruggs“) oder Alfonso Cuarón („Roma“) seine kinofeindliche Offensive auf den Höhepunkt trieb.
Dass in der Sonntagnacht das Finale von Game of Thrones (von HBO) ausgestrahlt werden sollte, wirkt wie ein weiteres Zeichen der Spaltung von Film und Serienwelt, dürfte den Festivalgänger aber nicht stören. Denn Fantasy gibt’s auch in Cannes (vor allem Zombiefilme) – und Game of Thrones kann man auch nach dem Festival streamen.

Viel grundsätzlicher ist jedoch die Frage: Wie wirksam ist die Revolte in Cannes – und für was steht sie eigentlich? Schaut man sich die Bemühungen der Kinobetreiber an, kann man sich in der Tat fragen, wieso man überhaupt noch gegen diese Dienstleistung wie Don Quichote gegen die Windmühlen ankämpfen sollte. Denn in den großen Kinos laufen meist nur noch Superheldenfilme – und die unabhängigen Kinobetreiber können aus wirtschaftlichen Gründen nicht immer so innovativ programmieren, wie es ihnen lieb wäre.

Nutzt Netzflix unfairere Mittel als die Konkurrenz?

In einem Gespräch mit der Filmzeitschrift La septième obsession gibt Le Monde-Kritiker Jean-Michel Frodon einerseits zu bedenken, dass mit Apple, Disney und Warner bereits die nächsten Anbieter in den Startlöchern stehen – und dass Netflix daher eine größere Gefahr darstellt, da die Plattform auf unfairere Mitteln als die Konkurrenz von Hulu oder Amazon zurückgreift: Netflix weigert sich, den Kinos einen angebrachten Platz einzuräumen und verpflichtet mit finanziellem Geldaufwand bekannte Regisseure für ihre Dienste.

In Cannes läuft in diesem Jahr Nicolas Winding Refns („Drive“) erste Serie „Too Old to Die Young“ an. Einige der Regisseure, deren Filme auf den Leinwänden der Croisette ausgestrahlt werden, und einige Schauspieler, die auf dem roten Teppich bewundert werden, haben bereits (oder werden in absehbarer Zukunft) mit Streamingdiensten zusammengearbeitet. Es stellt sich also die Frage, wie glaubwürdig die (vermeintliche) Rebellion für Cannes und sein Engagement für die Kinos auf Dauer noch sein kann.

Unzureichende Frauenquote

„Wenn einer der großen männlichen Meister stirbt, werden dieser Person oftmals ganze Ausgaben von Film- oder Kulturzeitungen gewidmet. Wenn eine Regisseurin stirbt, wird dem Nachruf oft keine halbe Seite eingeräumt.“ Tilda Swintons zutreffendes Statement während der Pressekonferenz von „The Dead Don’t Die“ wurde zwar mit (schüchternem) Applaus unterstrichen, dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich seit der letzten Auflage des Festivals nicht genug an der weiblichen Partizipation von Regisseurinnen geändert hat.

Zwar findet das Festival dieses Jahr, quasi um Tilda Swintons Aussage zu widerlegen, in Gedenken an Agnès Varda, die vor knapp zwei Monaten verstarb, statt. Ebendiese Agnès Varda war aber, zusammen mit Cate Blanchett, voriges Jahr Teil der revoltierten Frauen, die sich auf dem roten Teppich für die Gleichheit der Gehälter einsetzten – und die verdeutlichten, dass sich seit der Gründung des Festivals nur 82 Frauen in der Auswahl für die Goldene Palme befanden (im Vergleich dazu waren es ganze 1.688 männliche Regisseure).

In diesem Jahr sind es zwar gleich 20 Frauen, deren Filme in den verschiedenen Auswahlen in Cannes gezeigt werden. Diese Zahl versteckt aber eine Ungleichheit im Wettbewerb, an dem vier Regisseurinnen und 17 Regisseure teilnehmen.

Treffender als Tilda Swinton könnte man es kaum ausdrücken: „Es ist nicht so, als müsste man Filme von Regisseurinnen suchen oder gar noch produzieren lassen. Es gibt sie bereits. Die Frage, die sich stellt, ist: Wieso wird diesen Filmen nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die sie verdienen?“

„Keine positive Diskriminierung“

Thierry Frémeaux begründet die Auswahl damit, dass Cannes keine positive Diskriminierung praktiziert. Dass von den eingereichten Filmen aber nur 26 Prozent von Regisseurinnen stammten, zeigt jedoch, dass bereits vor dem Auswahlprozess Ungleichheiten bestanden.

Das diesjährige Programm der Wettbewerbsfilme liest sich wie ein Who is Who des zeitgenössischen Kinos.

Dank der Last-Minute-Anmeldungen von Quentin Tarantino und Abdellatif Kechiche fällt der Wettbewerb gar noch bestechender aus, als die Ankündigungen von Namen wie den Dardenne-Brüdern, Ken Loach, Pedro Almodóvar oder auch Terrence Malick es vermuten ließen.

Große Namen und Entdeckungen

Tarantino macht einen Film über Stuntmen in Hollywood, Malick über einen deutschen Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, der Pitch von Ken Loachs „Sorry We Missed You“ klingt nach klassischem „Social Realism“, der neue Almodóvar gilt in der französischen Presse bereits jetzt als möglicher Anwärter auf die Goldene Palme – und Frankreich ist mit einigen seiner renommiertesten Regisseuren (Xavier Dolan und Arnaud Desplechin) vor Ort.

Es sind aber vor allem die ersten Filme von Ladj Ly („Les Misérables“ über den Polizeialltag in einem sensiblen Vorstadtgebiet) oder von Mati Diop („Atlantique“), die den Erwartungshorizont der Kritiker bevölkern.

Vielleicht ist die Auswahl ein klein wenig zu eurozentristisch und US-amerikanisch, die Anwesenheit von hochkarätigen brasilianischen (Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles mit „Bacurau“ über ein brasilianisches Dorf, das von der Landkarte verschwindet) oder asiatischen Regisseuren („Le lac aux oies sauvages“ von Diao Yinan und „Parasite“ von Bong Joon-Ho) gleicht dies aber ein wenig aus.

Auch aus luxemburgischer Sicht klingt diese 72. Auflage vielversprechend – drei luxemburgische Koproduktionen haben es in die Auswahl „Un certain regard“ geschafft, darunter der neue Film „Chambre 212“ von Christophe Honoré, dessen letzter Film „Plaire, aimer et courir vite“ letztes Jahr im Wettbewerb lief. Auch auf „O que Arde“, den neuen Film von Olivier Laxe, der 2010 bei der „Quinzaine des réalisateurs“ vertreten war, darf man gespannt sein.

Eröffnungsfilm wurde auch im Kino gezeigt

Die mittlerweile allgegenwärtige Anwesenheit vom nationalen Wunder „Superjhemp“ lassen wir hier mal unkommentiert – ob sich die Franzosen abseits vom „Cancoillotte“ für die doch sehr Luxemburgbezogene Parodie begeistern können ist allerdings äußerst fragwürdig.
Positiv zu vermerken sind auch die Bemühungen, die Wartezeit zwischen der Projektion in Cannes und der Ausstrahlung in den Kinosälen zu verkürzen: In Frankreich wurde der Eröffnungsfilm „The Dead Don’t Die“ zeitgleich in ungefähr 600 Kinosälen ausgestrahlt, der Film läuft seitdem, wie auch „Dolor y Gloria“ von Almodóvar, in den französischen Kinos, wo man demnächst auch „Sybil“ von Justine Triet und „Parasite“ von Bong Joon-Ho sehen kann.

Auch in Luxemburg läuft der neue Film von Almodóvar bereits an, der Kinostart von „Le jeune Ahmed“ der Dardenne-Brüder und „Lux Aeterna“ von Gaspar Noé ist für die kommende Woche programmiert.

In den kommenden Tagen besprechen wir unter anderem die Wettbewerbsfilme und die luxemburgischen Koproduktionen.