Genua, ein Jahr nach dem Trauma der Ponte Morandi

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In wenigen Sekunden stürzte am 14. August 2018 in Genua ein Teil der Ponte Morandi ein. 43 Menschen mussten dies mit dem Leben bezahlen, viele weitere verloren Hab und Gut. Ein Jahr danach lebt Genua zwischen Trauer, Wut und Wiederaufbau.

Von unserem Korrespondenten Wolf H. Wagner, Florenz

Für Martin Kucera, Prager Lkw-Fahrer, der seit 1995 regelmäßig durch Italien fährt, fühlt sich das Leben wie ein Wunder an. Jener Moment des 14. August 2018, um 11.36 Uhr, als er mit seinem Sattelschlepper die Ponte Morandi überquerte, wird ihm sein Leben lang in Erinnerung bleiben. „Ich merkte nur noch, wie es in drei Stufen bergab ging. Dann schlug mein Wagen auf. Betonstücke, Stahl und Staub polterten herab. Irgendwie konnte ich aus dem Fahrzeug springen und mich retten“, erinnert er sich.

Für 43 weitere Menschen jedoch brachte der Einsturz eines Teilstücks der Autobahnbrücke den Tod. Für die Bewohner der darunter gelegenen Wohnhochhäuser vielfach das Ende ihrer Träume vom Leben im eigenen Heim. Für die Angehörigen der Toten ein nicht enden wollendes Trauma.

Notstand nach einem Jahr

Maria, eine 30-jährige Witwe mit drei Kindern, ihr Mann blieb unter den Trümmern der Ponte Morandi, schließt sich seit dem Unglück in ihren eigenen vier Wänden ein. „Psychologische Betreuung brauche ich nicht. Ich bin doch nicht verrückt“, erklärt sie. Giusy Moretti (59), verlor mit dem Brückeneinsturz alles. „Wir waren zuletzt im April in unserem Haus direkt unter der Brücke, um noch mitzunehmen, was wir heraustragen konnten. Nun warten wir auf Hilfe, aber sie kommt nicht“, erklärte sie dem Mailänder Corriere della Sera.

Die Stadtverwaltung von Genua hat auch ein Jahr nach der Katastrophe die Notstandssituation im Brückengebiet nicht aufgehoben. Die Reste des Viadukts sind inzwischen gesprengt, über einen Neubau wird nachgedacht.

Unglück wäre vermeidbar gewesen

Waren anfangs die Politiker von Giuseppe Conte über Luigi Di Maio bis hin zu Matteo Salvini schnell zur Stelle, so kümmern sie sich derzeit um die innenpolitische Krise. Die Mitglieder des „Komitees der Obdachlosen“, die nach dem Einsturz ihre Häuser verlassen mussten, haben dafür wenig Verständnis. Nach anfänglichen Versprechen auf schnelle Hilfe bleibt die Umsetzung im Sande stecken. Zynisch mag man behaupten: Wie üblich in Italien, doch dies hilft weder den Betroffenen in den Erdbebengebieten der Abruzzen noch den Menschen in Genua. Dass Papst Franziskus am Vorabend des Unglücksjahrestages der Opfer gedenkt, mag trösten, schafft aber auch keine reale Hilfe.

Sowohl Experten als auch recherchierende Journalisten sind sich einig: Das Unglück vom vergangenen 14. August wäre vermeidbar gewesen. Kurz nach dem Einsturz veröffentlichte Videos zeigen, dass sich bereits Wochen zuvor Stahlseile des gebrochenen Pfeilers gelöst hatten. Doch nicht nur dies: Bereits im Jahr 1989 hatte der zuständige Assessor des Genueser Gemeinderates, Giovanni Bagnara, gewarnt: „Diese Brücke hält nicht länger, sie wird einstürzen.“ Forderungen an die Straßenbaubehörde ANAS, zu intervenieren und dringende Reparaturen auszuführen, wurden nur halbherzig gehört und befolgt.

Genuas Wirtschaft beeinträchtigt

Selbst zum Zeitpunkt des Einsturzes waren Reparaturarbeiten im Gange – eben nur nicht an den wichtigen, von Korrosion heimgesuchten Stützpfeilern. Nach Untersuchungen, die in Folge des Einsturzes der Ponte Morandi im ganzen Land angestellt wurden, stellte man viele Straßen- und Brückenabschnitte in desolatem Zustand fest. Es wundert nur, dass nicht noch mehr passiert ist. Der Schaden, den sowohl die Genueser als auch die gesamtstaatliche Wirtschaft bislang genommen hat, ist nicht beziffert. Es dürfte sich um dreistellige Millionenbeträge handeln. Immerhin hat Genua den wichtigsten Handelshafen Italiens.

Für die Sanierung hat die Regierung Conte eine Summe von einer Milliarde Euro vorgesehen – auf drei Jahre verteilt. Davon wurden bislang 450 Millionen bereitgestellt. Dabei muss darauf geachtet werden, dass sich nicht die organisierte Kriminalität – wie so häufig in diesen Fällen – in das Geschäft einschaltet und die für die Bevölkerung wichtigen Mittel in undurchsichtige Kanäle abfließen. Unklar ist ferner, wer genau für die Rekonstruktion aufkommen soll – der im Eigentum der Familie Benetton agierende Autobahnbetreiber oder eben doch die staatliche Straßenbehörde. Nicola Leugio ist ein Jahr nach der Katastrophe desillusioniert.

„An dem Tag hörte ich nur einen starken Schlag, dann war die Brücke unten.“ Leugio wohnt 150 Meter von der Brücke entfernt, sein täglicher Arbeitsweg erhöht sich seit dem Einsturz um 72 Kilometer. Jedes Mal sei es eine Odyssee. Wie er müssen viele Genueser nun Umwege in Kauf nehmen. „Eine neue Brücke wäre fantastisch, doch wann wird sie fertig sein?“, fragt sich nicht nur Leugio. Dass am Jahrestag des Unglücks die politischen Spitzen der Tragödie gedenken werden, lässt bei den Betroffenen keine Euphorie entstehen. „Wir wollen nur noch unsere Ruhe und wieder Normalität in unserem Leben“, ist vor Ort die einhellige Meinung.