InterviewGasmarkt-Experte Michail Krutichin über ein europäisches Gasembargo gegenüber Russland

Interview / Gasmarkt-Experte Michail Krutichin über ein europäisches Gasembargo gegenüber Russland
Michail Krutichin meint, ein europäisches Embargo für russisches Gas würde Moskau schwer treffen

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Kommt nach den Verbrechen in der ukrainischen Stadt Butscha ein europäisches Embargo für russisches Gas? Litauen sagt: Ja. Italien: Vielleicht. Deutschland ganz klar: Nein. Der russische Energie-Experte Michail Krutichin meint, Europa müsse sich entscheiden.

Tageblatt: Herr Krutichin, welche Bedeutung hat das Gas für die russische Wirtschaft?

Michail Krutichin: Das Gas ist derzeit die wichtigste Einnahmequelle des russischen Staatshaushalts. Die Preise dafür sind hoch, im Gegensatz zu den Preisen für Öl. Zusammen macht der Verkauf von Gas und Öl etwa 60 Prozent der russischen Einnahmen aus. Sollte Russland kein Gas mehr exportieren können, würde es – nach meinen Berechnungen – ein Drittel des Budgets einbüßen.

Wodurch?

Es geht dabei nicht nur um Gazprom, auch wenn der Konzern die wichtigste Quelle ist. Es geht auch um Unternehmen, die Gazprom bewirtschaften, es geht um Steuereinnahmen aus dem Bergbau, um Ausfuhrzölle, Körperschaftssteuern, um Steuern der Mitarbeiter in den zahlreichen Betrieben in diesem Industriebereich. Die Reduzierung der Gasexporte wäre ein ernsthafter Schlag für die russische Wirtschaft.

Kommt Russland durch die angeordneten Rubelkonten für europäische Unternehmen zum Bezahlen des Gases nun doch an die Devisen aus Europa?

Ja. Da hat sich nichts geändert. Die Europäer zahlen weiterhin in Euro und Dollar, wie das in den Verträgen festgelegt wurde. Sie zahlen an die Gazprombank, die von den Sanktionen nicht betroffen ist, und vergessen es schnell wieder. Sie haben bezahlt und bekommen Gas dafür. Um alles andere kümmert sich die Gazprombank: Sie übergibt die fremde Währung an den Staat, der Staat gibt der Bank Rubel, die Bank eröffnet Rubelkonten für die Unternehmen und überweist darüber das Geld – in Rubel – an Gazprom. Ein einfaches Schema.

Die Reduzierung der Gasexporte wäre ein ernsthafter Schlag für die russische Wirtschaft

Ein Gasembargo wäre also ein passendes Druckmittel auf Putins Regime?

Zweifellos. Europa sollte auch nicht vergessen, dass Russland sein Gas nicht nur als Einnahmequelle sieht, sondern auch gern als politisches Mittel zur Erpressung einsetzt. Das hat Russland seit 2005 mehrfach unter Beweis gestellt. Für Russland ist Gas immer Politik.

Ein Importverbot zöge eine ganze Kette an Reaktionen nach sich. Nicht nur in Europa …

Und was ist die Lösung? Russland weiterhin dabei helfen, die Ukrainer zu töten? Ja, in Deutschland müssten wohl Chemiewerke die Arbeit einstellen, Stahlwerke würden leiden, auch kleinere Betriebe. Manche müssten wohl auch stillstehen. Auch Pläne des Green Deal müssten aufgeschoben werden. Für Flüssiggas müsste viel Geld bezahlt werden. Das trifft Deutschland und auch andere Länder empfindlich, natürlich. Aber hier gilt die Wahl: Teilnahme am Krieg oder materielle Opfer.

Stoppt ein Embargo den Krieg?

Hier kann es gar keine Logik geben. Wir können damit rechnen, dass die russische Wirtschaft durch ein Embargo sehr leiden wird, dass sich manche hier überlegen werden, dass es für das Land besser wäre, den Krieg zu beenden. Aber die Entscheidung zum Weitermachen oder Beenden steht außerhalb jeder Logik. Allein der Beginn des Krieges war irrsinnig, weil er einen kolossalen Schlag für die russische Wirtschaft bedeutet. Dennoch entschied sich die russische Führung dafür. Entschied sich dafür, die Ukraine, Belarus und das eigene Land zu zerstören. Jegliche Vorhersagen sind unmöglich. Die Aufgabe jetzt ist vor allem: die Wirtschaft Russlands so weit zu schwächen, dass Russland keine Bedrohung mehr für die zivilisierte Welt darstellt. Man muss dem Drachen die Zähne ziehen.

Russland kann den europäischen Markt nicht ersetzen. Ein Embargo wäre ein Teil der Kraftanstrengung gegen den Aggressor.

Und wenn der Drache sein Gas einfach nach China verkauft?

Das ist Blödsinn. Zum einen gibt es keine Infrastruktur, keine Pipeline, um die Mengen an Gas, die für Europa bestimmt sind, nach Asien zu leiten. Das wäre eine jahrelange, langwierige und sehr teure Sache. 145 Milliarden Kubikmeter Gas bekam Europa im vergangenen Jahr, China lediglich zehn. China hat auch nicht zugestimmt, dass es überhaupt mehr als die bereits vereinbarten Gasmengen bekommen will. Es gibt also auch keinen Markt. China wird Europa bezüglich der Gasexporte nicht ersetzen.

Was macht denn Russland mit seinem Gas, wenn es nicht mehr liefern darf?

Nichts. Weniger fördern. Die Arbeit einstellen. Vielleicht die Bohrlöcher schließen. Gas verflüssigen kann Russland nicht, dafür fehlt die Infrastruktur. Russland kann den europäischen Markt nicht ersetzen. Ein Embargo wäre ein Teil der Kraftanstrengung gegen den Aggressor.

Zur Person

Michail Krutichin, Jahrgang 1946, hat in Moskau Arabistik studiert und 20 Jahre lang als Korrespondent der damals noch sowjetischen Nachrichtenagentur TASS im Nahen Osten gearbeitet. Seit den 1990ern analysiert er den Öl- und Gasmarkt in den ehemaligen Sowjetrepubliken.