Freigetreten: Junge Luxemburgerin überwindet Depression und Übergewicht durch Kampfsport

Freigetreten: Junge Luxemburgerin überwindet Depression und Übergewicht durch Kampfsport

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Mobbing am Arbeitsplatz führte bei Véronique Wilhelm aus Mamer zu Depressionen, extremen Stimmungsschwankungen und Übergewicht. Jahrelang schleppte sich die heute 32-Jährige erfolglos von einer Therapie zur nächsten, bis sie schließlich einer Kampfsportschule beitrat. Dieser Schritt sollte ihr Leben für immer verändern. Sie kämpfte im wahrsten Sinne des Wortes gegen ihre Dämonen, schaffte es zurück ins Leben – und nahm indes über 20 Kilo Körpergewicht ab.

Von Steve Peffer

Samstagmorgen, halb 10 in Strassen. Es ist der Tag der Gürtelprüfung. Noch herrscht Stille in der Trainingshalle, während sich fünf Schüler bäuchlings auf dem Boden liegend beim schriftlichen Teil des Examens den Kopf zerbrechen. Véronique bereitet derweil die Testfläche für den praktischen Teil vor. Es ist eine ihrer Aufgaben als assistierende Trainerin. Doch auch sie muss heute ihre Prüfung ablegen. Ist sie aufgeregt? „Nein“, entgegnet sie trocken, ohne auch nur einen Blick von ihrer Arbeit abzuwenden. Eine andere Antwort kommt nicht infrage, denn laut „Hwa Rang Do Kodex“ ist Angst zu zeigen gleichzusetzen mit scheitern. Schließlich beginnt sie mit ihren Aufwärmübungen, auch die übrigen Kandidaten haben bereits ihre Stifte niedergelegt und dehnen sich.

Plötzlich wird das Treiben unterbrochen, als ein langhaariger Mann mit rotem Gewand die Halle betritt. Pfeilschnell stehen die Anwesenden auf und grüßen im Gleichklang, fast militärisch. Bei dem Mann handelt es sich um Großmeister Taejoon Lee, den höchsten Lehrer der Schule des Hwa Rang Do – das ist eine moderne koreanische Kampfkunst. Er nimmt Platz, verbessert seufzend die Testbögen und läutet anschließend den entscheidenden Teil der Prüfung ein. Auf seine Anweisungen hin demonstrieren die Kandidaten ihre neu erlernten Kampftechniken, teils alleine, teils zu zweit. Tritte, Hiebe, Ringen, Nahkampf – die Messlatte im Hwa Rang Do liegt hoch. Nach etwa einer Stunde schweißtreibenden Gefechts fällt das Urteil für Véronique am Ende jedoch positiv aus: Sie erhält den „Brown Tip“, die Vorstufe des roten Gürtels. Sie müsse jedoch an der Höhe ihrer Sprungkicks arbeiten, lautet die Kritik des Großmeisters.

Wenn Mobbing ein Leben ruiniert

Dass sie überhaupt in der Lage ist, derart anspruchsvolle Bewegungen auszuführen, war für Véronique bis vor zwei Jahren noch fast undenkbar. In dem Jahr, als sie der Kampfsportschule beitrat, wog die junge Frau noch 95 Kilo bei einer Körpergröße von 160 Zentimetern. Heute bringt sie 75 Kilo auf die Waage. „Da ist aber auch einiges an Muskeln hinzugekommen“, kommentiert sie lachend. Die bedeutendste Veränderung zeigt sich jedoch nicht an ihrem Körper, sondern an ihrem Geist. Auf ihrer früheren Arbeitsstelle in einer Betreuungseinrichtung für Kinder durchlebte die gelernte Erzieherin traumatische Erfahrungen, die eine tiefe Schneise in ihrem Innern hinterließen. Einige ihrer Mitarbeiter verschwörten sich nach und nach gegen Véronique und versuchten, ihr das Leben so schwer wie nur möglich zu machen. „Ich wurde fast täglich beschimpft, bloßgestellt und verachtet. Sogar meine Aufgaben wurden mir entzogen, sodass ich am Ende praktisch nur noch als Dienstmädchen fungierte.“ Monatelang harrte sie dort aus, bis sie schließlich krankgeschrieben wurde und nicht mehr dorthin zurückkehrte.

Gesundheitliche Probleme, Frustessen

Doch es war bereits zu spät. Durch ihre Erlebnisse an ihrem Arbeitsplatz stürzte die damals 26-Jährige in eine tiefe Depression und litt unter Angstzuständen sowie unkontrollierten Stimmungsschwankungen. Auf Rat einer Freundin beantragte sie eine ambulante Therapie, auf die sie wegen Mangels an verfügbaren Ärzten jedoch monatelang warten musste. In der Zwischenzeit suchte sie Zuflucht vor dem Alltag in ihrem Geburtsland Südkorea. „Ich habe dort viele Freunde und keine Verpflichtungen, somit konnte ich mir ein wenig Erholung gönnen und Abstand zu meinem Leben in Luxemburg gewinnen.“ Während der vier Monate, die sie nach Kündigung ihrer Arbeit dort verbrachte, lernte Véronique einen ihrer treuesten Weggefährten kennen: ihren Hund Beau. Der weiße Jindo-Rüde leistete ihr Beistand an schweren Tagen. Inzwischen hat Véronique zwei Hunde, ohne die sie sich ihr Leben nicht mehr vorstellen kann.

Die meisten Menschen, die unter einer mentalen Krankheit leiden, entwickeln Gewohnheiten, mit denen sie ihre Leiden kanalisieren. Bei Véronique war es Essen: „In meinem Frust stopfte ich wahllos und maßlos alles in mich hinein, was der Vorratsschrank hergab. Leider war es meistens ungesundes Zeug wie Chips, Schokolade oder Kuchen.“ Obwohl sie immer dicker wurde, wollte sie ihr wachsendes Übergewicht nicht wahrhaben und verglich sich mit Menschen, die noch fülliger waren als sie, um ihr eigenes Problem kleinreden zu können. Selbst für ihre Knieprobleme und Rückenschmerzen wollte sie die überschüssigen Kilos nicht verantwortlich machen. „Unterschwellig dachte ich mir zwar, dass viele meiner gesundheitlichen Probleme durch mein Übergewicht bedingt sein könnten, aber ich wollte, dass mir jemand das ins Gesicht sagt. Allerdings tat das niemand, nicht einmal die Ärzte.“ Durch ihre Medikamente quoll zudem ihr Gesicht auf, was noch weiter zu ihrem opulenten Erscheinungsbild beitrug.

Den ersten Schritt in Richtung Veränderung löste ein Gruppenfoto aus, auf dem sie sich selbst nicht wiedererkannte. „Ich sah mir das Foto an und mir fiel sogleich eine extrem dicke Frau ins Auge. Noch bevor ich aufs Gesicht schaute, dachte ich mir ‚Mensch, die ist aber fett‘, nur um sofort darauf zu bemerken, dass ich diese Person war.“ Noch am selben Tag stellte sie ihre Ernährung um, verzichtete fortan weitestgehend auf Junkfood und achtete darauf, möglichst in Maßen zu essen. In nur drei Monaten verlor sie die ersten zehn Kilo. Irgendwann folgte dann der Wunsch, wieder mit Sport anzufangen. Nur durch Zufall lernte sie im Sommer 2016 ein Mitglied des damals noch winzigen Hwa-Rang-Do-Verbands in Luxemburg kennen. Nach einem Probetraining kam dann der Entschluss, selbst Mitglied zu werden.

Unter der Leitung von Großmeister Taejoon Lee wurde Véroniques Ehrgeiz in jeder Trainingseinheit auf die Probe gestellt. Sich auf die strikte Rangordnung einzulassen und die nötige Disziplin für das harte Training aufzubringen, fiel ihr anfangs alles andere als leicht. Taejoon Lee erinnert sich: „Wenn ich sie kritisierte, fühlte sie sich sofort persönlich angegriffen. Sie wusste nicht damit umzugehen.“ Auch ihr Vereinskollege Roberto Cesca hat seinen ersten Eindruck von Véronique nicht vergessen: „Wir kannten uns damals kaum, trotzdem schien es mir, als würde sie nach Antworten auf Fragen suchen. Sie hatte ein unsicheres Auftreten, war aber gleichzeitig stets neugierig. Erst als wir Freunde wurden, erzählte sie mir von ihren Problemen.“

Mit Selbstdisziplin zu neuen Horizonten

Einerseits waren der enge Zusammenhalt und die Freundschaft zwischen den Hwa-Rang-Do-Sportlern ausschlaggebend für ihre mentale Genesung, andererseits das Gefühl, ihre eigenen Grenzen immer wieder zu erweitern. „Als sie hierherkam, hatte sie ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Doch sie hatte Biss, und das half ihr, höhere Grade im Sport zu erreichen und sogar Medaillen bei der Weltmeisterschaft zu gewinnen“, führt Taejoon Lee aus.

Aus Véronique wurde ein neuer Mensch – trotzdem wäre es falsch, zu behaupten, dass sie vollständig geheilt ist. „Ich leide noch heute unter krankheitsbedingten Stimmungsschwankungen, doch Hwa Rang Do hilft mir dabei, diese einigermaßen im Griff zu behalten.“ Diese Fähigkeit übertrug sich auch auf andere Lebensbereiche. Nach längerer Arbeitslosigkeit ist sie seit kurzem wieder als Erzieherin tätig. In ihrer Freizeit leitet sie zudem die Vereinigung der in Luxemburg lebenden Adoptivkoreaner sowie eine Fangemeinschaft von Liebhabern koreanischer Popmusik. „Ich weiß, dass es noch so manche Baustellen in meinem Leben gibt, doch ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe, und werde auch weiter an mir arbeiten.“