SchulmedizinExperte fordert Paradigmenwechsel

Schulmedizin / Experte fordert Paradigmenwechsel
Experte für Schulgesundheit, Berater für die Weltgesundheitsorganisation: Pierre-André Michaud Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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WHO-Experte Pierre-André Michaud hat im Auftrag des Gesundheitsministeriums das schulärztliche System in Luxemburg genauer unter die Lupe genommen. Obwohl er viel Lob ausspricht, fordert er doch einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel – und mehr Zusammenarbeit in der Politik.

Eine Sache möchte er gleich zu Beginn loswerden, sagt Prof. Pierre-André Michaud an diesem Dienstagnachmittag im vollen Sitzungssaal des Forum Da Vinci. „Ich spreche lieber von Schulgesundheit als von Schulmedizin.“ Michaud, internationaler Experte für Schul- und Jugendgesundheit sowie Berater bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ist auf Einladung des Ministeriums für Gesundheit und soziale Sicherheit sowie der Gesundheitsdirektion in Luxemburg, um seine Analyse der schulärztlichen Dienste zu präsentieren. Und im Grunde trifft dieser Satz von der Schulgesundheit gleich zu Beginn schon den Kern von Michauds Botschaft: weniger Fokus auf einzelne ärztliche Untersuchungen, hin zu einem ganzheitlichen Verständnis für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.

Weniger Hygiene, mehr psychosoziale Aspekte

Die Schulmedizin spielt im Rahmen der Schulbildung von Kindern und Jugendlichen in Luxemburg eine wichtige Rolle. Mehr als 50.000 Schülerinnen und Schüler nehmen die schulärztlichen Dienste in Anspruch, die jedes Jahr im ganzen Land angeboten werden. Gesundheitsministerin Martine Deprez (CSV), die Michaud an diesem Dienstag begrüßt, erinnert sich an ihre eigene Schulzeit und die „ein, zwei Stunden“, in denen es dank des schulärztlichen Dienstes um etwas ganz anderes ging. Hauptaufgabe dieser Dienste ist jedoch nicht Unterhaltung (obwohl sich die Kinder wohlfühlen sollen), sondern eine Kontrolle der Gesundheit und die Pflege des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen an öffentlichen und privaten Schulen. Diese sozialmedizinische Betreuung besteht meist aus einer Reihe Tests, Untersuchungen und Screenings. So werden beispielsweise Gewicht und Körpergröße ermittelt, um den Body-Mass-Index (BMI) zu errechnen. Des Weiteren werden Impfungen kontrolliert, aber auch Augen und Ohren getestet und der Urin untersucht.

Michaud hat nun die Organisations- und Funktionsweise dieser Dienste genauer untersucht. Eine gründliche Analyse der Schulmedizin war schon im Regierungsprogramm der Vorgängerregierung aus DP, LSAP und „déi gréng“ vorgesehen, 2023 konnte sie umgesetzt werden. Für seinen Report hat Michaud viele offizielle Dokumente durchgearbeitet, aber auch Gespräche mit Akteuren vor Ort in Luxemburg geführt – allen voran mit Silvana Masi, Chefin der schulärztlichen Abteilung der Gesundheitsdirektion.

Ministerin Martine Deprez (vorne links) scheint ganz auf einer Linie mit der Analyse des Experten
Ministerin Martine Deprez (vorne links) scheint ganz auf einer Linie mit der Analyse des Experten Foto: Editpress/Hervé Montaigu

Die gesundheitliche Landschaft habe sich in den vergangenen Jahren verändert, erklärt Michaud im Forum Da Vinci. Übertragbare Krankheiten seien – mit Ausnahme von Covid – zurückgegangen. Zugenommen hätten hingegen Entwicklungs-, Ess- und Verhaltensstörungen sowie Probleme der geistigen Gesundheit. Die Zahl der übergewichtigen Jugendlichen habe sich in Luxemburg seit 2018 mehr als verdoppelt, in den Schuljahren 2021 und 2022 seien zwölf Prozent der 11.000 untersuchten Schüler und Schülerinnen ihrem BMI nach in der Kategorie Übergewicht gelandet.

Global gesehen sei Kindersterblichkeit in den letzten 50 Jahren stark zurückgegangen, so Michaud, die Sterblichkeit bei älteren Kindern und vor allem bei Jugendlichen aber relativ stabil geblieben. Dies hänge in hohem Maße mit verhaltensbedingten Problemen wie Verkehrsunfällen, Gewalt und selbstzerstörerischem Verhalten und psychischen Problemen zusammen. Diese gesellschaftliche Entwicklung hat Auswirkungen auf die Schulmedizin: Lag der Schwerpunkt einst auf der täglichen Hygiene und dem rechtzeitigen Erkennen von Krankheiten und Gesundheitsproblemen, hat sich der Fokus heute auf psychosoziale Aspekte verlagert. Der Stellenwert von Routineuntersuchungen sei in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen, sagt Michaud in seiner Analyse, während Ansätze zur Prävention und vor allem zur Gesundheitsförderung zunehmend an Bedeutung gewinnen würden.

Die Sache mit dem Urintest

Insgesamt findet Michaud in seiner Analyse der luxemburgischen Schulmedizin viele positive Aspekte: Die Abdeckung einschließlich der Gesundheitsüberwachung sei optimal. Auch lobt er das große Engagement der beteiligten medizinischen Fachkräfte. Man habe in Luxemburg viele Mittel zur Verfügung, sowohl menschlicher als auch finanzieller Art. Für seine Kritik hat sich Michaud ein anschauliches Beispiel herausgepickt: den Urintest, dem sich viele Schüler unterziehen müssen. „Warum wird in Luxemburg der Urin getestet? Man könnte genauso gut auch den Eisengehalt im Blut messen, das ist auch ein Indikator für verschiedene Dinge“, fragt Michaud. Der Experte findet die Entscheidung willkürlich. Urintests seien zwar bei bestimmten Bevölkerungsgruppen in Ländern, die spezifischen Nierenerkrankungen ausgesetzt sind, gerechtfertigt, aber in einem Land mit hohem Einkommen wie Luxemburg gebe es keine wissenschaftlichen Belege dafür, so Michaud. Auch zur Feststellung von insulinabhängigem Diabetes tauge der Urintest nicht. Dieser trete in diesem Alter plötzlich auf, es müsste also ein monatliches Screening durchgeführt werden, um die wenigen Fälle von neuem Diabetes pro Jahr zu identifizieren.

Michaud schlägt vor, das bislang vorherrschende Paradigma zu überdenken. Noch wögen in Luxemburg Vorsorgeuntersuchungen und systematische Arztbesuche in den Schulen schwerer als Beratung, Prävention und Gesundheitsförderung. Auch weil mentale Gesundheit und psychosoziale Aspekte immer mehr an Bedeutung gewinnen, steigt der Bedarf an Gesundheitserziehung und vor allem auch an Aktivitäten, die auf das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler abzielen. Eine Entwicklung, die auch von der Wissenschaft und der WHO weitgehend anerkannt wird.

Wenn man sich das zu Herzen nehme, so Michaud, bräuchte es in Luxemburg tatsächlich einen grundlegenden Paradigmenwechsel in Bezug auf die Organisation und den Inhalt der schulischen Gesundheitsaktivitäten. Weg vom Konzept der Schulmedizin, hin zum Konzept der Schulgesundheit. Ein ganzheitlicher Ansatz, der den Schwerpunkt auf das physische, psychosoziale und emotionale Umfeld legt, das von den Schulen bereitgestellt wird – und der weit über medizinische Untersuchungen hinausgeht.

Kein zusätzliches Budget

Diese grundlegende Veränderung im Bereich der Schulgesundheit erfordere nicht einmal ein großes zusätzliches Budget, so Michaud. Vielmehr könne man bereits vorhandene personelle und finanzielle Ressourcen verlagern. Weniger Untersuchungen, mehr persönliche Beratungen. Ein Schwerpunkt müsse dabei auf der Aus- und Weiterbildung des Schulgesundheitspersonals und der Lehrkräfte liegen. Was in den Augen des Experten jedoch unabdingbar ist, ist eine bessere Zusammenarbeit zwischen den beiden zuständigen Ministerien für Gesundheit und Bildung. „Ein gutes Bildungssystem hat Einfluss auf die Gesundheit“, sagt Michaud. Er fordert mehr Koordination zwischen den Gesundheits- und Bildungsverwaltungen auf nationaler und regionaler Ebene.

Ministerin Deprez scheint dabei ganz Michauds Meinung zu sein. Auch sie betont die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes, der ein „interministerielles Denken“ erfordere. Im Kommuniqué des Ministeriums heißt es: „Dieser Bericht wird die Grundlage für die Umsetzung der unerlässlichen Veränderungen bilden, um die schulischen Gesundheitsdienste an die Anforderungen unserer Gesellschaft anzupassen.“ Man wolle die Empfehlungen umsetzen, eng mit allen Beteiligten zusammenarbeiten. In der Schulgesundheit stehen die Zeichen auf Paradigmenwechsel.

Robert Hottua
8. Februar 2024 - 6.26

Ab 1933 wurde im luxemburgischen katholischen Gesundheitswesen ein germanomanischer Paradigmenwechsel befürwortet. Laut der arischen Germanomanie sind biologische, dekalogfreie, koerzitive "Exkremententherapien" zur "Aufartung des arisch-germanischen Volkskörpers" notwendig.
▪ "Durch die Hölle gegangen" (Von Laurent GRAAFF, Revue, 13.05.2006) Jahrelang wurden im Ettelbrücker CHNP die Menschenrechte mit Füßen getreten. Das behaupten ehemalige Patienten. Unlängst hat auch die Menschenrechtskommission Alarm geschlagen. (…) "Du hast Todesangst. Du fühlst dich von Gott und der Welt verlassen. Du bist total verzweifelt und wünschst dir nichts sehnlicher, als dass dieses elende Leben endlich vorbei ist." Mit diesen Worten beschreibt Robert SCHMIDT (Name von der Redaktion geändert), was in ihm vorging, wenn er an Händen und Füßen gefesselt auf einem Eisenbett lag und nur noch seinen Kopf hin und her bewegen konnte. Später einmal blätterte er in einer Ausgabe des deutschen Magazins "Stern". Dort gab es eine Reportage über eine Isolationszelle. Die beiden Räume ähnelten sich. Das Zimmer sei genauso inhuman gewesen. Es war der Hinrichtungsraum in einem Gefängnis in Texas, die Zelle, in denen dort Verbrecher mit einer Giftspritze ins Jenseits befördert werden. (…) Jean-Marie SPAUTZ, der zuständige Direktor, behauptet, daß es seines Wissens nie zu Todesfällen bei Fixierungen kam. Ganz ausschließen könne er es aber nicht. SPAUTZ behauptet weiter, daß es ihm nie möglich gewesen sei, in all das Einblick zu haben, was sich vielleicht im "stillen Kämmerlein" abgespielt hat. Am 23. September 2003 wurde in der Abgeordnetenkammer eine parlamentarische Anfrage gestellt, wo von "dysfonctionnements aux conséquences humaines parfois désastreuses" im Rahmen des CHNP die Rede war. Autor dieser Anfrage an den damaligen liberalen Gesundheitsminister Carlo WAGNER war der sozialistische Abgeordnete Mars di BARTOLOMEO. Die Anfrage erfolgte kurze Zeit, nachdem ein Artikel im "L'Investigateur" die skandalösen Zustände in Ettelbrück angeprangert hatte. Heute ist Mars di BARTOLOMEO selber Gesundheitsminister und damit auch verantwortlich für das psychiatrische Klinikum in Ettelbrück. Erste Reformen hat er eingeleitet. Es wurde eine umfangreiche Studie beim renommierten Schweizer Experten Prof. Wulf RÖSSLER in Auftrag gegeben. Der sah großen Handlungsbedarf. Seit kurzem gibt es einen "Médiateur", eine Person, die die Patienten über ihre Rechte aufklärt. Zu Beginn des Jahres hat auch die beratende Menschenrechtskommission ein Gutachten vorgelegt. Darin rät sie u.a. dazu, dass die Isolation und Fesselung von Kranken nur in außergewöhnlichen Fällen angewandt werden dürfen und Maßnahmen zu treffen seien, um Missbräuchen vorzubeugen. Sie prangert an, dass hierzulande nach wie vor die Zwangsbehandlung nicht gesetzlich geregelt ist und die Patienten nicht ausreichend über ihre Rechte aufgeklärt werden. Zudem stellt sie fest, daß auch Langzeitpatienten ein Recht auf eine Privatsphäre hätten, weshalb Überwachungskameras in den Aufenthaltsräumen und den Isolationszimmern des CHNP nicht zulässig seien. (...)
MfG
Robert Hottua