KlimaschutzEuropäisches Menschenrechtsgericht verurteilt Schweiz

Klimaschutz / Europäisches Menschenrechtsgericht verurteilt Schweiz
Die Schweizer „Klimaseniorinnen“ bekamen Genugtuung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Foto: AFP/Frederick Florin

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Es ist ein wegweisendes Urteil: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat erstmals ein Land wegen unzureichenden Klimaschutzes verurteilt.

Das Straßburger Gericht gab am Dienstag einer Gruppe Schweizer Seniorinnen recht, die ihrer Regierung vorwerfen, durch mangelnden Klimaschutz ihre Menschenrechte zu verletzen. Das Urteil ist zunächst nur rechtlich bindend für die Schweiz, hat aber eine Signalwirkung für weitere Länder und andere Klimaklagen.

„Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat damit festgestellt, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist“, sagte die Anwältin der Schweizer KlimaSeniorinnen Cordelia Bähr. „Das ist ein immenser Sieg für uns und ein Präzedenzfall für sämtliche Staaten des Europarates“, fügte sie hinzu. „Wir werden genau darauf achten, dass die Schweiz ihren Verpflichtungen nun nachkommt“, sagte die Aktivistin Anne Mahrer. Das Gericht forderte die Schweiz grundsätzlich auf, ihre Klimapolitik zu überprüfen.

Zur Klimaklage von sechs jungen Portugiesen gegen 32 Staaten, die viel Aufsehen erregt hatte, lehnte das Gericht hingegen eine Entscheidung ab. Die Kläger hätten den Gerichtsweg in ihrem Heimatland nicht ausgeschöpft, hieß es zur Begründung.

Auch die Klimaklage des ehemaligen Bürgermeisters des nordfranzösischen Küstenortes Grande-Synthe, Damien Carême, gegen die Regierung in Paris wurde abgewiesen. Da er nicht mehr in Frankreich lebe, könne er nicht als Opfer der Folgen des Klimawandels in dem von Überschwemmung bedrohten Ort anerkannt werden, befand das Gericht.

Es war das erste Mal, dass das Gericht Urteile zum Klimawandel fällte und sich mit der Frage befasste, inwiefern Klimaschutz ein Menschenrecht ist. Im Fall der Schweizerinnen urteilte das Gericht, dass die Schweiz den Artikel 8 der Menschenrechtskonvention verletzt habe, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens festschreibt.

„Der Staat ist seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen“, sagte Gerichtspräsidentin Siofra O’Leary mit Blick auf die Schweiz. Das Gericht erkenne an, dass Hitzewellen infolge des Klimawandels das Leben der Klägerinnen beeinträchtigten.

Die Schweizer Seniorinnen wurden nach der Urteilsverkündung mit Beifall und Jubel der angereisten Klimaschützer empfangen, unter ihnen auch die schwedische Aktivistin Greta Thunberg. „Dies ist erst der Anfang der Klima-Gerichtsprozesse“, sagte Thunberg. „Überall auf der Welt verklagen immer mehr Menschen ihre Regierungen und machen sie für ihr Handeln verantwortlich.“

Klage erregte Aufsehen

„Die Schweiz muss ihre aktuellen Klimazielsetzungen nachbessern, um die Menschenrechte genügend zu schützen“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der Schweizer KlimaSeniorinnen und Greenpeace Schweiz. Alle Europarat-Staaten könnten jetzt von ihren Bürgerinnen und Bürgern aufgefordert werden, ihre Klimapolitik zu verstärken. Die Umweltorganisation WWF nannte das Urteil einen „Weckruf für die Regierungen, die bisher nicht ausreichend gehandelt haben“.

In den vergangenen Jahren haben sich Klimaklagen gegen Unternehmen und Staaten gehäuft. Im vergangenen Dezember verzeichneten US-Forscher weltweit mehr als 2.500 Fälle, in denen Kläger sich vor Gericht gegen die Folgen des Klimawandels wehrten. Der Fall der jungen Portugiesen, die mit ihrer Klimaklage 2020 direkt vor den Europäischen Gerichtshof gezogen waren, hatte großes Aufsehen erregt. Sie waren damals zwischen acht und 20 Jahren alt und hatten die Waldbrände in ihrer Heimat 2017 in schlimmer Erinnerung.

Überraschend hatte das Straßburger Gericht sich mit ihrer Klage befasst, obwohl es sie direkt hätte ablehnen können, da üblicherweise erst der nationale Rechtsweg durchlaufen werden muss. Mit diesem Argument wiesen die Richter ihre Klage nun ab – doch das jahrelange Verfahren verschaffte dem Anliegen der jungen Leute zumindest eine große Aufmerksamkeit. „Die Klimakrise betrifft schon jetzt unser Leben“, betonte Claudia, eine der sechs Klägerinnen.

Bereits vor der Urteilsverkündung hatten sich am Dienstag dutzende Menschen vor dem Gerichtsgebäude in Straßburg versammelt, darunter Thunberg. „Klimagerechtigkeit ist ein Menschenrecht“ war auf einem Plakat zu lesen.