10. November 2025 - 6.55 Uhr
„Nichts tun ist immer falsch“Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit sind in Luxemburg sehr gefragt
Tageblatt: Was lernt man im Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit?
Elisabeth Seimetz: Unser Kurs richtet sich in erster Linie an Erwachsene, die andere Erwachsene bei psychischen Problemen oder in Krisensituationen unterstützen möchten. Für Jugendliche bieten wir einen eigenen Kurs an. Die Teilnehmenden erhalten grundlegendes Wissen über Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen, Angststörungen oder Abhängigkeitserkrankungen. Im Mittelpunkt steht, Warnsignale zu erkennen, angemessen zu reagieren und Betroffene zu unterstützen. Außerdem besprechen wir konkrete Krisensituationen, etwa wie man eine suizidale Krise erkennt, wie man damit umgeht oder wie man Menschen begleitet, die eine Panikattacke erleben. Auch klären wir, ab wann ein Notfall vorliegt. Der Kurs umfasst insgesamt zwölf Stunden.
Auf welchem Prinzip baut der Kurs auf?
Die Methode stammt ursprünglich aus Australien. Wir arbeiten mit dem leicht angepassten Akronym ROGER, das fünf Schritte beschreibt: R steht für Reagieren – also erkennen, wie es der betroffenen Person geht, und entsprechend handeln. O bedeutet offenes, nicht wertendes Zuhören. G meint, Informationen und Unterstützung zu geben – etwa zu Erkrankungen, Beratungsstellen oder durch konkrete praktische Hilfe. E steht für Ermutigung, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, wenn nötig. R bezeichnet die Aktivierung von Ressourcen, etwa im familiären Umfeld oder im Alltag, um Stabilität zu schaffen.
Wie merke ich, wann Hilfe notwendig ist?
Das hängt auch davon ab, wie gut man die Person kennt. Häufig fällt auf, dass sich jemand deutlich verändert – etwa durch starken Rückzug, vermehrte Sorgen oder ungewöhnliches Verhalten. Es kann aber auch sein, dass jemand plötzlich außergewöhnlich energiegeladen wirkt; das kann zum Beispiel auf eine manische Phase hinweisen.
Wie wichtig ist ein solcher Erste-Hilfe-Kurs?
Sehr wichtig. Er steigert Wissen und Verständnis für psychische Erkrankungen, baut Stigmata ab und fördert Unterstützung im Umfeld. Dadurch werden Erkrankungen wie Depressionen oft früher erkannt und behandelt. Das kann die Leidenszeit verkürzen und dazu beitragen, dass Episoden seltener auftreten. Ziel ist letztlich eine gesündere Bevölkerung.
Wie groß ist die Nachfrage?
Wir haben mehr Anfragen als Plätze. In den vergangenen fünf Jahren haben wir über 8.000 Menschen geschult. Zudem gibt es unser Teen-Projekt an derzeit 15 Lyzeen, wo pro Jahrgang alle Schüler*innen ein altersgerechtes Programm durchlaufen. Bis Sommer 2025 waren das rund 2.000 Jugendliche – in diesem Schuljahr kommen noch einmal so viele dazu.
Hat sich in Luxemburg die Haltung gegenüber psychischen Erkrankungen verändert?
Ja. Die Gesellschaft ist offener im Umgang damit. Corona hat dazu beigetragen, und auch soziale Medien fördern die Auseinandersetzung – manchmal sogar mehr, als manch eine*r gut findet.
Gibt es so etwas wie „zu viel“ Sensibilisierung?
Wenn man stärker über psychische Erkrankungen informiert, werden Betroffenen möglicherweise Dinge bewusst, die sie vorher nur schwer benennen konnten. Das erklärt teils auch steigende Fallzahlen in Statistiken. Das heißt jedoch nicht, dass die Belastung vorher nicht existiert hat. Wenn Jugendliche durch unsere Kurse sensibilisiert wurden, suchen manche häufiger Hilfe – etwa in den SEPAs. Aber ist es wirklich negativ, wenn Menschen motiviert werden, sich Unterstützung zu holen?
Wie schlimm ist es, wenn man eine Krise ignoriert und nicht hilft?
Das hängt von der Schwere ab. Eine Panikattacke ist für die betroffene Person sehr belastend, aber meist nicht lebensgefährlich. Bei weit fortgeschrittenen Suizidgedanken kann Nichtstun jedoch tödliche Folgen haben. Eine pauschale Antwort ist schwierig.
Gilt bei psychischen Krisen ebenfalls die Pflicht zur Hilfeleistung?
Ja. Wenn ich an jemandem vorbeigehe, der sich offensichtlich in Lebensgefahr befindet, und nicht handle, kann das strafbar sein. Vielleicht kann man die Situation nicht aufhalten oder hat Angst, etwas zu verschlimmern. Aber: „Nichts tun ist immer falsch“, wie es Kolleg*innen aus der Schweiz formulieren.
Wen alarmiert man in einer solchen Situation?
In akuten Fällen ruft man den Rettungsdienst. Polizei, Feuerwehr und Ambulanz sind in der Regel für psychische Krisen sensibilisiert. In Luxemburg gibt es derzeit noch keinen sozialpsychiatrischen Notdienst – er ist zwar im Nationalen Aktionsplan vorgesehen, aber bislang nicht umgesetzt. Ein spezialisiertes Team, das gezielt bei Krisen eingreifen kann, wäre sehr wichtig.
Gibt es Situationen, in denen Sie davon abraten, selbst einzugreifen?
Man darf sich selbst nicht in Gefahr bringen. Wichtig ist, die eigene Belastungsgrenze einzuschätzen. Wenn man die Situation nicht bewältigen kann, sollte man dafür sorgen, dass jemand anderes übernimmt.
Gibt es in Luxemburg genug Anlaufstellen für psychologische oder psychiatrische Hilfe?
Nein. Die Wartelisten – vor allem im privaten Bereich – sind sehr lang. Auch wir bei der Ligue haben kaum Kapazitäten und müssen manchmal Betroffene abweisen.
Hat man dann ein schlechtes Gewissen?
Ja, das ist belastend. Besonders, wenn man hört, wie lange Betroffene bereits versuchen, Hilfe zu bekommen, man aber selbst keine Zeit mehr hat. Unsere Kurse können in solchen Fällen helfen: Je mehr Menschen geschult sind, psychische Krisen zu erkennen und zu unterstützen, desto häufiger kann verhindert werden, dass überhaupt professionelle Hilfe nötig wird. Die Kurse sind also Teil der Prävention.
Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit
Der von der Ligue de Santé mentale ausgearbeitete Kurs wird mehrmals im Jahr an unterschiedlichen Stellen angeboten. Auf der Webseite www.pssm.lu/de/ersthelfer-in-werden/ finden sich die aktuellen Kurse. Des Weiteren organisieren manche Gemeinden für ihre Bürger ähnliche Angebote, so zum Beispiel Petingen oder Differdingen. Auch Arbeitgeber können für ihre Mitarbeiter eine solche Weiterbildung veranstalten. Interessierte können sich an die Ligue wenden.
De Maart

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