Etwa um 14 Uhr zieht der Tross von Demonstranten am hauptstädtischen Bahnhof los, zu dem die Organisation LUkraine unter dem Motto „Gerechtigkeit für Ukraine – Frieden für Europa“ aufgerufen hat. Es werden schätzungsweise um die 500 Teilnehmer sein. Viele tragen ukrainische Nationalflaggen, doch auch die Farben anderer europäischer Länder sind in dem blau-gelb-dominierten Fahnenmeer zu erkennen, vor allem die einiger mittel- und osteuropäischer Staaten, unter anderem aber auch skandinavische und die luxemburgische – und nicht zuletzt die Flagge der Europäischen Union.
Zwei Jungen im Teenageralter begleiten die Demo einige hundert Meter. Beide tragen ihre Skateboards unter dem Arm. Einer glaubt eine russische Fahne zu erkennen. „Quatsch“, sagt sein Kumpel mit einer Fellmütze auf dem Kopf. „Ich selbst stamme aus einer russischen Familie“, erklärt der andere in perfektem Deutsch und fügt hinzu: „Aber ich bin gegen den Krieg, den Russland begonnen hat.“ Der mit der Fellmütze, der sich als Lette zu erkennen gibt, entgegnet ihm: „Das dürftest du dort gar nicht sagen. Du würdest im Knast landen.“ Die beiden schnappen sich ihre Bretter und fahren in die Avenue de la Gare, während sich der Demonstrationszug die Avenue de la Liberté in Richtung Innenstadt bewegt.
Unter den Demonstranten sind Myckola Okhrimenko und seine Tochter Kateryna. Ich kenne die beiden seit dem eigentlichen Anfang des russisch-ukrainischen Konflikts im Frühjahr 2014, nachdem der prorussische ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch am 22. Februar abgesetzt worden war, der Krieg in der Ostukraine begonnen und Russland die ukrainische Halbinsel Krim besetzt und annektiert hatte. Ich unterhielt mich mit Myckola, der damals noch in Odessa lebte, per Skype. Zu jener Zeit hatte der russische Präsident Wladimir Putin mit massiver Propaganda die Behauptung verbreitet, rechtsradikale Kräfte hätten in der Ukraine die Macht übernommen. Die Protestbewegung auf dem Kyjiwer Maidan-Platz gegen Janukowytsch und für eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union bezeichnete der Kremlherrscher als „faschistisch“.
Beginn vor elf Jahren
Ich fuhr im März 2014 zu einer Demo vor der russischen Botschaft in Beggen. Die etwa 50 Demonstranten, darunter Kateryna Okhrimenko, prangerten Putins Aggressionspolitik an und warnten vor einem Krieg. Auch Nicolas Zharov war dabei, mittlerweile längst Präsident von LUkraine. Die Organisation hilft sowohl den Ukrainern in Luxemburg als auch jenen, die in der vom Krieg gebeutelten Heimat leben. Schon damals warnte ein estnischer Teilnehmer davor, dass Putins Russland es nicht bei einem Angriff auf die Ukraine belassen würde, sondern die Rückeroberung und Einverleibung der nach dem Ende der Sowjetunion unabhängig gewordenen baltischen Staaten anstrebe. Diese Angst herrscht in vielen Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts bis heute, wie auf der Demo zu hören ist.

Als die russische Armee am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, war Myckola gerade auf dem Weg zur Arbeit in der Mercedes-Benz-Niederlassung in Odessa. Die Russen beschossen die Hafenstadt vom Schwarzen Meer aus. Damals unterhielten wir uns per Video-Call. Myckola konnte schließlich fliehen. Mit Anfang 60 war er nicht mehr dazu verpflichtet, zur Armee und zur Front zu gehen. Mittlerweile lebt Myckola in Luxemburg. Während wir in Richtung Oberstadt gehen und einige Bengalos die Demonstranten in blaue und vor allem gelbe Rauchschwaden hüllen, spricht er über seine Gedanken, nachdem sich die Chefdiplomaten Russlands und der USA in Riad getroffen haben und der Kreml-Sprecher Dimitri Peskow in Moskau sagte, Russland stimme der Sichtweise der Trump-Regierung auf den Ukraine-Konflikt „vollständig“ zu. „Es kann nun eine Gelegenheit sein, den Krieg zu beenden“, sagt Myckola. Allerdings würden die Europäer und die Ukraine nicht miteinbezogen. Skeptisch äußert er sich zudem darüber, dass in den USA Milliardäre wie Elon Musk Politik betreiben, Oligarchen und Businessleute, die in der Politik nichts zu suchen hätten. Diese Erfahrung habe man schließlich in der Ukraine bereits mit den dortigen Oligarchen gemacht. Auch seine Tochter hat gemischte Gefühle über die aktuelle Situation. Es könne in beide Richtungen gehen, sagt Kateryna. Interessant ist darüber hinaus, wie sehr sich der Unmut der Demonstranten im Vergleich zu den Kundgebungen der vergangenen Jahre nicht nur gegen Russland und insbesondere Putin richtet, der mehrfach als Mörder bezeichnet worden ist, sondern auch gegen den neuen US-Präsidenten. Auf einigen Plakaten wird Trump „Lügner“ genannt und dafür kritisiert, mit Putin gemeinsame Sache zu machen.
Dass der US-Präsident seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj als Diktator verunglimpfte und Kyjiw für den Krieg verantwortlich macht, wiegt besonders schwer. Trumps verbale Attacken schmerzen. Die Annäherung der beiden Großmächte geht mit der Sorge einher, dass beide einen Diktatfrieden ohne Beteiligung der Ukraine aushandeln und dass die USA sich aus dem westlichen Wertebündnis zurückziehen könnten. Mit den Worten, nichts könne ohne die Ukraine unterzeichnet werden, spielt er auf Trumps Bestreben an, direkt mit Putin zu verhandeln. „Es sind Werte, für die eure Eltern bereits gekämpft haben“, heißt es von Seiten der Organisatoren der Demo um Nicolas Zharow, der bei der Schlusskundgebung auf der Place Clairefontaine als Erster spricht. Die Ukrainer könne nichts mehr erschrecken, so der Präsident von LUkraine, schließlich leisteten sie gegen eine der größten Armeen Widerstand. „Wir wollen Frieden. Aber Frieden ohne Gerechtigkeit ist kein Frieden. Das ist Unterwerfung. Das ist Kapitulation. Eine Einladung zur Tyrannei. Das alles haben wir schon erlebt.“ Er weist darauf hin, „dass alle sogenannten Waffenstillstände von Moskau genutzt werden, um die Waffen nachzuladen“. Die Stimmung ist besonders gedrückt, weil den Ukrainern mit den USA der größte Verbündete verloren gegangen ist.
Veränderte Vorzeichen

Unter den Rednern ist auch der LSAP-Europaabgeordnete Marc Angel, der für das EU-Parlament spricht und seine Solidarität mit den Ukrainern ausdrückt. „Es kann keinen gerechten Frieden ohne die Ukraine geben“, betont Angel und weist darauf hin, dass in der Ukraine auch die Freiheit Europas auf dem Spiel stehe. Hochemotional wird es, als Tilly Metz, die für „déi gréng“ im Europaparlament ist, in ihrer an den US-Präsidenten gerichteten Ansprache sagt: „Sie machen ein Land nicht wieder große, indem Sie lügen und indem Sie Hass verbreiten. Das werden wir nicht zulassen.“ Tilly Metz erinnert an die vielen Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, die in den vergangenen drei Jahren ihr Leben lassen mussten. Als sie dies sagt, fließt manche Träne bei den Zuhörern, auch als eine Gruppe junger Menschen auftritt, die auf ihren weißen T-Shirts vorne die Namen jener ukrainischen Städte geschrieben haben, die bereits von den Angreifern zerstört wurden. Auf der Rückseite der T-Shirts steht „destroyed“. Auf einigen Schildern der Demonstranten sind die Zahlen der Opfer, Getöteten wie Verletzten, aber auch die der Kriegsverbrechen zu lesen.
„Die Ukraine wird niemals besiegt werden“, sagt Natalia Anoshyna in einer eindringlichen Rede. Die Botschafterin der Ukraine in Belgien und Luxemburg betont: „Egal, wie sehr sie versuchen werden, uns zum Schweigen zu bringen – wir werden reden. Egal, wie sehr sie versuchen werden, uns zu brechen – wir werden aufstehen. Egal, wie dunkel die Nacht sein wird – die Sonne wird wieder aufgehen. Glauben Sie weiter an die Ukraine.“ Ihre Solidarität brachten unter anderem auch Anne Calteux, Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Luxemburg, sowie Vertreter von Botschaften wie zum Beispiel Rafal Hykawy (Polen) zum Ausdruck. Besonders ergreifend war der Moment, als die ukrainische Nationalhymne erklang und die Demonstranten alle „Slawa Ucrajini“ (Ruhm der Ukraine) riefen.
Nicolas Zharov, der darauf hinweist, dass die ukrainische Bevölkerung weiter tagtäglich massiven russischen Angriffen ausgesetzt ist, hat die gegenwärtige Situation der veränderten weltpolitischen Lage auf den Punkt gebracht. Europa müsse an seine eigene Zukunft denken, ohne sich auf die Amerikaner zu verlassen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass das europäische Schicksal eng verbunden ist mit dem der Ukraine und da angekommen ist, wo man von einem Scheideweg spricht.
		    		
                    De Maart
                
                              








                          
                          
                          
                          
                          
                          
                          
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