Italien: Wie konnte es so weit kommen?

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Italien spielt mit dem Feuer: Die Regierungskoalition der rechtsextremen Lega und der populistischen M5S verunsichert die europäischen Partner. Ihr neuer No-Name-Ministerpräsident Giuseppe Conte steht vor einer kaum lösbaren Aufgabe. Droht die nächste Krise? Der italienische Wirtschaftsjournalist Dario Cirrincione warnt vor Hysterie. Ein Interview von Dhiraj Sabharwal.

Tageblatt: Wie erklären Sie sich den Aufstieg der rechtsextremen Lega und der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung (M5S)?
Dario Cirrincione: So viel vorweg: Lega ist nicht rechtsextrem. Wir haben in Italien Parteien, die noch weiter rechts stehen. Schauen Sie sich die Wahlbeteiligung an, das beantwortet sehr viele Fragen. 2008 lag sie bei 80,5 Prozent, 2013 bei 75,19 Prozent und bei den letzten Wahlen bei 72,93 Prozent. Die ständige Abnahme signalisiert politische Unzufriedenheit mit den klassischen Parteien.

Unzufriedenheit ist das Geschäftsmodell von Lega und M5S.
Ja, Sie müssen nur auf ihre Wahlprogramme blicken. Der attraktivste Punkt der Mitte-rechts-Koalition war eine „Flat Tax“. Der Plan sah die Einführung einer Einheitssteuer von 15 Prozent für Unternehmen und zwei Steuersätze von jeweils 15 und 20 Prozent für Individuen vor. Die Mitte-rechts-Koalition hat deswegen in allen nördlichen Regionen gewonnen. Sie sind historisch reich und mit dem Handel verbunden.

Auch M5S versuchte mit Wirtschaftsfragen zu punkten.
Ja, ihr wichtigster Punkt war das garantierte Grundeinkommen pro Monat. Sie hat mit diesem Versprechen in allen Südregionen gewonnen – jene Regionen mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Italien.

Der frühere Premier Silvio Berlusconi darf nach einer fast fünf Jahre langen Ämtersperre wieder für Wahlen kandidieren. Ein Gericht in Mailand hob das 2013 verhängte Verbot vor Kurzem auf. Hat dies zu mehr Kompromissbereitschaft der neuen Koalitionspartner beigetragen?
Nicht wirklich. Als das Gericht in Mailand das Verbot aufhob, hatten die beiden Koalitionäre bereits damit begonnen, einen Regierungsdeal auszuhandeln. Matteo Salvini (Lega) kommentierte die News: „Das sind gute Nachrichten für ihn, ich bin sehr froh. Das sind gute Nachrichten für die Demokratie.“ Eine rechte Zeitung schrieb: „Lasst uns mit den Verhandlungen weitermachen.“
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Nachricht auf dem Verhandlungstisch gelandet ist. Ich glaube aber nicht, dass sie eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, dass Lega und M5S den Deal unterzeichnet haben.

Die Immigration nach Italien über das Mittelmeer war ein weiterer wichtiger Faktor.
Immigration war eines der Schlüsselwörter der letzten Wahl und bleibt eines der wichtigsten Themen. Immigration hat die Wähler sicherlich beeinflusst. Sie war während des Wahlkampfs einer der gemeinsamen Punkte der Wahlprogramme von Lega und M5S. Im beschlossenen Deal wird auf drei Seiten von Immigration gesprochen und kritisiert, dass „das gescheiterte Management des Migrantenstroms das Schengenregime in die Krise gestürzt hat“.

Ist „Refugees welcome“ immer noch eine Realität in Italien?
Ich glaube das absolut. Italien ist länger als jeder andere EU-Staat das Ziel von massiven Zuströmen der „Boat People“. Die Italiener haben aber in all diesen Jahren ihre Solidarität gezeigt.

Fühlen sich die Italiener von der EU im Stich gelassen?
Das hängt davon ab, in welchem Teil von Italien Sie diese Frage stellen. Ich glaube, dass die Italiener generell nicht das Gefühl haben, während der Flüchtlingskrise von der EU im Stich gelassen worden zu sein. Aber sie sind sich voll und ganz bewusst, dass Flüchtlinge und Migration nicht nur ein Problem der Italiener sein können. Die EU hat uns teilweise geholfen. Allerdings sind sich Lega und M5S darin einig, dass das Dublin-Regime überwunden werden muss.

Kann sich Italien noch lange quasi im Alleingang um die Menschen kümmern, die über das Mittelmeer fliehen?
Ganz ehrlich: Das hängt nicht nur von den Kapazitäten Italiens, sondern vielmehr von den Regierungen und Ländern ab, die ihre Menschen zur Flucht treiben. Alles hat seinen Kontext.

Dennoch fürchten sich die europäischen Partner vor allem vor einer neuen Eurokrise. Ist die Angst berechtigt?
Ich glaube nicht, dass sie gerechtfertigt ist. Diese Phase der Geschichte ist vor allem von viel größeren internationalen Krisen bestimmt. Denken Sie nur an die Situation in Korea oder an den Handelsstreit mit Trump.

Dennoch steht die italienische Wirtschaft auf leicht wackeligen Beinen.
Ja, man sollte aber Folgendes nicht totschweigen: Italiens Wirtschaft wächst. Unser Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigt und wir befinden uns in einer besseren Situation im Gegensatz zu den Prognosen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) veröffentlichte. Zum Glück haben viele junge Menschen in den letzten Jahren einen Job gefunden.

Italien kämpft aber vor allem mit Arbeitslosigkeit von jüngeren Menschen.
Das stimmt. Leider ist ein Drittel der Italiener zwischen 25 und 29 arbeitslos. Unsere Schwäche ist eindeutig die Staatsschuld, die durch die Decke gegangen ist. Die Banken haben zudem faule Kredite verliehen.

Wie steht es genau um die nationale Schuld?
Die gesamtstaatliche Nettoverschuldung liegt über 120 Prozent des BIP. Wir sind bei einem Schuldenstand von insgesamt 2,3 Milliarden Euro. Das sind 132 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Es ist, abgesehen von Griechenland, die höchste Rate in ganz Europa. Die EU-Kommission hat Anfang Mai prognostiziert, dass die Staatsverschuldung 2018 bei 130,7 Prozent des BIP und 2019 bei 129,7 Prozent liegen wird, wenn Italien seine Reformen vorantreibt. Das hängt jetzt alles von der neuen Regierung ab.

Befürchten Sie für Italien ein ähnliches Schicksal wie für Griechenland?
Nein, wir befinden uns in einer anderen Situation. Die höchste Verschuldung zu haben, heißt nicht, das gleiche Schicksal teilen zu müssen. Unsere Wirtschaft und unsere Ausgangslage sind anders.

Will die neue Regierung die EU oder die Eurozone verlassen? Halten Sie den „Italexit“ für möglich?
Der „Italexit“ schwebt im Raum. Aber ich glaube nicht daran. Lega und M5S haben in dem Deal geschrieben, dass sie die EU dazu auffordern werden, das System der Marktwirtschaftsregeln zu überprüfen. Sie fordern mehr Schutz des „Made in Italy“ und wollen ausgeglichenes und nachhaltiges Wirtschaften sowie sozialen Fortschritt vorantreiben.

Das klingt ja alles ganz nett. Aber wieso sorgt sich niemand um die rechten Töne von Lega?
In Italien ist uns eine mögliche Eurokrise egal, die mit unseren letzten Wahlen zusammenhängt. Die Lega-M5S-Regierung könnte zur Geburt der Dritten Italienischen Republik führen. Die Menschen warten jetzt darauf, ob das möglich ist.

Präsident Sergio Mattarella scheint das wesentlich skeptischer zu sehen. Er wollte den neu designierten, parteilosen Premier Giuseppe Conte am Dienstag zunächst nicht im Amt bestätigen.
Das stimmt. Präsident Mattarella hatte um Zeit gebeten, bevor er eine Entscheidung traf. Luigi Di Maio (M5S) hat Giuseppe Conte vorgeschlagen. Er ist ein Juraprofessor. Viele Italiener fragen sich: „Wer ist Giuseppe Conte?“ Bislang weiß man vor allem, dass er ein 54-Jähriger aus der Region von Puglia im Südosten Italiens ist.

Wird Conte zwischen Lega und M5S aufgerieben?
Contes Name fiel zum ersten Mal vor den letzten Wahlen. Damals sagte der Anführer der M5S-Bewegung, Luigi Di Maio, Conte würde als Minister für die öffentliche Verwaltung nominiert. Wenn Salvini Conte akzeptiert, könnte es ihm gelingen, mit beiden Parteien klarzukommen. Einfach wird es nicht.


Zur Person

Der Italiener Dario Cirrincione arbeitet als professioneller Journalist für den internationalen Fernsehsender Sky TG24, den italienischen Ableger von Sky. Er ist zurzeit „Editorial Coordinator onair and online“. Cirrincione hat zuvor in mehreren Zeitungen, lokalen TV-Sendern und auch für die italienische Nachrichtenagentur ANSA gearbeitet. Cirrincione hat sich auf Wirtschaftsfragen spezialisiert.

luc jung
24. Mai 2018 - 7.51

Et as ganz einfach. Europa ennert deser Form dart neischt. Och d'Italiener schengen es vun Europa emmer mei saat ze kreien.

Pit Senninger
23. Mai 2018 - 22.11

Majo ganz einfach dat as eng Geigenreaktioun zur Breisseler Politik vun emmer mei, an mei seierer, Integratioun an zur Migratiounskrise.