„Wir befinden uns insgesamt in einem Wachstumszyklus“, unterstreicht Samy Chaar auf die Tageblatt-Frage, warum Europa hinter seine Wettbewerber zurückfalle. Doch eigentlich sei die Lage weniger schlimm als von vielen dargestellt.
Es gebe jedoch einen Unterschied, meint er, und nimmt zur Erklärung eine Analogie zur Hand: „Die USA fahren mit 150 km/h (2,5 Prozent Wachstum), die Europäische Union nur mit 90 km/h (ein Prozent Wachstum).“ Damit entstehe in Europa der negative Eindruck des Zurückfallens. „Dabei wächst auch Europa. Deutschland entwickelt sich nicht so gut, aber Spanien boomt. Frankreich liegt zwischen beiden.“ Der aktuelle Wachstumszyklus werde jedoch von den USA dominiert.
„Europa ist nicht in einer Rezession“, hebt Chaar weiter hervor. „Es ist keine Katastrophe, der Arbeitsmarkt ist in einer guten Verfassung. Bloß alles glanzlos. Die Europäer beobachten seit Jahren, dass die USA mit 150 km/h vorpreschen. Die spielen in einer anderen Liga. Wir bewegen uns in der zweiten Reihe. Jahr für Jahr. Das ist frustrierend.“

Nun gelte es zu verstehen, warum die Entwicklung in Europa – verglichen mit der in den USA – so schwach ausfällt, sagt Chaar. Ihm zufolge gibt es zwei große Ursachen. Als ersten Grund nennt er, dass der aktuelle Wachstumszyklus auf steigendem Konsum beruht. „Die Arbeitsmärkte sind gesund. Die Menschen verdienen Geld und in den USA geben sie ihre Löhne aus.“ In Europa hingegen „sparen wir einen großen Teil des Lohnzuwachses. Die Europäer, deren Wirtschaft stark bei Exporten, Handel und Produktion ist, fühlen sich unsicher, was die Zukunft angeht. Die Amerikaner hingegen fühlen sich sehr zuversichtlich und steigern den Verbrauch.“
Der zweite Grund sei die geopolitische Lage, erklärt Chaar weiter. „Es ist ziemlich klar, was passiert: Die Welt verändert sich, von der Globalisierung hin zu mehr Zersplitterung. (…) Eine Block-Logik. Ein chinesischer Block, ein US-Block, ein europäischer, einer von unabhängigen Ländern. (…) Die Zeiten, wo China versucht hat, Mitglied einer Welthandelsorganisation zu werden, sind vorbei.“
Heute versuche jeder, Abhängigkeiten in Bereichen wie Verteidigung, Energie oder Technologie zu verringern, Lieferketten abzusichern, so Chaar. Die Voraussetzung dafür sei jedoch, dass viel Geld investiert werden muss. „Den Europäern fällt das alles schwer, etwa der Verzicht auf russisches Gas.“

In den USA derweil sei das grundlegend anders. „Ihnen fällt es deutlich einfacher, sich an die sich verändernde Welt anzupassen.“ So möge Fracking zwar eine Katastrophe für die Umwelt sein, „aber gleichzeitig auch ein sehr effizienter Weg in die Energie-Unabhängigkeit“.
„So preschen die Amerikaner mit 150 km/h auf der Autobahn voran, investieren das große Geld, während in Europa nur sehr wenig passiert“, unterstreicht Chaar. Die Europäer derweil „hoffen, dass die Welt wieder zu den alten Gewohnheiten von Globalisierung und gegenseitigen Abhängigkeiten zurückkehren wird“.
„Die EU ist bei allem sehr abhängig“
Während in den USA in die Unabhängigkeit investiert wird, wird in Europa debattiert, ob man künftig wieder russisches Gas kaufen soll, sagt Chaar weiter. „Es ist, als ob die Geschichte nicht verstanden worden wäre. Europa soll versuchen, unabhängig zu werden. (…) Abhängig zu sein, ist eine schlechte Idee. Und die EU ist bei allem sehr abhängig.“
Diese Diagnose der Lage der europäischen Wirtschaft sei dabei unumstritten. „Die Problematik wird verstanden. Die Lösung eigentlich auch. Die USA kopieren: Wir müssen in Infrastruktur, Energie, Technologie, Digitalisierung, Verteidigung usw. investieren.“ Die verschiedenen Papiere, Analysen und Pläne der EU-Kommission, wie auch die letzte Woche vorgestellte neue Strategie „ergeben alle sehr viel Sinn“.
Ob sich mit der Erkenntnis in Europa aber etwas tun wird, müsse man erst noch sehen. Dafür müsse man nämlich sehr viel Geld investieren. „Aber ich sehe nicht wirklich viele Möglichkeiten, woher die langfristigen Finanzierungen kommen sollen.“
Eine Option, die er sich vorstellen könnte, wäre eine neue Struktur, wie der hunderte Millionen Euro schwere Corona-Wiederaufbaufonds, der strategische Investitionen unterstützt. Um die gewünschte Wirkung zu haben, müsste das Volumen jedoch verdoppelt oder sogar verdreifacht werden.
Vor allem in Deutschland muss investiert werden
Der Corona-Fonds „ist eine sehr gut gebaute Struktur, eine sehr gut aufgebaute Lösung in Bezug darauf, wie man das Geld bekommt, wie man es finanziert und auch wofür man es verwendet“, so Samy Chaar. Länder wie Spanien und Italien hätten die europäischen Gelder gut und produktiv genutzt. Nur müsse man noch das Geldvolumen erhöhen und sehen, dass auch in Deutschland investiert wird. „Vor allem Deutschland muss sein Geschäftsmodell erneuern und in Kapazitäten und Infrastruktur investieren.“ Verglichen mit den USA sei die Investitionslücke gewaltig. In der Folge wachsen dann die Innovationslücke und der Wachstumsunterschied.
Doch an konkreten Finanzierungen und Investitionen fehlt es trotz aller Erkenntnisse immer noch, bedauert er. „Und es sieht schwierig aus.“ Die politische Situation in Deutschland, Frankreich und Österreich sei nicht hilfreich. „Es wird schwierig werden, ehrgeizig zu sein.“
Schulden sind nur schlecht, wenn man das Geld schlecht einsetzt
Zur Finanzierung der Investitionen plädiert Samy Chaar für mehr Schulden. Vor 15 Jahren hätten sowohl die USA als auch die EU eine Verschuldungsquote von rund 80 Prozent des BIP gehabt. Heute derweil steht Europa bei 85 Prozent und die USA bei 125 Prozent.

„Aber schauen Sie sich die Geschwindigkeit der Wirtschaft an. Die USA mit 150 km/h auf der Autobahn Deutschland, vielleicht mit 50 km/h. (…) Das Problem ist, dass wir diese negative Einstellung zu Schulden haben. Wir denken, dass sie schlecht sind. Das ist aber ein Missverständnis. Schulden sind nur schlecht, wenn man das Geld schlecht einsetzt.“ Zum Tätigen produktiver Investitionen seien Schulden gut, hebt Chaar hervor. „Wir müssen heute investieren, um uns anzupassen.“
Von Deutschland sei nun nicht Geld gefordert, das in anderen Ländern investiert werden soll, so Samy Chaar. „Es muss in Deutschland investiert werden. Es gibt Fachwissen, Technologie, viel Bedarf und mehr als genug Spareinlagen. Worauf warten sie?“ Deutschland benehme sich wie ein „kranker Patient, der keine Medizin nehmen will, da sie schlecht sei“, sagt Chaar.
Die Welt hat sich verändert – nicht zum guten
Die Welt habe in den letzten Jahren eine 180-Grad-Wende vollzogen, sagt der Volkswirt weiter. Vor 30 Jahren gab es offene Märkte, billige Energie aus Russland, günstige Waren aus China und jeder versuchte das herzustellen, was er am besten konnte. „Doch das war früher. Heute schützt jeder seinen Markt.“ Egal ob China oder die USA, „niemand will niemanden mehr reinlassen. Europa kann dann nicht der Einzige sein, der weiterhin an den freien Handel glaubt. Auch wir müssen unseren Binnenmarkt verteidigen.“ Mal mit Abschottung, mal mit staatlichen Fördergeldern.
„Ich mag das auch nicht, aber die anderen machen es auch. Wir müssen realistisch sein.“ In den USA habe man bereits reagiert, hebt Chaar weiter hervor. In der Folge sei dort die Herstellung von Solarplatten wieder rentabel geworden. In der EU nicht. „Die Spielregeln in der Welt haben sich verändert.“
Als Auslöser, der zu dem Wandel in der Welt geführt hat, sieht Samy Chaar die Finanzkrise von 2008. Diese habe das positive Momentum der Globalisierung gebrochen. Auch die stetig gewachsenen Ungleichheiten haben wohl eine Rolle gespielt, glaubt er. „Auch wenn jeder reicher geworden ist, so fühlten die Armen sich doch ärmer, da die Reichen noch schneller reich wurden.“ Die Menschen wollten Veränderung.
Ich mag das auch nicht, aber die anderen machen es auch. Wir müssen realistisch sein.
Ob die neue Welt eine bessere wird, bezweifelt er. „Die Globalisierung hat die Armut in der Welt gesenkt und den Wohlstand erhöht.“ Künftig könnte die Welt demnach ärmer werden. „Jetzt heißt es: jeder für sich.“
Den neuen US-Präsidenten Donald Trump sieht er nicht als „Spielveränderer“. Er werde eher wie eine Verschärfung zu einer weiteren Fragmentierung der Weltwirtschaft beitragen, indem er versuche, US-Abhängigkeiten zu verringern. „Damit wird das, was bereits vorhanden ist, tendenziell verschlimmert.“
Trotz aller bisherigen Untätigkeit bleibt Samy Chaar optimistisch für Europa. Der Kontinent sei zwar „spät im Spiel“, aber „wenn es ums Überleben geht“, werde man sich schon zusammenreißen und das Richtige tun. „Wir können wettbewerbsfähiger werden. Wir können investieren, um billigere Energie zu bekommen, wir können die Regulierung optimieren, Anreize zu schaffen.“ Europa habe das notwendige Kapital und das Wissen. Jetzt brauche es noch die Vision und den Willen. „Ich glaube nicht, dass das so schwierig ist. Besser spät als nie.“
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