Tageblatt-ReportageDie namenlosen Gräber von Van: Von der gefährlichen Reise vieler Afghanen in die Türkei

Tageblatt-Reportage / Die namenlosen Gräber von Van: Von der gefährlichen Reise vieler Afghanen in die Türkei
Gräber ohne Namen in Van: Auf einigen steht nur „Baby, allein“ Foto: AFP/Ozan Kose

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Im Osten der Türkei entstehen neue Gräber. Die meisten Grabsteine tragen keinen Namen. Es sind letzte Zeugnisse der Angst vieler Afghanen vor den Taliban. Einer Angst, die sie aus ihrem Land getrieben hat. Reporterin Liz Cookman ist für das Tageblatt in die Region gereist.

Zwischen langem, trockenem Gras und Disteln, am äußersten Ende eines Friedhofs am Rande der osttürkischen Stadt Van, liegt ein besonderer Ort. Er beherbergt die Gräber nicht identifizierter Migranten. Es ist, fernab ihrer kriegszerrissenen Heimat, die letzte Ruhestätte vieler Afghanen.

Zumindest vermutet man, dass die meisten von ihnen Afghanen sind. Nachdem sie Hunderte von Kilometern auf tückischen Wegen über Berge und durch Wüsten zurückgelegt haben, um so weit zu kommen, liegen ihre Leichen jetzt hier begraben – ohne auch nur einen Namen zu tragen, der an sie erinnert.

Die Rückkehr der Taliban in Afghanistan, fast 20 Jahre nach der US-Invasion, die sie einst vertrieben hatte, hat Befürchtungen über einen massiven Zustrom von Flüchtlingen über die Türkei nach Europa ausgelöst, ähnlich wie während der Migrationskrise von 2015.

Traurige Zeugen tragischer Schicksale

Tausende wurden bereits durch das unerwartete Wiedererstarken der radikalen Islamisten vertrieben, nachdem die USA angekündigt hatten, ihren Truppenabzug bis Ende des Monats abschließen zu wollen. Es wird erwartet, dass viele in den kommenden Monaten aus Angst um ihr Leben und vor einer Rückkehr der repressiven neuen Herrscher Afghanistans aus dem Land fliehen werden.

Zwischen 500 und 2.000 Afghanen sind Schätzungen zufolge täglich über die Ostgrenze zum Iran in die Türkei eingereist, bis die Polizei im letzten Monat die Zügel anzog und immer mehr Menschen festnahm. Die Entwicklungen der vergangenen Woche lassen befürchten, dass diese Zahl weiter ansteigen wird. Zwei in Van im Osten der Türkei ansässige Schmuggler sagten dem Tageblatt, dass sie seit der Ankündigung des US-Rückzugs durch Präsident Joe Biden im April „zehnmal“ mehr Geschäfte gemacht hätten als sonst.

Die Türkei, die von Migranten und Flüchtlingen als Tor nach Europa angesehen wird, beherbergt bereits jetzt mit rund vier Millionen Menschen mehr Flüchtlinge als jedes andere Land. Für Afghanen kann die beschwerliche und gefährliche Reise dorthin – durch den Iran oder den Irak und Pakistan, oft zu Fuß – länger als einen Monat dauern, und wenn sie erst einmal angekommen sind, kommen viele bei Unfällen auf den kurvigen Gebirgsstraßen ums Leben oder erfrieren in den Bergen. Die namenlosen Gräber im Osten der Türkei sind traurige Zeugen dieser tragischen Einzelschicksale.

Da es nur wenige Dokumente gibt, anhand derer sie identifiziert werden können, steht auf ihren Grabsteinen nur eine Nummer. Oder das Datum, an dem ihre Leiche gefunden wurde. Oder der Ort, an dem sie getötet wurden. Oder manchmal, am schlimmsten: „Baby, allein“.

Vergangenes Jahr kamen in der Region an einem einzigen Tag 61 meist afghanische Migranten ums Leben. Beim Versuch, den Van-See zu überqueren, um der Festnahme durch die türkische Polizei zu entgehen, sank ihr Boot.

Warten auf den Schlepper: ein Afghane in Tatvan nahe dem Westufer des Van-Sees
Warten auf den Schlepper: ein Afghane in Tatvan nahe dem Westufer des Van-Sees Foto: AFP/Ozan Kose

Mahmut Kacan, ein Anwalt, der die Familien der Toten vertritt, sagt, dass nur wenige Menschen für diese Art von Unfällen zur Rechenschaft gezogen werden. „Wer als Schlepper erwischt wird, sitzt vielleicht nicht einmal einen Tag im Gefängnis – aber wenn man die Regierung in den sozialen Medien kritisiert, kann es sein, dass sie zur Hausdurchsuchung ausrücken“, sagt Kacan.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks hielten sich im Jahr 2018 rund 170.000 Afghanen ohne Papiere in der Türkei auf. Es wird angenommen, dass die Zahl deutlich gestiegen ist, aber offizielle Daten wurden nicht veröffentlicht, da das UNHCR die Verantwortung für die Registrierung und Bearbeitung von nicht-syrischen Asylbewerbern im selben Jahr vollständig an die Türkei übertragen hat.

In Gesprächen mit Dutzenden von Migranten in Van, wo die Menschen aus dem Osten in die Türkei kommen, sowie in Istanbul erzählen die meisten von ihrer Hoffnung, sich irgendwie nach Europa durchzuschlagen, ob legal oder illegal. Das Leben in der Türkei kann hart sein. Armut, Inflation und Arbeitslosigkeit schießen in die Höhe, und die Lira erreicht im Vergleich zum Dollar weiterhin immer neue Rekordtiefs.

In Istanbul, wegen der besseren Aussichten auf einen Job ein beliebtes Ziel für Migranten, sagten Afghanen, die zwischen einigen Tagen und fünf Jahren im Land waren, dass sie trotz ihrer Aufforderung an Freunde und Familie zu Hause, nicht zu kommen, damit rechneten, dass sich in den kommenden Monaten noch viele auf die gefährliche Reise machen würden.

„Für uns Afghanen gibt es hier kein Leben“, sagte der 27-jährige Badaat, der als Dolmetscher für die US-amerikanischen Streitkräfte und jene der Koalition auf einem Militärstützpunkt in Kandahar gearbeitet hatte, bevor er nach Drohungen der Taliban in die Türkei floh. „Aber wir könnten unser Leben verlieren, wenn wir zu Hause bleiben.“

Zwar dürfen diejenigen, die mit den westlichen Streitkräften zusammengearbeitet haben, darauf hoffen, einen Platz auf einem der begrenzten Evakuierungsflüge aus Afghanistan zu ergattern. Doch die Möglichkeit, sich auf legalem Wege im Ausland in Sicherheit zu bringen, besteht für die große Mehrheit einfach nicht, und zudem bleibt unklar, wo die Migranten einen sicheren Zufluchtsort finden können.

Die Krise hat die Meinungsverschiedenheiten über die Migration in Europa wieder aufbrechen lassen, wobei einige führende Politiker wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron oder Österreichs Kanzler Sebastian Kurz den Schutz der eigenen und der europäischen Außengrenzen fordern – trotz verzweifelter Szenen von Menschen, die sich an vom Kabuler Flughafen startende Flugzeuge klammern und teilweise von ihnen herunter in den Tod stürzen.

Sie haben seit 2015 beträchtliche Anstrengungen unternommen – und Geld investiert –, um die irregulären Routen einzuschränken, während Afghanistans Nachbarn davor zurückschrecken, noch mehr Menschen aufzunehmen. Pakistan und Iran beherbergen bereits jetzt nahezu 90 Prozent der fast 2,5 Millionen registrierten afghanischen Flüchtlinge sowie Hunderttausende weitere, die nicht von den Behörden erfasst sind. Beide Länder haben in den letzten Jahren Hunderttausende von Menschen zur Rückkehr nach Afghanistan gedrängt, und Pakistan hat erklärt, dass es keine weiteren afghanischen Flüchtlinge aufnehmen wird.

Ein friedliches Leben als einziges Ziel

Die Besorgnis über den Anstieg der afghanischen Migranten hat die Türkei veranlasst, in Van mit dem Bau einer neuen Grenzmauer zu beginnen. Und Griechenland hat in den letzten Tagen einen 40 Kilometer langen Zaun und ein Überwachungssystem an seiner Grenze zur Türkei errichtet. Dennoch hat Ankara die europäischen Länder aufgefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen.

234 Kilometer lang soll sie werden: Die Türkei baut eine neue Grenzmauer zum Iran 
234 Kilometer lang soll sie werden: Die Türkei baut eine neue Grenzmauer zum Iran  Foto: AFP/Ozan Kose

Am vergangenen Donnerstag erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, die Türkei habe „weder die Pflicht noch die Verantwortung oder die Verpflichtung, Europas Flüchtlingslager zu sein“.

Doch für die Migranten selbst macht das politische Gezänk kaum einen Unterschied. Onkel und Neffe Shahidullah und Murtiza, beide 26 Jahre alt und aus Kabul, hatten die Grenze zwei Tage vor dem Gespräch mit dem Tageblatt überquert und sagten, dass sie vorhätten, vielleicht sechs Monate in der Türkei zu bleiben oder bis sie genug Geld gespart hätten, um nach Europa weiterzureisen.

„Wenn Afghanistan friedlich wäre, würde niemand gehen. Diese Reise ist schrecklich und ermüdend“, sagte Murtiza, dessen Lippen von der Dehydrierung aufgesprungen und dessen Haut vom Laufen unter der heißen Sonne gerötet war.

„Mein Ziel ist es, ein friedliches Leben zu führen und dass das Töten in Afghanistan aufhört, damit ich zurückkehren kann.“

(Aus dem Englischen übersetzt von Armand Back)

Stiwi
24. August 2021 - 19.17

Wo geht die Reise hin? 7,9 Milliarden Menschen hat die Welt (verrückt) 40% der Afrikaner denken ans Auswanderen …..Dann gute Nacht Europa