DeutschlandDie Grünen im Wahlkampf-Endspurt

Deutschland / Die Grünen im Wahlkampf-Endspurt
Annalena Baerbock und Robert Habeck dürften das Kanzleramt für die Grünen bereits abgeschrieben haben Foto: dpa/Kay Nietfeld

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Eine Woche vor der Bundestagswahl sind die Grünen bei ihrem Wahlparteitag gegen den Abwärtstrend noch mal in die Offensive gegangen. Annalena Baerbock und Robert Habeck werben für eine Klimaregierung.

Der Ort passt. Ein ehemaliges Werk für Transformatoren- und Hochspannungsanlagen. Transformation, der Umbau des Landes hin zur Klimaneutralität, ist erklärtes Ziel der Grünen, sollten sie in einer nächsten Bundesregierung beteiligt sein. Damit sind sie an dem einstigen Industriestandort in Berlin-Oberschöneweide, der heute eine Eventlocation ist, richtig. Und unter Hochspannung stehen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und Spitzenkandidat Robert Habeck in diesen letzten Wahlkampftagen sowieso. Erst recht, da die Grünen nach anfangs glänzenden Umfragewerten von 25 Prozent inzwischen bei 15 Prozent angekommen sind. Sie ahnen: Das ursprüngliche Ziel Kanzleramt ist damit außer Reichweite.

Doch der politische Bundesgeschäftsführer, Michael Kellner, will von Platz drei nichts wissen. Nicht eine Woche vor der Wahl. „Möglichst starke Grüne“ in einer Bundesregierung, „am liebsten angeführt von Annalena Baerbock“, dies sei weiter erklärtes Ziel. Kellner zählt am Sonntagvormittag runter. In weniger als 175 Stunden würden die Wahllokale in Deutschland schließen. „Alles ist drin.“ Die Teilnehmer dieses Wahlparteitages und die rund 120.000 Grünen-Mitglieder draußen im Land mögen nur daran glauben. Kellner dankt Tausenden Wahlkampfhelfern für „Nachtschichten beim Plakatieren“ und „Frühschichten an Bahnhöfen“. Habeck wird später sagen, „klar, wir haben noch eine Woche, wir sind auf der Zielgeraden“. Die Partei „ganz famos und geschlossen“, lobt der Vorsitzende.

Viele fragten: Was kostet Klimaschutz? Das ist doch gar nicht die Frage. Die Frage ist: Was kostet kein Klimaschutz?

Robert Habeck, Vorsitzender der Grünen

Und so ziehen Baerbock und Habeck – begleitet vom Applaus der 100 Delegierten dieses kleinen Parteitages – Seite an Seite mit den Spitzenkandidatinnen der Landtagswahlen kommenden Sonntag in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, Bettina Jarasch und Anne Shepley, in die Reinbeckhallen ein. Den bislang ersten und einzigen Ministerpräsidenten mit Grünen-Parteibuch, Winfried Kretschmann, haben sie als sichtbares Zeichen grüner Regierungsfähigkeit auch gleich mitgebracht. „Ohne Rahmen, ohne Regeln“ gehe es nicht. Überhaupt die Warnung vor der „grünen Gefahr“: alles „riesengroßer Stuss“. In Baden-Württemberg habe er „die Solarpflicht eingeführt“. Paneele für Sonnenenergie also auf jedes neue Dach. „Die Zukunft amortisiert sich. Sie ist rentabel“, betont Kretschmann. Und so wollen es die Grünen auch im Bund. Habeck sagt dazu: „Viele fragten: Was kostet Klimaschutz? Das ist doch gar nicht die Frage. Die Frage ist: Was kostet kein Klimaschutz?“

Robert Habeck lobt Kanzlerin Angela Merkel

Immer wieder fällt später in den Reden das eine Wort, das ein Wunsch ist: „starke Grüne“. Zum Wahlkampf gehört die Kunst der Autosuggestion, man muss auch an sich selbst glauben, egal, was die Umfragen sagen. Und so erzählt Europa-Politiker Sven Giegold die schöne Geschichte, wie Baerbock nach der Bundestagswahl in einer „Koalition mit starken Grünen“ nach Paris zum dortigen Präsidenten Emmanuel Macron fährt, um eine deutsch-französische Achse für Klimaschutz neu anzutreiben. Die Grünen wollen vieles „neu machen“, wenn sie denn regieren, im Bund oder auch im Land Berlin. Bürgermeisterkandidatin Jarasch würde das Rote Rathaus ab Herbst am liebsten grün streichen.

Die Grünen werben in ihrem Leitantrag dieses Parteitages für eine „Klimaregierung“, die einen schnelleren Kohleausstieg bis 2030, eine Ausbauoffensive für die erneuerbaren Energien, den Ausstieg aus dem fossilen Verbrennungsmotor und eine stärkere Bepreisung von CO2 zum Ziel hat. Wenn jetzt Armin Laschet und Olaf Scholz in diesem Wahlkampf den Klimaschutz entdeckt hätten, dann sei ihm dies einfach „zu riskant“, ruft Bundestagsfraktionschef Anton Hofreiter in den Saal. Laschet und Scholz hätten „16 Jahre beziehungsweise zwölf Jahre nichts gemacht“. Jetzt plötzlich seien sie Klimaschützer. Einfach „zu gefährlich“ fürs Klima, findet Hofreiter. Habeck lobt später Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihre „hohe Integrität“ und auch dafür, „dass sie das Land letztlich stabil gehalten hat“. Es geht auch um ihre Wählerinnen und Wähler.

Baerbock wähnt sich vor dem Gipfel

Also weiter in diesem Wahlkampf. Baerbock steht auf der Bühne. „Kreuz und quer“ reise sie seit Wochen durch die Republik. Die Kanzlerkandidatin sagt, sie spüre auf den Marktplätzen: „Es ist so viel drin.“ Jeder Dritte sei noch unentschieden. Man könne aus dieser Stimmung des Aufbruchs ein neues Kapitel aufschlagen und daraus deutlich mehr Stimmen machen. „Menschen wollen nicht, dass Politik alles für sie regelt.“ Aber wenn nicht alle Weichen für Klimaschutz gestellt würden, „dann landen wir in einer 2,7-Grad-Welt“, deutlich entfernt vom 1,5-Grad-Ziel zur Eindämmung der Erderwärmung.

Baerbock ist dann bei der Außenpolitik, auch ein Amt, das ihr Spaß machen würde. Beim „Systemrivalen“ China und auch bei jenen Frauen in Afghanistan, die über die Berge von Hindukusch und Himalaya versuchten, aus dem Land zu fliehen. Baerbock hat auch ihren ganz persönlichen Mount Everest: ihre Kandidatur für das höchste Regierungsamt. Nach eigener Wahrnehmung („Die letzten Meter liegen vor uns“) ist sie jetzt knapp unterhalb des Gipfels, dort also, wo der einstige Oberrealo Joschka Fischer schon so manches Talent „im Eis festfrieren“ sah. Baerbock ruft zum Wahlkampf „Tag und Nacht“ auf. „Geschlafen werden kann dann nach der Wahl.“ Wenn es sein muss am Gipfelkreuz.