Dienstag21. Oktober 2025

Demaart De Maart

EditorialDie Grenzregion verliert – und drei weitere Erkenntnisse aus dem deutschen Wahlkampf

Editorial / Die Grenzregion verliert – und drei weitere Erkenntnisse aus dem deutschen Wahlkampf
Winterwahlkampf mit rauen Tönen: Wahlplakate in Dortmund Foto: AFP

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

Liebe Leserin, lieber Leser, ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass es an dieser Stelle heute (fast) ausschließlich um Deutschland gehen wird. Da drüben, rechts der Mosel, ist ja gerade Wahlkampf. Und ich war eine Woche lang (fast) ausschließlich in der Grenzregion, genauer: im Saarland, unterwegs, um Material für unsere Reportage-Reihe zu sammeln, deren zweiten und dritten Teil Sie heute und morgen in der Zeitung lesen können. Diese vielen Termine von Perl über Merzig und Saarlouis bis nach Saarbrücken und St. Ingbert haben mich vier Lektionen aus dem deutschen Wahlkampf gelehrt, die ich gerne mit Ihnen teilen möchte. Auch, weil sie meiner Meinung nach viel über den Zustand unserer europäischen Demokratien im Allgemeinen aussagen. Sie ahnen es schon, es wird ein bisschen deprimierend. Aber ich verspreche Ihnen auch einen Hoffnungsschimmer.

Beginnen wir mit Erkenntnis Nummer eins: Die Anfeindungen nehmen zu – über das gesamte Parteienspektrum hinweg. Egal, mit wem ich mich in dieser Woche an bitterkalten Wahlkampfständen unterhalten habe, das Urteil fiel immer gleich aus: Der Ton ist rauer geworden. Nicht nur bei Migrationsdebatten im Bundestag, sondern auch auf der Straße. Den Wahlkämpfern und Wahlkämpferinnen schlägt die Politikverdrossenheit der Menschen entgegen. Und das nicht nur bei den Grünen, die am häufigsten Zielscheibe von Anfeindungen werden. Auch bei SPD und CDU spürt man den Gegenwind. Ob Ampelfrust oder Faschismus-Vorwürfe. Die Debattenkultur ist auch offline enthemmter geworden.

Das Stichwort Debatte führt uns zur zweiten Erkenntnis: Die inhaltliche Verschiebung des Wahlkampfschwerpunkts von Wirtschaft zu Migration ist auch ein Medienproblem. Ich hatte in dieser Woche ein wenig mit Dissonanzen zu kämpfen. In allen Zeitungen, Podcasts, TV-Talks und Polit-Duellen, die ich konsumiert habe, ging es um Migration, Migration, Migration. Auf der Straße spiegelte sich das nur bedingt wider. Bei seinem Wahlkampfauftritt in St. Ingbert sprach CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz eine Stunde lang über Wirtschafts- und Sozialpolitik, bevor er sich zehn Minuten dem Thema Migration widmete. Und das nur wenige Tage nach der historischen Abstimmung im Bundestag. Auch viele andere, Wähler wie Politiker, wollten lieber über Arbeit, Gesundheit und Deindustrialisierung sprechen als über Migration.

Zugegeben, Punkt zwei könnte ein Sonderfall des Saarlands sein, wo die meisten andere Sorgen haben als Asylbewerber. Daran schließt Erkenntnis Nummer drei an: Die Grenzregion verliert immer. Unter den demokratischen Parteien, mit denen ich in dieser Woche gesprochen habe, herrscht ein klarer Konsens: Stationäre Grenzkontrollen, so wie sie gerade in Schengen durchgeführt werden, will keiner. Die einen wollen sie ganz abschaffen (Grüne, Linke), die anderen wollen sie nur sporadisch oder ins Hinterland verlegt (SPD, CDU, BSW). Allein: Mit der neuen Bundesregierung wird sich nichts ändern. Der parteiübergreifende Grenzregionskonsens wirkt nicht bis nach Berlin. Die Bundesparteien sehen das anders.

Wenig gute Nachrichten für Europa und die Demokratie. Deshalb zum Schluss die versprochene Prise Hoffnung. Meine vierte und letzte Erkenntnis aus dieser Woche: „The Kids Are Alright“. Bei allem Polit-Pessimismus – besuchen Sie eine Veranstaltung mit Erstwählern und Sie sind sofort kuriert. Welch kluge, präzise, informierte, nachhakende und pfeilscharf formulierte Fragen die Gymnasiasten aus Merzig den Bundestagskandidaten während einer Wahl-o-mat-Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung gestellt haben, ist schlicht beeindruckend. Und das sei kein Einzelfall, sagte mir die Moderatorin nach der Veranstaltung. Es gibt sie, die zukünftigen Demokraten!