EuropawahlenDie EU-Wahlen im Wandel – aus luxemburgischer Sicht 

Europawahlen / Die EU-Wahlen im Wandel – aus luxemburgischer Sicht 
Sechs Europaabgeordnete stellt Luxemburg, von etwa 700. Hier das Straßburger Plenum 2014  mit dem damals neuen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Foto: Editpress-Archiv/Pierre Matgé

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Die zehnten Europawahlen stehen unter einem besonderen Stern. Einmal mehr steht das Schicksal Europas auf dem Spiel. Ein Rückblick aus luxemburgischer Sicht.

Als „Oma Courage“ ist die deutsche FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann in den Europawahlkampf gezogen. Bisher hat die Liberale vor allem als „Eurofighterin“ auf sich aufmerksam gemacht. Nun kokettiert sie mit einem etwas angestaubten Image, das Europaabgeordneten lange Zeit anhaftete: In vielen Ländern der Europäischen Union herrschte die Praxis vor, dass vor allem alte, ausgediente Politiker kurz vor dem Ruhestand noch ins Europäische Parlament geschickt wurden – ganz nach dem Motto: „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa.“

Diese Zeiten sind längst vorbei. Das EU-Parlament dient nicht mehr wie einstmals als „Abklingbecken für abgeschobene Politikerinnen und Politiker“, wie es das Redaktionsnetzwerk Deutschland nannte, sondern als Karrieresprungbrett. Brüssel und Straßburg sind nicht mehr Endstation, sondern stehen am Anfang einer politischen Laufbahn. Und in Luxemburg galt dieses fragwürdige Image sowieso nur bedingt. Das zeigt einen Blick auf die Liste der luxemburgischen Europaabgeordneten.

Doch bis es überhaupt am 10. Juni 1979 zu den ersten Direktwahlen des Parlaments kam und die damaligen neun Mitgliedstaaten – heute sind es 27, bis zum Brexit waren es 28 – insgesamt 410 Abgeordnete nach Straßburg entsandten (gewählt nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität), hatte es lange gedauert. „Ursache für das lange Hinauszögern war die Furcht der nationalen Regierungen und Parlamenten vor Machtverlusten“, erklärt dies der emeritierte deutsche Politikwissenschaftler Wichard Woyke. Auch dies traf für Luxemburg kaum zu, denn von Beginn an wurden die Europawahlen zeitgleich mit den nationalen Wahlen zur Abgeordnetenkammer abgehalten – noch bis 2009, danach bereiteten die vorgezogenen Neuwahlen zur Chamber vom Oktober 2013 dieser Gepflogenheit ein Ende.

Das Europaparlament war in der Gründungsphase der einstigen Europäischen Gemeinschaft und heutigen Europäischen Union eine bloße Versammlung. Die Zusammensetzung durch allgemeine, freie, direkte und geheime Wahlen bedeutete eine formale Aufwertung, während das Parlament im Verlauf seiner weiteren Geschichte auch inhaltlich zunehmend an Bedeutung gewann. Anfangs war die Sozialistische Fraktion die stärkste Fraktion, gefolgt von der Europäischen Volkspartei, der sogenannten Fraktion der europäischen Demokraten (Konservative), den Kommunisten sowie der Liberalen Fraktion.

„Das Grundmuster des europäischen Parteiensystems hat weiter Bestand“, stellt Woyke fest. „Es hat sich allerdings erweitert.“ Hinzukamen in den 80er Jahren die Grünen, und 2014 erzielten die Rechtspopulisten zahlreiche Mandate. Nach den vergangenen Europawahlen im Mai 2019 setzt sich das Europaparlament aus acht Fraktionen und rund 20 fraktionslosen Abgeordneten zusammen. 1999 löste übrigens die Fraktion Europäische Volkspartei (Christdemokraten) und Europäische Demokraten die Allianz der Sozialdemokraten als stärkste Fraktion ab.

Von den sechs gewählten luxemburgischen Europaabgeordneten 1979 legte die Hälfte einen Monat später ihr Mandat wegen der Bildung der nationalen Regierung nieder: Jacques Santer, Gaston Thorn und Fernand Boden, für die zuerst Jean Spautz, dem Marcelle Lentz-Cornette folgte, sowie Nicolas Estgen und Jean Wolter (auf den wiederum Marc Fischbach folgte) nachrückten. Einer nahm damals sein Mandat erst gar nicht an (Pierre Werner). Dies sagt einiges über den Stellenwert des Europaparlaments jener Zeit aus. Colette Flesch (DP) blieb immerhin bis 22. November 1980, ihr Nachrücker war René Mart (auch DP). Der einzige Politiker, der eine ganze Wahlperiode im Europaparlament blieb und sogar 1984 wiedergewählt wurde, war der ehemalige Widerstandskämpfer Victor Abens (LSAP).

Nur Wahlen „zweiten Ranges“

Demnach wurden auch hierzulande die Europawahlen als Wahlen „zweiten Ranges“ eingestuft. Hinzu kam, dass oftmals nationale Themen im Zentrum des Wahlkampfes standen. Die Tatsache, dass sie mit den Chamberwahlen einhergingen, führte in Luxemburg weniger zu dem Effekt, dass die nationale Regierung abgestraft wurde. Dies trat nur 2014 ein, als die Parteien der seit 2013 bestehenden Gambia-Regierung (DP, LSAP, „déi gréng“) durchweg an Stimmenanteilen verloren. Derweil legte die CSV als Oppositionspartei von 31,36 auf 37,65 Prozent deutlich zu. 2019 trat der gegenteilige Effekt ein: Blau-Rot-Grün konnte Stimmenanteile hinzugewinnen, während die CSV auf 21,10 Prozent regelrecht abstürzte und einen Abgeordnetensitz verlor.

Während die Bedeutung und der Einfluss des Europaparlaments stiegen – etwa 1992 durch den Maastricht-Vertrag – und die europäischen Parteien begannen, gemeinsame Wahlprogramme zu formulieren, ab 2004 die Europäischen Grünen, ab 2009 auch die anderen, nahm die Wahlbeteiligung – bis auf die Länder, in denen Wahlpflicht herrscht (Belgien, Luxemburg) – sukzessive ab, allerdings mit gewaltigen nationalen Unterschieden.

Einen Zugewinn an Kompetenzen für das Europäische Parlament brachte der im Dezember 2007 unterzeichnete und knapp zwei Jahre später – im Dezember 2009 – in Kraft getretene Vertrag von Lissabon. Im Jahr 2014 ging der frühere Premierminister Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidat der EVP mit einem Bus auf europaweite Wahlkampftour. Er wurde nach Gaston Thorn (1981-1985) und Jacques Santer (1995-1999) der dritte luxemburgische Präsident der Europäischen Kommission (2014-2019).

„Abklingbecken“ oder Sprungbrett

Was die Wahlergebnisse der luxemburgischen Parteien über den Verlauf der bisher neun europäischen Urnengänge angeht, so hatte die CSV immer die Oberhand und erzielte 2014 ihr bisher bestes Ergebnis. Nach den ersten drei Wahlen musste sie jedoch 1994 einen ihrer bisher drei Sitze abgeben. Die DP startete 1979 mit zwei Mandaten, eines davon verloren sie bei den Wahlen 1984. Erst 2019 gelang es den Liberalen, mit dem Duo Charles Goerens, dem erfahrensten Luxemburger EU-Abgeordneten, und Monica Semedo (bis Januar 2021 bei der DP) das zweite Mandat zurückzuholen. Den Liberalen gelang es, erstmals nach 20 Jahren wieder über die 20-Prozent-Marke zu klettern.

Die LSAP holte 1984 erstmals einen zweiten Sitz, behielt diesen auch bis 1999, büßte ihn jedoch 2004 ein. Seit 1984 schrumpfte auch der Stimmenanteil der Sozialisten von 29,93 Prozent (1984) auf 11,75 (2014), mit einer leichten Erholung 2019 (12,19). „Déi gréng“, gegründet 1983 und zum ersten Mal 1984 bei den Europawahlen mit von der Partie, schafften erstmals 1994 einen Sitz, damals allerdings als Formation Glei/GAP, und haben diesen bis heute gehalten: von 1999 bis 2018 Claude Turmes, seit 2018 Tilly Metz. Bei den letzten Europawahlen erzielten „déi gréng“ mit 18,91 Prozent ihr bis dahin bestes Ergebnis.

Nach letztem Stand hat das Europaparlament 705 Abgeordnete, also fast 300 mehr als 1979. Was das frühere Image der EU-Abgeordneten betrifft, so zeigen auch die aktuellen Luxemburger Kandidaten, dass das Opa-Image nicht mehr zählt. Europa kann mehr denn je ein Sprungbrett sein – und eine Bewährungsprobe im Kampf gegen rechte Tendenzen. In Zeiten, in denen in einigen Ländern Politiker gewaltsam angegangen werden, braucht es für die parlamentarischen Eurofighter zudem besondere Courage. Und statt „Abklingbecken“ könnte das Europaparlament ein Jungbrunnen sein.

Das EU-Parlament vor zehn Jahren – im Vordergrund Claude Turmes
Das EU-Parlament vor zehn Jahren – im Vordergrund Claude Turmes Foto: Editpress-Archiv