MigrationDie Affäre Taoufik Salmi im Kontext der europäischen Asylpolitik

Migration / Die Affäre Taoufik Salmi im Kontext der europäischen Asylpolitik
Migranten im Mittelmeer vor der libyschen Küste im Januer 2024 Foto: Santi Palacios/AFP

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Der Fall des Tunesiers Taoufik Salmi, der 2003 zusammen mit seiner Familie abgeschoben und damit der Folter ausgeliefert wurde, passt ins Bild der europäischen Asylpolitik seit 9/11. Die Affäre sollte mit Blick auf die Abkommen insbesondere mit nordafrikanischen Staaten gesehen werden.

In der Folge der Anschläge des Terrornetzwerks Al-Qaida in den USA am 11. September 2001 befand sich Luxemburg wie viele Länder auf der Welt in einem „War on terror“. Dazu sollte im Jahr 2002 auch hierzulande eine Antiterroreinheit aufgebaut werden. „Wir wurden nach Lyon zu Interpol geschickt, erhielten Briefings und Schulungen der Amerikaner“, erzählt ein ehemaliger Polizist, der zu jenen gehörte, die für den Kampf gegen den Terror fit gemacht werden sollten, und der namentlich nicht genannt werden soll.

Im Visier der Ermittler stand die muslimische Gemeinschaft hierzulande, vor allem die „Association musulmane luxembourgeoise“ (AML). Eine von deren Hauptpersonen soll Taoufik Salmi Kalifi gewesen sein: „Er hatte einen gefälschten syrischen Pass, neben einem bosnischen und tunesischen.“ Taoufik habe Kontakte zu den 9/11-Terroristen gehabt und sei eine „echte Gefahr“ gewesen, sagt der Ex-Polizist. „Wir hatten es mit einer radikalen Islamistengruppe zu tun, die für die Logistik von Al-Qaida zuständig war.“

Taoufik Salmi
Taoufik Salmi Foto: privat

Am 10. Oktober 2002 publizierte die Wochenzeitung Le jeudi ein Dossier, in dem es hieß: „De plus en plus de terroristes s’installent ou tentent de s’installer au Luxembourg.“ Dabei sei es u.a. um Waffenhandel und gefälschte Papiere gegangen. Die Razzien vom 31. März 2003 in der mutmaßlichen Islamistenszene, die eine Spezialeinheit der Polizei in etwa 20 Wohnungen in Bonneweg und Hamm durchführte, waren medienwirksam und führten zumindest aus Sicht der Ausführenden und der damaligen Regierung, die den Einsatz mit geheimdienstlichen und polizeilichen Erkenntnissen rechtfertigte, zum Erfolg. Allerdings leisteten sich die Sicherheitskräfte mindestens einen Fauxpas, indem sie in falsche Wohnungen eindrangen. Mehrere Betroffene der Razzia erstatteten Anzeige und sollen entschädigt worden sein. Unter den Durchsuchten waren auch Mitglieder der AML in Bonneweg. Die Polizei fand bei ihnen gefälschte Pässe und Propaganda-Material für den „Heiligen Krieg“.

Mutmaßlicher „Gotteskrieger“

Es hieß, Taoufik sei Mitglied von Ennahda gewesen, auch „Harakat an-Nahda“ genannt, einer islamischen Bewegung, deren Name auf das arabische Wort „Nahda“ für „Wiedererwachen“ oder „Wiedergeburt“ zurückzuführen ist. Während der Herrschaft des tunesischen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali von 1987 bis 2011 war die Organisation verboten, ihre Anhänger wurden politisch verfolgt. Nach dem Arabischen Frühling 2011 hat Ennahda Organisationsstrukturen in ganz Tunesien gebildet und ist heute eine legale Partei.

Taoufik war in den 90er Jahren nach Europa gekommen und soll im Bosnien-Krieg auf Seite der bosnischen Truppen gekämpft haben. In der früheren jugoslawischen Teilrepublik hatte er seine spätere Frau Marcida kennengelernt. Im Jahr 2000 kam die Familie nach Luxemburg und beantragte Asyl. Der Antrag wurde jedoch abgewiesen. Das Verwaltungsgericht bestätigte die Entscheidung im März 2002.

Nach Geheimdienstquellen war Taoufik in Bosnien angeblich als „Mudschahid“ aktiv – was oft mit „Gotteskrieger“ übersetzt wird, aber eher „Gottes Weg zu folgen“ heißt. Aus dieser Zeit dürfte sein Deckname Mohammed Dawarski stammen. Als Kämpfer soll er in einem Camp in Syrien ausgebildet worden und mit dem seit 1989 in Österreich ansässigen gebürtigen Sudanesen Masaad Omar Behari, ein mutmaßliches Al-Qaida-Mitglied, in Kontakt gewesen sein. Die Geheimdienstler behaupteten, dass Taoufik Salmi alias Mohammed Dawarski als sogenannter Schläfer untergetaucht war. Die Asylbehörde warf ihm vor, dass er nicht glaubhaft darlegen konnte, ein Verfolgter des Ben-Ali-Regimes zu sein. Der damalige Premierminister Jean-Claude Juncker sagte nach Taoufiks Abschiebung u.a. bei einem Pressebriefing: „Seien Sie froh, dass er nicht mehr im Lande ist. Frau und Kind wurden mit ausgewiesen. Es soll niemand sagen, wir würden Familien auseinanderreißen.“

Nach der Abschiebung

Taoufik wurde am 3. April 2003 nach Tunesien abgeschoben, mit ihm seine hochschwangere Ehefrau, die infolge der Abschiebung eine Fehlgeburt erlitt, und seine drei Kinder, von denen die beiden jüngsten in Luxemburg zur Welt gekommen waren. Zur Ausweisung war es gekommen, obwohl ihm bei einer Abschiebung in Tunesien Gefängnis und Folter drohten und obwohl er, wie seine Frau und die älteste Tochter, auch die bosnische Staatsbürgerschaft besaß. „Die Regierung hat ihn dem Folterstaat von Ben Ali ausgeliefert“, betonte sein Anwalt Mourad Srebki. In der Tat wurde Taoufik noch am Flughafen festgenommen und inhaftiert. Während seiner Untersuchungshaft wurde er gefoltert.

Ben Ali, 1936 geboren, 2019 im saudi-arabischen Exil gestorben
Ben Ali, 1936 geboren, 2019 im saudi-arabischen Exil gestorben Foto: Handout/AFP

Die Folter habe 38 oder 39 Tage gedauert, berichtete Taoufik nach seiner Freilassung gegenüber dem Autor dieser Zeilen. „Sie legten mich in Ketten, schlugen mich mit Stuhl- und Tischbeinen am ganzen Körper und hängten mich mit dem Kopf nach unten an der Decke auf“, erinnerte er sich. Die Verteidigung Taoufiks in Tunesien hatte die international bekannte Rechtsanwältin Radhia Nasraoui übernommen, die selbst der Repression und Gewalt des Ben-Ali-Regimes ausgesetzt und in den Hungerstreik getreten war. Sie habe Taoufik in der Untersuchungshaft häufig besucht. In einem Interview bestätigte sie: „Die Wunden der Folter waren deutlich zu erkennen.“ Taoufik hatte noch lange unter den Folgen der Folter zu leiden.

Taoufik kam, nach sechs Jahren Haft, 2009 wieder auf freien Fuß. Richtig frei konnte er sich seit dem 14. Januar 2011 fühlen, als Diktator Ben Ali gestürzt wurde. Außerdem musste er sich regelmäßig bei einem Posten der Nationalgarde melden. Das hinderte ihn daran, eine feste Arbeitsstelle zu finden. Die Strafe erwies sich als eine Art Hausarrest. Es war ihm auch nicht möglich, seine Frau und die drei Töchter zu sehen. Diese lebten während Taoufiks Gefängnisaufenthalt bei einer Familie in Tunis.

„A Haunted Past“

Es war die Familie von Fatma Riahi: Die Filmemacherin erinnerte sich an jene Zeit in ihrer Kindheit, als die drei Geschwister und deren Mutter bei ihrer Familie wohnten. Sie forschte nach, was aus den drei Mädchen geworden war. Taoufiks Frau Marcida hatte sich scheiden lassen und war nach Bosnien zurückgekehrt. Die drei Mädchen lebten bei ihrem Vater in Sidi Bouzid, einer ländlich geprägten Kleinstadt, etwa 200 Kilometer südwestlich von Tunis. Dort zog Taoufik Salmi seine Töchter Yamina, Imen und Khadija groß. In ihrem Dokumentarfilm „A Haunted Past“ erzählt die Regisseurin die Geschichte der Familie.

Fatma Riahis Film „A Haunted Past“
Fatma Riahis Film „A Haunted Past“ Foto: Al Jazeera

In den Zeiten nach dem Arabischen Frühling durchlief Tunesien turbulente Jahre und eine Wirtschaftskrise. Mittlerweile ist das nordafrikanische Land ein interessanter Partner für die Europäische Union, was die Abwehr der Flüchtlinge betrifft, die über das Mittelmeer nach Südeuropa übersetzen wollen. Am 16. Juli 2023 reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusammen mit den Ministerpräsidenten Giorgia Meloni (Italien) und Mark Rutte (Niederlande) nach Tunis, um eine Absichtsklärung mit der tunesischen Regierung zu unterzeichnen: Europa versprach dem Land Finanzhilfen über mehrere Hundert Millionen Euro und erwartete im Gegenzug, dass es dabei hilft, gegen Schlepper vorzugehen und die Flucht über das Mittelmeer einzudämmen.

Geldsegen für Grenzschutz

Doch im vergangenen Herbst sagte der tunesische Präsident Kais Saied, sein Land nehme nichts an, „was Gnaden oder Almosen ähnelt“. Tunesien zahlte 60 Millionen Euro an die EU zurück. Die EU-Kommission hatte angekündigt, Tunesien erst einmal 127 Millionen auszuzahlen, um die kriselnde Wirtschaft anzukurbeln, aber mehr als die Hälfte davon für neue Schiffe und Maßnahmen gegen Schleuser und für die Rückführung von Flüchtlingen. Anfang dieses Monats kündigte die EU die Auszahlung von 150 Millionen Euro an Tunesien an.

Die EU will mit Hilfe ähnlich gestrickter Migrationsabkommen mit Ländern vor allem in Nordafrika die Migration nach Europa begrenzen – so wie zuletzt auch mit Ägypten. Von der Leyen war dafür jüngst in Kairo, um mit Präsident Abdel Fattah al-Sisi, der sich 2013 an die Macht geputscht hatte, eine „umfassende und strategische Partnerschaft“ zu beschließen. In den kommenden vier Jahren sollen insgesamt 7,4 Milliarden Euro an Darlehen und Investitionen nach Ägypten fließen – für die Gegenleistung der Grenzsicherung zum Schutz vor Flüchtlingen soll es einen Geldregen geben, u,.a. für Ernährungssicherheit, Digitalisierung und grüne Technologien. Ähnlich war auch das Abkommen mit Tunesien, ebenso eines mit Mauretanien – und nicht zu vergessen der sogenannte Türkei-Deal der EU vor acht Jahren. Aus dem „War on terror“ der Europäer ist längst, wie es das Magazin der Financial Times Anfang des Jahres treffend formuliert hat, ein „War on migration“ geworden.

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, der tunesiche Präsident Kais Saied und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am 16. Juli 2023 nach der Unterzeichnung des „memorandum of understanding“.
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, der tunesiche Präsident Kais Saied und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am 16. Juli 2023 nach der Unterzeichnung des „memorandum of understanding“. Foto: AFP