AntisemitismusDer Judenhass hat mit Gaza deutlich zugenommen

Antisemitismus / Der Judenhass hat mit Gaza deutlich zugenommen
Bernard Gottlieb.von „Recherche et information sur l’antisémitisme au Luxembourg“ (RIAL) Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Der Antisemitismus hat in vielen Ländern der Welt zugenommen. Schon während der Corona-Pandemie ist die Zahl der Vorfälle gestiegen, seit dem 7. Oktober noch mehr. Und die Art des Judenhasses ist eine andere geworden.

Bei dem heute dominierenden Antisemitismus handelt es sich vorwiegend um einen auf Israel bezogenen. Dies kann Bernard Gottlieb bestätigten. Er hat für die Organisation „Recherche et information sur l’antisémitisme au Luxembourg“ (RIAL) die antisemitischen Vorfälle hierzulande dokumentiert. Deren Zahl sei bereits während der Corona-Pandemie von etwa 50 bis 60 auf 80 gestiegen, weiß er. 2022 ging die Zahl leicht zurück. Im vergangenen Jahr stieg sie jedoch auf 144 Fälle an, allein 108 ereigneten sich nach dem Terrorangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem militärischen Gegenschlag Israels auf Gaza. Seit Jahresbeginn kommen monatlich etwa 30 bis 35 hinzu, stellt Gottlieb fest. Im RIAL-Jahresbericht werden die Vorfälle im Großen und Ganzen unter anderem folgendermaßen unterteilt: etwa die Delegitimierung des Staates Israel, die Diabolisierung von „Zionisten“, sowie die Vergleiche von Gaza und Holocaust, was einer Verharmlosung des Letzteren gleichkommt.

Eine Schar junger Leute zieht durch London und ruft: „Wo sind die Zionisten? Wir wollen ihr Blut.“ Eine Woche zuvor ist ein Autokonvoi mit palästinensischen Flaggen durch ein jüdisch geprägtes Viertel der Millionenmetropole gerollt, ein paar Männer schrien: „Fickt die Juden, vergewaltigt ihre Töchter!“ Diese antisemitische Eruption hat sich nicht etwa nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober und dem Angriff der israelischen Armee auf Gaza zugetragen. Der Gewaltaufruf fand schon früher statt: im Mai 2021. Der britische Journalist und Herausgeber des Jewish Chronicle, Jake Wallis Simons, schildert die Vorkommnisse in seinem Buch „Israelphobie“ und beginnt damit seine Untersuchung des Antisemitismus, eine „unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung“, so der Untertitel.

Das Buch erschien auf den Tag genau einen Monat vor dem 7. Oktober 2023, der für die jüdische Gemeinschaft in Israel und in der ganzen Welt ein Wendepunkt gewesen sei, erklärt der Autor. Seit dem Terrorangriff der Hamas und dem Blutbad an den Juden am 7. Oktober mit mehr als tausend Todesopfern, die meisten davon Zivilisten, habe sich alles noch gesteigert. Die ersten propalästinensischen Demonstrationen habe es bereits gegeben, bevor Israel überhaupt reagierte, „bevor das Blut in den Kibbuzim getrocknet war, bevor das Morden aufgehört hatte“, das bestialische Töten jüdischer Zivilisten. „Innerhalb weniger Wochen brachten Hunderttausende ihre Solidarität mit den Palästinensern zum Ausdruck und schenkten den offen zum Völkermord aufrufenden Gesängen und Plakaten des Mobs keine Beachtung.“

„Nützliche Idioten“

Der Autor zitiert den Philosophen, Theologen und Politiker – von 1991 bis 2013 auch britischen Großrabbiner – Jonathan Sacks: „Im Mittelalter wurden die Juden wegen ihrer Religion gehasst, im 19. und frühen 20. Jahrhundert wegen ihrer Rasse. Heute werden sie wegen ihres Nationalstaates, Israel, gehasst. Der Hass nimmt verschiedene Formen an, aber er bleibt derselbe: Die Juden hätten kein Recht, als freie und gleichberechtigte Menschen zu existieren.“ Der jahrtausendealte Judenhass hat sich in der Tat immer wieder angepasst. Nach dem religiösen und rassistischen Antisemitismus ist der israelbezogene die jüngste Mutation des Antisemitismus. Ihm hätten sich „Scharen von nützlichen Idioten der progressiven Linken“ angeschlossen, „beseelt von Mitgefühl angesichts der schrecklichen Bilder des Leids in Gaza, aber ohne über die grundlegenden Wahrheiten nachzudenken“.

Kundgebung „Allianz gegen Antisemitismus ruft zur Solidarität mit Israel auf“ am 7. April in Köln
Kundgebung „Allianz gegen Antisemitismus ruft zur Solidarität mit Israel auf“ am 7. April in Köln Foto: Thomas Banneyer/dpa

Den israelbezogenen Antisemitismus, den er „Israelphobie“ nennt, versteht Simons als die momentan dominante Form des Antisemitismus, kombiniert mit dem Judenhass vieler Muslime und begleitet vom alten Antisemitismus von rechts. Alte antijüdische Ressentiments würden von vielen Linken in die Sprache des Antirassismus übersetzt. Die Anfänge der „Israelphobie“ sieht Simons im antisemitischen Verschwörungsdenken, das sich u.a. an den 1903 veröffentlichten „Protokollen der Weisen von Zion“ inspirierte, der NS-Ideologie sowie dem Panarabismus und bei der Muslimbruderschaft.

Zudem knüpfe die heutige Linke „bewusst oder unbewusst an der antizionistischen Propaganda der Sowjetunion“ an. Bekanntlich lebte das antijüdische Verschwörungsdenken während der Pandemie wieder auf. Simons weist darauf hin, dass Juden schon immer anders behandelt wurden: als Christusmörder, Untermenschen, als Weltverschwörer – und nun als Kolonisatoren. Die „moderne Vision der uralten Psychose“ ist nach Simons‘ Worten eine der größten Gefahren der Welt, die „neueste Version des ältesten Hasses“. Nun richtet dieser sich nicht mehr gegen die Religion oder gegen die vermeintliche Rasse, sondern gegen den jüdischen Staat.

„Totem der Identitätspolitik“

Zwar sei das demokratische Land Israel alles andere als perfekt, so Simons, sondern ein Land wie jedes andere. „Aber das Ausmaß der Anfeindungen, die es erfährt, geht weit über seine Fehler hinaus.“ Die Abneigung gegen Israel sei zu einem Kennzeichen progressiver Leute mit Einfluss in der Welt der Kultur und Universitäten geworden. Auf der anderen Seite werde die palästinensische Sache als „Totem der Identitätspolitik“ betrachtet und mit dem Widerstand gegen die Apartheid, den Kolonialismus und die Vorherrschaft der Weißen gleichgesetzt.

Bei den Demonstrationen der vergangenen Monate wie jener vom „Comité pour une paix juste au Proche-Orient“ (CPJPO) wird zum Frieden im Nahen Osten aufgerufen, aber zugleich Israel wegen seiner Besatzungspolitik wie ein Schurkenstaat betrachtet und der Kriegsverbrechen bis hin zum Genozid bezichtigt. Im selben Zug wird die Europäische Union als Komplize der rechtsgerichteten Regierung von Benjamin Netanjahu dargestellt. Auf Plakaten heißt es neben „Stop War in Gaza“ und Aufrufen zum Waffenstillstand „Stop the Genocide!“. Erinnert wird an die Opfer in Gaza, nicht aber an die des Massakers vom 7. Oktober. Zwar wird gelegentlich betont, dass sich die Kritik nicht gegen das israelische Volk richte, sondern gegen die Regierung. Auf den propalästinensischen Friedensdemos wird zudem häufig der umstrittene pro-palästinensische Slogan „From the river to the sea“ gerufen.

Wie in Luxemburg und vielen anderen Ländern haben auch bei den Nachbarn die antisemitischen Vorfälle stark zugenommen. In Deutschland lagen sie in den drei Monaten seit dem 7. Oktober laut Bundeskriminalamt bei rund 2.250, in den Jahren 2020 bis 2022 bei jährlich etwa 2.400. „Das beschämend hohe Niveau judenfeindlicher Taten hat sich normalisiert – so sehr, dass es aus dem öffentlichen Bewusstsein nahezu verschwunden ist“, stellte der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, fest.

„Katalysator des Hasses“

In Frankreich registrierten das Innenministerium und der „Service de protection de la communauté juive“ (SPCJ) vergangenes Jahr in den drei Monaten nach dem 7. Oktober genauso viele antisemitische Vorfälle wie in den drei Jahren davor zusammen fest. An den Schulen sei die Zahl der Angriffe, Bedrohungen und Beleidigungen geradezu explodiert. Der 7. Oktober habe wie ein „Katalysator des Hasses“ gewirkt, sagte Yonathan Arfi, Präsident des „Conseil représentatif des israélites de France“ (CRIF). Außerdem heißt es, dass die Hemmschwelle gesunken sei. In Belgien stellte die Antidiskriminierungsstelle Unia in den beiden Monaten nach Beginn dem 7. Oktober 91 Antisemitismus-Vorfälle fest, vor allem Graffiti, Holocaust-Leugnungen und Grabschändungen – im gesamten Jahr 2022 waren es 57 gewesen.

Zu fast 90 Prozent der Vorfälle kommt es in den sozialen Medien, weiß Bernard Gottlieb. Dazu gehören etwa Kommentare wie „Tod dem Zionismus“. Auf Demos war hin und wieder ein Plakat zu sehen, auf dem Netanjahu mit Adolf Hitler gleichgesetzt wird: der israelische Ministerpräsident mit Hitlerbärtchen und -scheitel und als „Nazi – sionist“ bezeichnet, eine Fake-Ausgabe des Time Magazine, ein Davidstern mit Hakenkreuz in der Mitte – „übelste ‚hate speech‘ und eine Verleumdung des Staates Israel und seiner Bevölkerung“, sagt Bernard Gottlieb, der das Motiv des Netanjahu-Hitler-Vergleichs auch im Facebook-Auftritt eines Kandidaten der Kommunistischen Partei (KPL) für die Europawahlen fand.

Der Juden-Nazi-Vergleich war nicht der erste dieser Art und auch nicht die erste antisemitische Breitseite derselben Person in den sozialen Medien. Bereits vorher hat er den Holocaust verharmlost, indem er den israelischen Militäreinsatz auf Gaza mit dem systematischen Massenmord an sechs Millionen Juden durch die Nazis verglich. Der Vergleich „Gestern Auschwitz, heute Gaza“ geht in dieselbe Richtung. Der KPL-Kandidat postete darüber hinaus eine Karikatur, die Netanjahu zeigt, wie er einem Kind die Kehle durchschneidet – eine bewusste oder unbewusste Anspielung auf jene Ritualverbrechen, die seit dem Mittelalter den Juden zugeschrieben wurden und schließlich zur Judenverfolgung führten – purer Antisemitismus.

Demonstration „Global South Resists“ (Der globale Süden leistet Widerstand) auf dem Potsdamer Platz in Berlin am 2. März
Demonstration „Global South Resists“ (Der globale Süden leistet Widerstand) auf dem Potsdamer Platz in Berlin am 2. März Foto: Christophe Gateau/dpa