Joël DelvauxDer Fall „Blannenheem“ und die Probleme im Behinderten- und Pflegesektor

Joël Delvaux / Der Fall „Blannenheem“ und die Probleme im Behinderten- und Pflegesektor
 Symbolbild: Tom Weller/dpa

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Die Missstände im „Blannenheem“ sind nur die Spitze des Eisbergs: So kann man die Reaktionen zum öffentlichen Protest des Zusammenschlusses von Familien der Bewohner in Richtung Generaldirektion der „Fondation Lëtzebuerger Blannevereenegung“ (FLB) zusammenfassen. Ist das wirklich so, herrschen in Luxemburgs Pflege- und Betreuungswesen untragbare Zustände? Joël Delvaux vom „Département des travailleurs handicapés“ (DTH) des OGBL ist im Gespräch mit dem Tageblatt formell: Ja, zumindest was den Behindertenbereich angeht. Und vieles, was dort gilt, ist auf den gesamten Pflegesektor übertragbar.

Joël Delvaux weiß, wovon er spricht. Der 47-Jährige sitzt im Rollstuhl und hat viele Jahre seines Lebens in Betreuungseinrichtungen verbracht. Und er hat von Berufswegen ständig mit Beschwerden von Familienmitgliedern von Behinderten zu tun. Auch politisch engagiert er sich für die Rechte von Menschen mit einem Handicap. Für „déi Lenk“ saß Delvaux bis zum letzten Jahr im hauptstädtischen Gemeinderat.

Die Vorwürfe der Familien der „Blannenheem“-Bewohner drehten stets darum, dass für die Generaldirektion nicht der Mensch, sondern die Zahlen im Vordergrund stünden. Um den Vorwurf zu verstehen, muss man in der Zeit etwas zurückgehen, meint Joël Delvaux. „Die meisten Betreuungseinrichtungen sind durch Elternverbände entstanden. Den Eltern von behinderten Kindern ging es um die Frage, was mache ich mit meinem Kind nach der Schule? Wo kann mein Kind die beste Betreuung gekommen? Sie suchten sich Unterstützer aus der Zivilgesellschaft und so entstanden Institutionen wie das „Blannenheem“. Diese Einrichtungen waren also sehr familiär geprägt. Doch dann wurden sie immer größer. Und sie mussten immer professioneller werden, allein schon wegen der sanitären Auflagen. Sie mussten die internationalen Normen erfüllen.“

Der Patient wird zur Ware

Aus kleinen, familiären Einrichtungen wurden demnach im Laufe der Jahre regelrechte Institutionen. Und der Staat verlangte den Häusern auch administrativ so einiges ab. Eine mitunter fremde Welt für das Personal aus dem Sozialwesen. „Erzieher haben diesen Beruf ja nicht gewählt, um am Schreibtisch zu sitzen, sondern um mit Menschen zusammenzuarbeiten. Bürokratie kann eine fremde Welt für sie sein“, erklärt Delvaux.

Als dann noch Sparzwänge hinzukamen, die Leistungen bis zur Zahl hinter dem Komma chiffriert wurden, kam es zum Umdenken in den meisten Verwaltungsräten. Personen mit ökonomischen und weniger mit sozialem Background waren nun an der Spitze der Einrichtungen gefragt. „Das war der Punkt, als der Patient zur Ware wurde und die Frage im Mittelpunkt stand: „Wie rentabel ist eine Person und wie kann man sie noch weiter rentabilisieren“, analysiert Delvaux nüchtern und schickt ein Beispiel hinterher: „Ein Behinderter kann noch mehr oder weniger selbstständig zur Toilette, braucht auf den Weg dorthin aber Hilfe. Das Ganze dauert dann gerne mal 30 Minuten. In der Pflegeversicherung sind für Toilettengänge aber nur zehn Minuten vorgesehen. Resultat: Er bekommt eine Windel angezogen.“ In anderen Worten: Die Autonomie und das Selbstwertgefühl des Patienten wird der Rentabilität geopfert.

Joël Delvaux
Joël Delvaux Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Die Verantwortung der Politik

Beispiele wie diese kennt Delvaux zuhauf. Er erzählt von den „ateliers protégés“, in denen Menschen mit Behinderung arbeiten können: „Wenn ein gewisser Grad der Produktivität nicht erreicht wird, wird ein Behinderter als untauglich für die Arbeit erklärt, erhält eine Invalidenrente und wird in eine Tagesstätte verfrachtet. Für den Staat ist der Fall dann erledigt. Für den Betroffenen und seine Würde ist es dagegen dramatisch. Er sieht sich zum Menschen zweiter Klasse degradiert.“

Dafür macht Delvaux die Politik verantwortlich. Denn das seien Dinge, die in den Ministerien entschieden würden. Und so lässt er es auch nicht durchgehen, wenn Politiker wie Familienministerin Corinne Cahen im Dossier „Blannenheem“ auf Tauchstation gehen. In der Tat schob die DP-Präsidentin im Dossier rund um die Missstände in der Struktur in Rollingen bei Mersch immer wieder die Verantwortung von sich. Das Ministerium sei nicht kompetent in der Frage, da es sich beim „Blannenheem“ um eine Stiftung handele, somit sei dies Sache des Verwaltungsrats, hieß es aus dem Familienministerium. Von Gesetzeswegen ist das wohl richtig. „Das ist mir zu billig“, entgegnet aber Joël Delvaux, „das Ministerium will in diesem Fall keine Kontrollfunktion. Wenn es aber um das Finanzielle geht, dann nimmt es die Kontrollfunktion bei jedem Haus, das ein ‚agrément’ hat, durchaus wahr.“ Und überhaupt glänze man gerne mit schönen Kampagnen, am praktischen Leben von Behinderten ändern die aber nichts.

Der Pfleger als immer funktionierender Roboter

Leidtragende sind nicht nur die Menschen mit Behinderung. Auch das Personal steht oft in einem schlechten Licht da, wie im Beispiel „Blannenheem“. Dort betonten die protestierenden Familienmitglieder der Bewohner zwar stets die gute und aufopferungsvolle Arbeit des Pflegepersonals, trotzdem färben die Vorwürfe an die Direktion automatisch auch auf die Pfleger ab. „Jeder Pfleger hat sich einmal aus menschlicher Überzeugung für diesen Beruf entschieden. Er wollte helfen“, erklärt Joël Delvaux, „doch irgendwann muss er sich eingestehen, dass dieser Idealismus in der Praxis nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.“

Der Pfleger als immer funktionierender Roboter. „Sauber, satt und trocken“ nennt man in Deutschland die Devise in der Pflege. Doch wenn man nicht helfen kann, wie man das eigentlich will, dann kann man durchaus an der Situation zerbrechen, zumal in einem ohnehin komplizierten und mitunter schlecht bezahlten Beruf. „Ich habe Pfleger gesehen, die hatten mit 40 Jahren ein Burn-out. Und andere, die hatten mit 30 den ersten Bandscheibenvorfall“, erzählt Delvaux.

Das sich an der Problematik etwas ändern könnte, dafür kämpft Joël Delvaux. „Ich glaube, dass wir das Gleichgewicht wieder etwas besser hinkriegen können. Wichtig dafür wäre, ‚comités mixtes’ in den einzelnen Häusern zu schaffen.“ Es soll keinen allmächtigen Direktor geben, der alles bestimmt. Dafür aber regelmäßige Treffen, an denen Direktion, Betroffene, Familienangehörige und das Personal teilnehmen. Nur so könne man zu einer Verwaltung kommen, die wieder menschlicher ist, glaubt er. Eins ist für ihn jedenfalls sicher: „So wie bisher kann es nicht weitergehen. Es kann nicht sein, dass du, sobald du als Patient in eine solche Institution kommst, automatisch an der Tür deine elementarsten Menschenrechte abgibst.“

Was nicht nur für den Behindertenbereich gelten dürfte, sondern für den gesamten Pflegesektor. Der ist in Zeiten der Corona-Pandemie in aller Munde. Und auch zur Eskalation im „Blannenheem“ wäre es ohne die schwierige Lockdown-Situation mit Besuchsverboten und Ähnlichem wohl nicht gekommen. „Wenn die Corona-Krise dazu beiträgt, über Grundsätzliches nachzudenken, dann hatte sie wohl doch etwas Gutes“, sagt Delvaux abschließend. So richtig überzeugt klingt er dabei nicht.