DeutschlandDas Wähler-Parteien-Verhältnis hat sich in den letzten Jahren gewandelt

Deutschland / Das Wähler-Parteien-Verhältnis hat sich in den letzten Jahren gewandelt
Den sogenannten TV-Triellen der Kanzlerkandidaten wird von den Forschern eine große Bedeutung bei der Entscheidungsfindung beigemessen Foto: Oliver Ziebe/WDR/dpa

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Gut sieben Wochen vor der Wahl sind viele Menschen unentschlossen, bei welcher Partei sie am 26. September ihr Kreuzchen setzen. Auch bei der Kanzlerpräferenz kann sich ein Großteil nicht hinter den zur Wahl stehenden Kandidaten versammeln. Meinungsforscher erklären das mit langfristigen Trends – und aktuellen Zweifeln.

Ein Prozentpunkt hoch hier, ein paar Prozentpunkte runter dort – in den Wochen vor der Bundestagswahl wird mit Argusaugen beobachtet, wie sich die Parteien und ihr Spitzenpersonal in den Umfragen schlagen. Die Auftritte in den Flutgebieten, ein unglücklicher Lacher, abgeschriebene Textstellen in Büchern und geschönte Lebensläufe sorgen für Bewegung in den Stimmungsbarometern. Doch kaum Beachtung findet eine Gruppe, die beachtlich groß ist: Gefragt nach der Kanzlerpräferenz können sich laut Forsa-Umfrage satte 45 Prozent der Befragten hinter keinem der drei Kanzlerkandidaten – Armin Laschet (CDU), Annalena Baerbock (Grüne) oder Olaf Scholz (SPD) – versammeln. Wer sind die Unentschlossenen? Und sind sie das tatsächlich?

Laut Forsa-Chef Manfred Güllner befinden sich unter den 45 Prozent keineswegs nur Menschen, die sich nicht entscheiden können, sondern viele Wähler hätten „große Vorbehalte“ gegen alle drei Kandidaten. „Und das ist eigentlich ein Armutszeugnis, wenn man bedenkt, dass bei früheren Wahlen die Kandidaten deutlich höhere Werte hatten“, sagt Güllner. Er verweist auf Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD), der seinerzeit auf fast 50 Prozent gekommen sei, und auf Noch-Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die zeitweise 55 Prozent an Zustimmung erreicht habe. „Sie konnten sich damals auf einen Vertrauenssockel stützen. Heute kann das keiner der zur Wahl stehenden Kandidaten von sich behaupten“, so der Forsa-Chef. Deren Zustimmungswerte findet er „erschreckend niedrig“.

Am jüngsten Forsa-Trendbarometer für RTL/ntv kann man ablesen, was Güllner damit meint: Wenn der Kanzler direkt gewählt werden würde, käme SPD-Spitzenmann Scholz auf 21 Prozent, Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock auf 18 Prozent und CDU-Konkurrent Armin Laschet rutscht auf 15 Prozent ab. Doch der Kanzler wird nicht direkt gewählt, sondern von den in den Bundestag entsandten Abgeordneten. Insofern ist die Forsa-Fragestellung eine fiktive.

Es ist ein Irrtum der politischen Klasse, dass die Menschen schon Wochen vor der Wahl zu Hause sitzen und an ihrer Wahlentscheidung basteln

Matthias Jung, Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe Wahlen

Aber auch im jüngsten Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen lassen sich große Zweifel an der Kanzlertauglichkeit der Kandidaten ablesen, insbesondere bei Armin Laschet (59 Prozent halten ihn als Kanzler für ungeeignet) und bei Annalena Baerbock (68 Prozent). Olaf Scholz hat mit 54 Prozent immerhin eine knappe Mehrheit hinter sich, die ihm das Kanzleramt zutraut.

Die allermeisten mögen mehrere Parteien

Ungeachtet dieser Werte hält Matthias Jung, Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe, es für viel zu früh, daraus klare Schlüsse zu ziehe . „Es ist ein Irrtum der politischen Klasse, dass die Menschen schon Wochen vor der Wahl zu Hause sitzen und an ihrer Wahlentscheidung basteln“, sagt Jung. Bei der zurückliegenden Bundestagswahl 2017 hätten sich auch eine Woche vor der Wahl eine Mehrheit der Wähler noch vorstellen können, mehr als eine Partei zu wählen.

In einer Studie mit dem Titel „Vermessung der Wählerschaft vor der Bundestagswahl 2021“ hat die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) die Einstellungen der Wahlberechtigten untersucht. In der repräsentativen Studie geht es um grundlegende Strukturen und Formen der Parteibindung. „Unsere Befragungen haben gezeigt, dass die allermeisten mehrere Parteien nennen, die sie mögen, oft auch mehr als zwei Parteien“, sagt der Soziologe Jochen Roose von der KAS-Abteilung Wahl- und Sozialforschung. Einerseits müsse eine Partei eine „emotionale Identifikationsfläche“ bieten. „Eine Partei, die mich abstößt, hat bei mir keine Chance“, sagt Roose. Andererseits hätten viele Menschen eine emotionale Nähe zu mehreren Parteien. „Mit Blick auf die Wahlentscheidung bedeutet das auch, dass viele Menschen nicht festgelegt sind auf eine einzelne Partei. Das führt zu diesem volatilen Stimmungsbild, das wir derzeit beobachten können“, so der KAS-Forscher. Er misst den TV-Triellen der Kanzlerkandidaten eine große Bedeutung für den Entscheidungsprozess bei. „Diese Diskussionsrunden werden stark wahrgenommen und es wird Anlass für viele Menschen geben, sich eine Meinung zu bilden“, sagt Roose.

Programme haben sich zur Mitte hin entwickelt

Dabei ist das hohe Wechselpotenzial kein neues Phänomen, sondern lange gewachsen. Nach Einschätzung von Wahlforscher Jung gab es früher „klare ideologische Konflikte, etwa zwischen sozialistischer Planwirtschaft und freier Marktwirtschaft, es gab den Antikommunismus, die konfessionelle Bindung an eine Partei oder den Ost-West-Konflikt“. Durch die Auflösung dieser Konflikte hätten die klassischen Vorfeldorganisationen der Parteien, etwa die Gewerkschaften oder die katholische Kirche, an Bedeutung verloren. „Gerade in den jüngeren Generationen ist deshalb der ideologische Kitt, der an eine Partei bindet, nicht mehr so relevant“, sagt Jung. Hinzu komme, dass sich die Programmatik der Parteien zur Mitte hin entwickelt habe. Damit sei der Wechsel zwischen Parteien einfacher geworden.

Bei der Wahlabsicht lässt sich laut Forsa-Umfrage derzeit nur ein leicht gestiegener Anteil an Unentschlossenen oder an Menschen, die nicht wählen wollen, ablesen: Er liegt aktuell bei etwa 25 Prozent. Bei der zurückliegenden Bundestagwahl waren es 23,8 Prozent. Meinungsforscher Güllner ist dennoch skeptisch, besonders was die Kompetenzzuschreibung angeht. „Vielen Parteien wird kurz vor der Wahl nicht die notwendige Kompetenz zugeschrieben, die Probleme im Land zu bewältigen“, sagt er. Dabei sei die Corona-Pandemie nach wie vor das dominante Thema. Güllner sieht die Gefahr, „dass viele Wähler, die nicht radikal wählen wollen, sich letztendlich doch nicht an der Wahl beteiligen.“ In den gut sieben Wochen bis zur Wahl gibt es für die Parteien noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.