EuropawahlenLuxemburgs besondere Wahlnacht – Restsitze, Referendum und die Revolte der Jungen

Europawahlen / Luxemburgs besondere Wahlnacht – Restsitze, Referendum und die Revolte der Jungen
Die Sitze sind ausgezählt – was das für Europas Zukunft bedeutet, fragen sich auch Isabel Wiseler-Lima, Luc Frieden und Tilly Metz Foto: Editpress/Julien Garroy

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Luxemburg hat gewählt, die Vertreter des Großherzogtums im Europaparlament für die kommenden fünf Jahre bestimmt. Details zu einer aufregenden Wahlnacht.


So wurden die Sitze am Sonntag verteilt

Wie knapp hat die LSAP ihren zweiten Sitz verpasst? Und: Mit wie vielen Stimmen Vorsprung hat die ADR den Sprung ins Europaparlament geschafft und „déi gréng“ ihren Sitz eben noch gerettet? Das Tageblatt hat einen Blick auf die Zahlen vom Wahlsonntag geworfen.

Der Rechenmodus

Ausgangspunkt der Rechnung zur Vergabe der Sitze im Parlament ist die Zahl der abgegebenen gültigen Gesamtstimmen („Nombre total des suffrages valables de toutes les listes“). Diese wird durch die Zahl der zu vergebenen Mandate plus eins geteilt. Das ergibt den sogenannten Wahlquotienten („Nombre électoral“). Mithilfe des Wahlquotienten wird für jede Partei ein weiterer Quotient ausgerechnet, in dem die Gesamtstimmenzahl der Partei („Suffrages nominatifs“ und „Suffrages de liste“) durch den Wahlquotienten geteilt wird. Der Zahlenwert vor dem Komma ergibt die Anzahl der Sitze, die diese Partei gewinnt. Das ist die erste Verteilung.
In den meisten Fällen bleiben nach diesem Prozedere jedoch noch Restplätze übrig, die in weiteren Runden vergeben werden müssen. Dafür wird die Gesamtstimmenzahl aller Parteien durch die Zahl ihrer bereits gewonnenen Sitze plus eins geteilt. Diese neuen Quotienten werden dann miteinander verglichen. Der höchste Wert gewinnt und erhält den Sitz. Das ist die zweite Verteilung. Sind mehr als ein Restsitz zu vergeben, startet dieser Rechenschritt erneut – mit dem Unterschied, dass sich beim Gewinner der letzten Runde die Zahl der Sitze um eins erhöht. Die Rechnung wird so lange wiederholt, bis alle Sitze verteilt sind.

Für die Europawahlen in diesem Jahr wurden die Sitze demnach folgendermaßen verteilt: CSV, LSAP und DP erhalten nach einer ersten Verteilung jeweils einen Sitz im Europaparlament. Bei der Restsitzverteilung ergattern anschließend „déi gréng“ und die ADR jeweils einen Sitz. Der dritte und letzte Restsitz geht abschließend an die CSV, die ihre zwei Sitze souverän behauptet, sich aber auch nicht von ihrem Wahldebakel von 2019 erholen kann, als sie 16,55 Prozentpunkte abrutschte.

Die Frage, die seit Sonntagabend wohl in den Köpfen einiger LSAP-Politiker herumspuken dürfte: Wie knapp haben wir einen zweiten Sitz im Europaparlament verpasst? Die Antwort: 16.456 Stimmen oder 2.743 Listenwähler haben der LSAP letztendlich gefehlt, um eine CSV zu überflügeln. Dass drei der sechs bestgewählten Politiker eine LSAP-Parteikarte haben, dürfte dann wohl kaum über den knapp verpassten zweiten Sitz hinwegtäuschen. Mit Marc Angel, Liz Braz, Mars Di Bartolomeo und Danielle Filbig sind sogar vier LSAP-Politiker besser platziert als Tilly Metz („déi gréng“) und Fernand Kartheiser (ADR), die an Position zehn und 15 ins Europaparlament einziehen.

Ähnlich knapp gingen die Wahlen für die ADR und die Grünen aus, die mit dem exakt gleichen Prozentsatz von 11,76 einen Sitz im Europaparlament errungen haben. 106 Stimmen oder umgerechnet 18 Listenwähler trennen die beiden Parteien letzten Endes voneinander – mit einem hauchzarten Vorteil für die Grünen. Es kommt demnach auch nicht von ungefähr, dass Vertretern beider Parteien die Freude und Erleichterung nach Bekanntgabe der Ergebnisse ins Gesicht geschrieben standen. Hätten etwas mehr als 2.000 Listenwähler ihr Kreuz bei einer anderen Partei als den Grünen oder der ADR gemacht, wäre einer der beiden Sitze an die LSAP gegangen. So aber rettet Tilly Metz ihren Sitz in Straßburg, während Fernand Kartheiser demnächst sein Büro dort beziehen und in der Chamber Platz für Nachrücker Dan Hardy machen wird.

Für Christophe Hansen, der entweder Luxemburger EU-Kommissar oder Europaparlamentsabgeordneter werden wird, wird Jean-Paul Schaaf in die Chamber nachrücken. Der Ettelbrücker CSV-Politiker bestätigte gegenüber dem Tageblatt, dass er sein Mandat in der Chamber auch antreten werde. „Ich freue mich darauf, kenne die Chamber und kann mich auch schnell wieder einarbeiten“, sagt Schaaf, der es als Vorteil ansieht, wenn auch seine Heimatgemeinde und die Umgegend aus landesplanerischer Sicht wieder in der Chamber vertreten sind.


Referendum zu CSV/DP?

Politische Beobachter hatten im Vorfeld der Wahlen in Frankreich und Deutschland die Europawahlen zu einer Art Volksreferendum zu den regierenden Parteien erklärt. Präsident Emmanuel Macron zog noch am Wahlabend Konsequenzen aus der Wahlschlappe und kündigte Neuwahlen an. In Deutschland verzeichnet die Ampelkoalition ähnlich schlechte Resultate. Doch gilt das auch für Luxemburg? Wäre dem so, würde die Koalition aus CSV und DP von einem Zustimmungswert von 47,9 Prozent auf 41,2 Prozentpunkte fallen. Zum Vergleich: Eine hypothetische Dreierregierung aus DP, LSAP und „déi gréng“ kommt bei den Europawahlen auf ein Resultat von 51,77 Prozent und ebenfalls drei Sitze. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Wähler klar zwischen Europa- und Chamber-Wahlen unterschieden hat.

Dennoch lässt sich anhand des Wahlresultates der CSV eine gewisse Kontinuität aus dem vergangenen Superwahljahr feststellen. Die CSV kann nach jahrelangen schlechten Umfragewerten ihre Wählerschaft konsolidieren – auch wenn dies auf einem für sie historischen Tief passiert. Den Abwärtstrend scheinen die Christsozialen jedenfalls vorerst gestoppt zu haben. Mit einem leichten Plus kann die CSV demnach ihr Ergebnis aus den Wahlen von 2019 bestätigen.

Anders sieht es hingegen bei der DP aus, die einen Sitz bei den Europawahlen hergeben muss. Eine schlimmere Wahlniederlage verhindern die Liberalen nur aufgrund ihres überdurchschnittlich beliebten Spitzenkandidaten Charles Goerens, der die meisten persönlichen Stimmen aller Kandidaten auf sich vereinen kann. Die Erklärung liegt vielmehr bei dem aufgestellten Personal: Mit Monica Semedo präsentierte die DP bei den vergangenen Europawahlen einen Promi-Kandidaten, der zahlreiche Stimmen auf sich vereinen konnte. Der Wegfall dieser Stimmen wurde den Liberalen in diesem Jahr zum Verhängnis, sodass sie sich mit einem Sitz begnügen müssen. Da in den Wahlkampfdebatten vor allem europäische Themenfelder dominierten, kann nicht unbedingt von einem Referendum zur schwarz-blauen Politik in Luxemburg die Rede sein.

Eine Kontinuität stellt auch die Wahlschlappe der Grünen dar, die ihren Sinkflug des vergangenen Jahres mit einem Minus von sieben Prozentpunkten fortführen. Am Wahlabend meinte Co-Parteipräsident Meris Sehovic noch, dass die Partei den Trend des vergangenen Jahres gebrochen habe. Ob seine Analyse mit ein paar Tagen Abstand zum Wahlabend, als die Freude über den geretteten Sitz im Europaparlament wohl überwog, noch gleich ausfallen wird, muss sich zeigen.


Wahlergebnisse nach Gemeinden

Wer sich die Wahlergebnisse nach Gemeinden anschaut, könnte meinen, dass neben den Grünen vor allem die DP ein Wahldebakel am Sonntag erlebt hat. Auch wenn die Liberalen ihren zweiten Sitz aus den vergangenen Wahlen nicht bestätigen können: Mit einem Minus von drei Prozentpunkten hält sich der Verlust jedoch in Grenzen. Dazu kommt auch, dass die DP bei den Wahlen 2019 vor allem vom Absturz der CSV profitieren und sich in zahlreichen Gemeinden als stärkste Kraft positionieren konnte. Das konnte die CSV in diesem Jahr umkehren und sich in einigen Zentrumsgemeinden wieder als stärkste Kraft behaupten.

Dass die Grünen komplett von der politischen Landkarte verschwunden sind und sich zukünftig wohl neu aufstellen müssen, legen nicht nur der Verlust von sieben Prozentpunkten nahe. In neun Gemeinden waren die Grünen bei den Europawahlen 2019 als stärkste Kraft hervorgegangen. In allen neun Gemeinden mussten die Grünen ihre Vormachtstellung an die LSAP oder CSV abtreten. Am stärksten waren die Verluste in den Südgemeinden Esch und Differdingen. In Esch stürzten die Grünen von 20,56 auf 10,21 Prozent ab, in der ehemaligen Grünen-Bastion Differdingen verloren sie sogar über die Hälfte ihrer Stimmen und fallen von 20,26 Prozent auf 7,86 Prozent ab.

Eine weitere Kontinuität, die in der Tendenz, aber nicht in dem Ausmaße zu erwarten war: die Reconquista des roten Südens der LSAP. Bereits bei den Gemeindewahlen und Chamber-Wahlen zeichnete sich ab, dass die LSAP bei ihrer eigentlichen Stammklientel im Süden wieder besser ankommt. Und so ist den Sozialisten gelungen, von Steinfort über Petingen, Esch bis hin nach Roeser den Süden wieder rot zu färben. Auch sind die Sozialisten in ihrer Nordbastion Wiltz wieder als stärkste Kraft hervorgegangen und haben in Vianden, Berdorf und Mertert im (Nord-)Osten des Landes die CSV und DP distanzieren können.

Die Gemeinde Frisingen, im Jahr 2019 noch fest in der Hand der ADR mit dem aus der Gemeinde stammenden Spitzenkandidaten Gast Gibéryen, hat sich 2024 die CSV mit einem kleinen Vorsprung vor der LSAP unter den Nagel gerissen. Die ADR schafft es hinter der DP nur noch auf Platz vier.


Der „Goerens-Effekt“

Bei Europawahlen wird besonders stark nach Köpfen gewählt, heißt es. Doch stimmt das überhaupt? Ein genauer Blick auf die Verteilung der Listen- und Personenstimmen offenbart ein anderes Bild. Im Allgemeinen lässt sich feststellen, dass es bei fast allen Parteien im Vergleich zu den vergangenen Nationalwahlen keinen signifikanten Unterschied gibt, wie viele Stimmen sie jeweils über ein Listenkreuzchen oder über die direkte Wahl eines Kandidaten erhalten haben. Einzige Ausnahme: die DP. Bei der Chamber-Wahl im Oktober 2023 machten die nominellen Stimmen für die liberalen Kandidaten einen Anteil von 35 Prozent an den Gesamtstimmen aus. Bei der aktuellen Europawahl ist dieser Anteil auf 44 Prozent gestiegen. Dieser Zuwachs lässt sich wohl auf Spitzenkandidat Charles Goerens zurückführen, der parteiübergreifend von allen Kandidaten die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte (86.132). Die DP erlebt bei der Europawahl also einen „Goerens-Effekt“.

Ein deutlich weniger ausgeprägter „Kartheiser-Effekt“ lässt sich auch bei der ADR feststellen. Die Partei sammelt traditionell verhältnismäßig mehr Stimmen über ihre Liste als über Personen. Bei der Parlamentswahl lag der Anteil der Kopf-Stimmen im vergangenen Jahr bei 20 Prozent. Zur Europawahl hat die ADR diesen Wert auf 24 Prozent steigern können. Bei den übrigen Parteien läuft die Stimmverteilung nach bekannten Mustern. Die LSAP und vor allem „déi gréng“ profitieren von einem besonders hohen Anteil an persönlichen Stimmen (38 bzw. 42 Prozent), die CSV liegt konstant um die 34 Prozent.

Was persönliche Stimmen angeht, sieht es so aus, als hätte Tilly Metz den Sitz der Grünen im Alleingang gerettet. Zieht man die Listenstimmen von den Ergebnissen der einzelnen Kandidaten ab und betrachtet nur die persönlich abgegebenen Stimmen, rückt die Grünen-Abgeordnete von Platz zehn auf Platz vier der nationalen Kandidatenliste vor, hinter Goerens (der auch diese Liste mit Abstand anführt), Hansen und Angel. Ein kleiner „Metz-Effekt“, sozusagen.


Die Wahl der Jungen und Frauen?

In den vergangenen Wochen des EU-Wahlkampfs blickten einem von den Plakaten der luxemburgischen Parteien viele junge Gesichter entgegen. Neben etablierten EU-Parlamentariern stellten LSAP, DP und „déi gréng“ mit Danielle Filbig, Amela Skenderović und Fabricio Costa drei Nachwuchskräfte unter 30 Jahren als Co-Spitzenkandidaten auf. Obwohl bislang national eher unbekannt, haben diese Jungkandidaten bei der aktuellen Wahl ein beachtliches Ergebnis hingelegt. Filbig holte auf der stark besetzten LSAP-Liste mit 45.437 die viertmeisten Stimmen (und landete vor Franz Fayot). Über alle Parteien hinweg konnte sich die LSAP-Frau aus dem Norden damit national sogar den achten Platz sichern. Auf Platz neun folgt Skenderović mit 44.932, noch vor der Grünen-Politikerin Tilly Metz, die einen Sitz im EU-Parlament gewinnt.

Eine der kleineren Überraschungen des Abends ist Liz Braz gelungen. Die LSAP-Abgeordnete aus dem Süden konnte bei der Europawahl ihre Siegesserie mit dem dritten Wahlerfolg in einem Jahr fortsetzen. Nach ihrem Einzug in den Escher Gemeinderat im Juni und ihrem Chamber-Mandat im Oktober 2023 landete Braz bei der Europawahl direkt hinter LSAP-Spitzenkandidat Marc Angel und holte landesweit von allen Kandidaten die fünftmeisten Stimmen – auch vor Martine Kemp, die ihr EU-Mandat für die CSV nicht verteidigen konnte. Zu den großen Verliererinnen der Wahlnacht gehört die ehemalige EU-Abgeordnete Monica Semedo, die in diesem Jahr als Spitzenkandidatin für Fokus neben Frank Engel antrat. Semedo verlor im Vergleich zu 2019 mehr als 45.000 Stimmen.

Für luxemburgische Jungpolitiker und vor allem Jungpolitikerinnen kann diese Europawahl nur ein Motivationsschub sein – von den zehn meistgewählten Kandidaten sind vier noch unter 30 Jahre alt.