IslamismusBedrohungslage in Europa konstant hoch

Islamismus / Bedrohungslage in Europa konstant hoch
Auch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sieht weiterhin „akute Gefahr“ Foto: Britta Pedersen/dpa

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Auch wenn die Täterschaft der Terrormiliz Islamischer Staat noch nicht bestätigt ist: Der Anschlag in Moskau hat eine Debatte auch über die Bedrohungslage in Europa entfacht. Wie groß ist die Gefahr durch extremistische Gruppen?

Terroranschläge wie der in Russland lösen Entsetzen aus und machen gleichzeitig eigene Schwächen bewusst. Der Angriff auf eine Konzerthalle am nordwestlichen Stadtrand von Moskau am Freitag, der mehr als 130 Menschen das Leben kostete, lässt auch in Deutschland die Alarmglocken schrillen – etwa mit Blick auf die Fußball-EM in diesem Sommer. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte der Süddeutschen Zeitung am Wochenende: „Die Gefahr durch islamistischen Terrorismus bleibt akut.“ Es sei davon auszugehen, dass die Terrorgruppe „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ den mörderischen Terroranschlag zu verantworten habe. Von dieser Gruppe gehe derzeit auch in Deutschland die größte islamistische Bedrohung aus. Khorasan (auch: Chorasan) ist die historische Bezeichnung für eine Region in Zentralasien, zu der Teile der heutigen Staaten Afghanistan, Pakistan und Iran gehörten. Der IS-Ableger mit diesem Namen hat sich zwar zu dem Anschlag nahe Moskau bekannt, doch russische Staatsmedien und Propagandisten sehen die Drahtzieher beim ukrainischen Geheimdienst in Kiew. Die Ukraine weist das zurück.

Politiker der Koalitionspartner Grüne und FDP pflichteten Faeser derweil bei. Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sagte unserer Redaktion: „Die Bedrohungslage durch islamistische Terroristen in Europa, auch und gerade in Deutschland, ist konstant hoch.“ Vor diesem Hintergrund sei die Terror-Gefahr eine von zahlreichen Sicherheitsherausforderungen für die anstehende Europameisterschaft in Deutschland. „Die deutschen Sicherheitsbehörden werden in den nächsten Monaten personell maximal gefordert sein und brauchen dafür die volle politische Unterstützung des Bundes und der Länder.“ Er sprach sich auch für einen beständigen und engen Austausch und für verbindliche Abstimmungen mit den internationalen Partnern aus, „um die Gefahr des islamistischen Terrors konsequent zu unterbinden“. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai betonte: „Der Kampf gegen den menschenverachtenden Terror muss nach wie vor im Fokus der Politik und der Sicherheitsbehörden bleiben. Auch dürfen Konfliktregionen in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten nicht aus dem Blick verloren gehen.“

Festnahmen im thüringischen Gera

Erst am Dienstag hatte die Bundesanwaltschaft im Raum Gera in Thüringen zwei mutmaßliche Islamisten des IS-Ablegers festnehmen lassen. Die Männer im Alter von 30 und 23 Jahren sollen einen Anschlag auf das schwedische Parlament geplant haben – offenbar waren öffentliche Koranverbrennungen der Grund dafür.

Die gefährlichste Waffe des IS ist die Unberechenbarkeit. Die Terrororganisation ist nicht wählerisch bei der Rekrutierung und lässt ihre Anhänger Anschläge ohne großes Training verüben – es reicht im Zweifel schon ein Messer oder ein schweres Fahrzeug. Deshalb kommt der Prävention auch eine große Rolle zu. Und radikal-islamische oder dschihadistische Gruppen nehmen besonders gerne junge Muslime in den Blick, die auf der Suche nach Identität leicht beeinflussbar sein können.

Der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, Mouhanad Khorchide, sieht derzeit aber keine Radikalisierungswelle. Er stellte zudem fest: „Salafistische Milieus sind nicht mehr so stark wie vor zehn Jahren, als sich Jugendliche über den Salafismus dem IS angeschlossen haben.“ Allerdings rücken andere Gruppierungen in den Vordergrund, wie die vor allem online sehr aktive Islamistengruppe Hizb ut-Tahrir. „Deren Rhetorik ist eine andere als die der Salafisten. Salafisten teilen die Welt in Gläubige und Ungläubige auf. Angehörige des politischen Islams sehen sich als Opfer eines rassistischen Westens“, sagt Khorchide und erläutert: „Sie sagen: Wir sind die People of Color und dort ist der weiße Mann. Dort sind die Kolonialmächte und wir sind die Unterdrückten. Die Sprache wird zu einer moralischen Sprache und ist damit anschlussfähiger in der Gesellschaft. Gemeint ist aber weiterhin, dass der Westen Feind des Islams ist.“

Nach Angaben des Professors für Islamische Religionspädagogik erreichen sie damit Jugendliche, die sich benachteiligt fühlen. „Auch Hizb ut-Tahrir wollen ein Kalifat, aber sie kommunizieren das nicht. Sie vermitteln den Jugendlichen das Gefühl: Wir verstehen euch.“ Khorchide erzählt von einem Gespräch mit einem Jugendlichen, der sich einer extremistischen Gruppe angeschlossen hatte und ins Gefängnis kam. Am ersten Tag seiner Haft sei sein Weltbild erschüttert worden: „Es ging um drei Fragen, die ihm im Jugendgefängnis gestellt wurden: Brauchst Du einen Gebetsteppich? Brauchst Du einen Koran? Nimmst Du am Freitagsgebet teil? Er erzählte mir: Das hat mich total irritiert. Ich dachte, die hassen uns.“ Laut Khorchide findet sich hier auch der Ansatz für die Prävention: „Die große Erzählung in seinem Kopf wurde mit kleinen Gesten infrage gestellt.“