Bangen um die große Koalition: Die SPD zählt aus

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Selten ist ein Post-Lastwagen so gut gesichert worden. Unter Polizeischutz werden bei der SPD die roten Kisten mit den Stimmen ausgeladen, die über die Regierung in Deutschland entscheiden.

Die Auszählung des in ganz Europa mit Spannung verfolgten SPD-Mitgliederentscheids über den erneuten Eintritt in eine Große Koalition hat begonnen. Am Samstag traf um kurz vor 17.00 Uhr der Post-Lastwagen mit den Abstimmungsbriefen am Willy-Brandt-Haus in Berlin ein. Nach dem Öffnen mit zwei Hochleistungsschlitzmaschinen, die rund 20.000 Briefe pro Stunde öffnen, sollten rund 120 SPD-Mitglieder die ganze Nacht die Stimmen auszählen.

Von dem Ergebnis hängt ab, ob Deutschland über fünf Monate nach der Bundestagswahl eine neue Regierung bekommt und ob Angela Merkel (CDU) sich am 14. März im Bundestag zur Kanzlerin wiederwählen lassen kann. Es sollte am Sonntagmorgen gegen 9.00 Uhr in der SPD-Zentrale verkündet werden. Damit das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt, mussten die Helfer ihre Telefone abgeben, die Glasfront des Willy-Brandt-Hauses war zudem flächendeckend mit Sichtschutzfolie abgeklebt worden.

Der gelbe Post-Lastwagen traf unter Polizeischutz an der SPD-Zentrale ein, darin befanden sich die roten Boxen mit Hunderttausenden Stimmbriefen aus ganz Deutschland. Stimmberechtigt waren 463.723 SPD-Mitglieder. 2013 hatte es bei dem ersten Koalitionsvotum der Mitglieder eine Zustimmung von rund 75 Prozent zur Großen Koalition mit der Union gegeben, dieses Mal ist das Ergebnis völlig offen.

Da die SPD bei der Bundestagswahl auf 20,5 Prozent abgestürzt war, sehen viele Mitglieder die SPD eher in der Opposition. Zudem werden die Bündnisse mit Merkel als Grund für den Verlust von Profil verantwortlich gemacht, viele Bürger wüssten nicht mehr, wofür die älteste Partei Deutschlands noch stehe. Der Anführer des Nein-Lagers, Juso-Chef Kevin Kühnert, soll unabhängig vom Ausgang intensiv in den geplanten Erneuerungsprozess der SPD eingebunden werden.

Nein führt zu Neuwahlen

Ein Nein würde über kurz oder lang wohl zu Neuwahlen führen. Unklar ist, ob die designierte Parteichefin Andrea Nahles dann noch beim Parteitag am 22. April in Wiesbaden für den Vorsitz kandidieren wird. Sie hat für die Annahme des Koalitionsvertrags geworben, der neue Ausgaben von bis zu 46 Milliarden Euro und Entlastungen für viele Bürger etwa beim Solidaritätszuschlag („Soli“) vorsieht.

Die Kosten des Entscheids belaufen sich auf rund 1,5 Millionen Euro. Nahles bekräftigte, sie glaube an ein Ja. Parallel zur Auszählung traf sich der 45-köpfige Vorstand zu einer Klausurtagung, um den geplanten Erneuerungsprozess zu beraten. Der nach dem Rücktritt von Martin Schulz kommisarische Parteichef Olaf Scholz sprach von einer sehr hohen Beteiligung. Die SPD werde gestärkt aus der Entscheidung hervorgehen. Die SPD sei unverändert eine „sehr kräftige Volkspartei“, so Scholz.

Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) erwartet keine dauerhaften Verwerfungen durch die kontroversen Debatten. „Die SPD wird aus dem Mitgliedervotum gestärkt und geschlossen herausgehen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Alle hätten mit Sachlichkeit und Fairness debattiert. „Das ist nicht zuletzt auch das große Verdienst der Jusos und von Kevin Kühnert“, sagte Maas mit Blick auf den Juso-Chef.

Nahles betonte, es sei wichtig, „dass wir Raum schaffen für Zukunftsdebatten in der SPD“ – unter anderem die revolutionären Veränderungen in der Arbeitswelt durch Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Roboter. Auch die Macht großer Datenkonzerne, der Druck auf die Demokratie und die Krisen in Europa treiben die Partei um.

Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) sieht seine Partei für den Fall eines SPD-Neins gerüstet. „Wir haben uns bestens vorbereitet, in eine neue Koalition mit den Sozialdemokraten zu gehen, aber wir haben auch genügend Selbstbewusstsein für den anderen Fall entwickelt“, sagte er dem Tagesspiegel. „Unsere Position lautete immer: Eine andere Entscheidung der SPD wirft die CDU nicht um.“ Für diesen Fall sei der weitere Weg verfassungsrechtlich klar und eindeutig. „Dann ist erst einmal ein Kanzler zu wählen, unsere Kandidatin dafür war immer Angela Merkel“, sagte er. Die Partei stehe sehr geschlossen da.

CDU-Vize Thomas Strobl sagte der Funke Mediengruppe (Sonntag), die CDU sei auch offen für die Bildung einer Minderheitsregierung. „Wenn es Deutschland dient, arbeiten wir auch in einer Minderheitsregierung“, sagte er. „Für uns gilt immer, ganz eindeutig: zuerst das Land, dann die Partei.“

CDU und CSU würden in einer bislang nie dagewesenen Minderheitsregierung alle Minister stellen. Merkel könnte aber immer über ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden, da es eine Mehrheit gegen die Union gibt. Und international hätte die Kanzlerin kaum Prokura, etwa in der Europapolitik.

Aus Sicht von CSU-Vize Manfred Weber wäre eine Neuwahl der „einzig vernünftige und realistische Weg“, sollten die SPD-Mitglieder mehrheitlich gegen eine Neuauflage der GroKo stimmen. Das parlamentarische System in Deutschland sei auf stabile Mehrheiten ausgerichtet, daher wäre eine Minderheitsregierung auf längere Zeit „abenteuerlich“, sagte der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament den Funke-Zeitungen. „Deutschland würde sich damit als wesentlicher Faktor in Europa und der Welt abmelden.“