InterviewAuf den Spuren Tintins: Astronaut Raphäel Liégeois freut sich auf das Abenteuer All

Interview / Auf den Spuren Tintins: Astronaut Raphäel Liégeois freut sich auf das Abenteuer All
Stolz und voller Emotionen war Raphäel Liégeois, als er in Paris von seiner Nominierung erfuhr Foto: ESA/Sebastiaan ter Burg

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Einmal ins All fliegen: Das ist für viele Menschen ein ferner Traum. Für einen Belgo-Luxemburger könnte dieser Traum aber bald in Erfüllung gehen: Raphäel Liégeois (34) wurde Ende November als Mitglied der neuen Astronautenklasse der European Space Agency (ESA) vorgestellt. Mit dem Neurowissenschaftler hat sich das Tageblatt über Kindheitsträume, seine Erfahrungen beim Auswahlverfahren und das anstehende Training im Astronautenzentrum in Köln unterhalten.

Tageblatt: Was wollten Sie als Kind mal werden, wenn Sie groß sind?

Raphäel Liégeois (lacht): Ganz ehrlich: Astronaut. Das war immer schon ein Kindheitstraum von mir. Vor allem wegen Tintin: Bänder wie „Objectif Lune“ oder „On a marché sur la Lune“ haben mich früh geprägt. Das hat mich über die Jahre hinweg begleitet – auch wenn mir bewusst war, dass die Chancen äußerst gering waren. Aber ich habe es immer im Hinterkopf behalten.

Hatten Sie immer das feste Ziel vor Augen, mit einer Rakete in Richtung ISS oder Mond zu fliegen? Oder gab es auch andere Gründe, weshalb Sie sich für Wissenschaften entschieden haben?

Wissenschaften haben mich von klein auf fasziniert. Ich wollte schon immer dabei helfen, eine bessere Welt zu erschaffen. Deshalb habe ich mich zunächst auch fürs Ingenieurswesen entschieden. Das klingt zwar etwas hochnäsig, doch das war wirklich einer der Beweggründe. Meinem Kindheitstraum hat es natürlich nicht geschadet, obschon lange Zeit nur Piloten und Militärangehörige als Astronauten infrage kamen. Erst mit den Forschungsmissionen auf der ISS (International Space Station) hat sich der Fokus mehr auf Wissenschaftler verschoben. Für meine Karrierewahl war das aber nicht ausschlaggebend.

Was hat Sie letztendlich dazu bewogen, Anfang 2021 eine Kandidatur bei der European Space Agency einzureichen?

Ich wusste, dass die ESA quasi alle zehn Jahre rekrutiert und die letzte Bewerbungswelle schon eine Weile her war. Es war also drauf und dran. Und weil ich diese Möglichkeit immer in Betracht gezogen hatte, habe ich die Entwicklungen zumindest aus der Ferne aufmerksam verfolgt. Ich hatte schon seit einer Weile den Entschluss gefasst, bei einem nächsten Aufruf meine Kandidatur einzureichen. Als die Posten dann ausgeschrieben wurden, habe ich nicht lange gezögert. Zu diesem Zeitpunkt war ich auch fest dazu entschlossen, mich zu beweisen und es nicht nur auf gut Glück zu versuchen.

Das anschließende Auswahlverfahren war recht aufwendig. Wie haben Sie diese 18 Monate erlebt?

Es war vor allem langwierig. In einer ersten Phase hat man es noch geschafft, zwischen den einzelnen Etappen etwas Abstand zu gewinnen und klaren Kopf zu bewahren. Ich konnte mich dann wieder auf die Arbeit konzentrieren und alltäglichen Dingen nachgehen, ohne zu sehr an die Kandidatur zu denken. Ansonsten macht man sich verrückt, wenn man die Tests bis ins kleinste Detail analysiert und jede einzelne Antwort auf die Waage legt. Zum Schluss wurde es dann aber etwas intensiver, mit den letzten zwei, drei Etappen innerhalb eines Monats. Positiv war auf jeden Fall aber die Kollegialität unter den Kandidaten. Während der Tests habe ich viele interessante Menschen kennengelernt. Das wird mir auf jeden Fall in guter Erinnerung bleiben.

Reges Medieninteresse an der Präsentation der neuen Astronauten in Paris
Reges Medieninteresse an der Präsentation der neuen Astronauten in Paris Foto: ESA/Sebastiaan ter Burg

Die neue Astronautenklasse wurde am 23. November in Paris vorgestellt. Sie wussten quasi bis zur letzten Minute nicht, ob Sie zu den Karriere-Astronauten gehören oder Teil der Reserve sein würden. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von Ihrer Nominierung erfuhren?

Freude, Stolz … die unterschiedlichsten Gefühle. Ich habe unverzüglich meine Eltern angerufen. Ich war schon glücklich, überhaupt so weit gekommen zu sein. Dass meine Bemühungen nicht umsonst waren. Dass ich alles für dieses Projekt gegeben hatte, auch wenn mich manchmal Zweifel plagten. Es war eine schöne Belohnung für all meine Bemühungen. Die Gefühle sind aber schnell einer gewissen Verantwortung gewichen. Ich stehe nun in der Pflicht, diese Gelegenheit zu nutzen und etwas Sinnvolles zu erschaffen. 

Meine Großmutter ist Luxemburgerin. Sie hat mir regelmäßig traditionelle Lieder aus dem Großherzogtum vorgesungen.

Raphäel Liégeois, Astronaut

Stichwort Familie: Sie haben Verbindungen zum Großherzogtum, besitzen seit 2018 auch die Luxemburger Staatsangehörigkeit …

Meine Familie stammt zu großen Teilen aus der Province de Luxembourg. Meine Ferien habe ich oft bei Angehörigen im Raum Aubange, Martelingen, Saint-Hubert verbracht. Meine Großmutter ist Luxemburgerin. Sie hat mir regelmäßig traditionelle Lieder aus dem Großherzogtum vorgesungen. Wegen der Arbeit sind meine Eltern vor knapp 20 Jahren nach Luxemburg gezogen, wo sie heute noch leben. Wegen des Studiums habe ich mich kurze Zeit später in Belgien niedergelassen. Ich bin aber oft zu Besuch in Differdingen, bin auch mit dem Campus in Belval vertraut. Vor allem wegen der Luxemburger Bemühungen im Bereich der Weltraumforschung.

Zur Person

Raphaël Liégeois wird 1988 in Belgien geboren. Im Alter von zwölf Jahren zieht er mit seinen Eltern nach Differdingen, wo Teile seiner Familie heute noch wohnen. Laut Angaben der ESA spricht er Französisch, Englisch und Niederländisch.
Von 2005 bis 2011 ist Liégeois an der Université de Liège eingeschrieben, wo er zunächst biomedizinische Technik studiert. Gleichzeitig macht er einen Abschluss als „Ingénieur centralien“ an der Ecole centrale de Paris im Jahr 2009 und absolviert seinen Master in Physik an der Université Paris-Sud Orsay im Jahr 2010. Während dieser Zeit nimmt der Wissenschaftler an Experimenten der französischen Weltraumagentur CNES teil. Anschließend widmet sich Liégeois seinem Doktorat in Neurowissenschaften an der Université de Liège, wo er u.a. mathematische Modelle der Gehirnfunktionen entwirft und 2015 schließlich promoviert.
Zwischen 2015 und 2017 ist der junge Wissenschaftler als Forscher an der National University of Singapore tätig, bevor er als Forschungsbeauftragter an die Ecole polytechnique fédérale de Lausanne wechselt. In dieser Zeit ist Liégeois auch einige Monate lang als Forscher an der renommierten Stanford University in den USA beschäftigt. 2021 unterschreibt der heute 34-Jährige einen Vertrag als Forschungs- und Lehrbeauftragter an der Universität Genf. Er bleibt aber auch der Ecole polytechnique fédérale in Lausanne erhalten. Seine Forschungsprojekte werden in dieser Zeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Privat fliegt Liégeois gerne mit Heißluft- und Gasballons. Er hat auch eine Lizenz für Gleitflugzeuge sowie Tauch- und Segelscheine. 2017 gönnt sich der Belgo-Luxemburger eine viermonatige Auszeit, um zusammen mit seiner Ehefrau von Singapur nach Belgien zu radeln und Poeten in ganz Asien und Europa zu besuchen. Poesie gehört nämlich zu den Leidenschaften des Astronauten. Er liest aber auch gerne Biografien und betreibt aktiv Sport, wie etwa Schwimmen, Radfahren, Tauchen und Segeln.

(Quelle: ESA)

Der 34-jährige Wissenschaftler kommt oft nach Differdingen, um die Familie zu besuchen
Der 34-jährige Wissenschaftler kommt oft nach Differdingen, um die Familie zu besuchen Foto: ESA/Sebastiaan ter Burg

Luxemburg investiert viel in diesen Bereich, was manchen Steuerzahlern sauer aufstößt. Können Sie diese Bedenken nachvollziehen?

Dass sich Menschen fragen, was bei den hohen Summen für die Allgemeinheit herausspringt, ist durchaus nachvollziehbar. Dabei spielt vor allem die Förderung von Wissenschaft und Forschung eine wichtige Rolle. Die Menschheit ist seit jeher fasziniert vom All. Astronauten haben die Gabe, ganze Generationen zu inspirieren. Ich bin etwa mit Frank de Winne aufgewachsen, dem zweiten Belgier im All und Leiter des Astronautenzentrums in Köln. Das hat mich geprägt. Bemannte Raumflüge könnten junge Menschen dazu ermutigen, Naturwissenschaften zu studieren und die Gesellschaft nachhaltig zu prägen. Allerdings sollten wir uns nichts vormachen: Natürlich dominieren auch wirtschaftliche Interessen. Viele Unternehmen investieren astronomische Summen – und das nicht aus philanthropischen Beweggründen. Letztendlich ist es wichtig, dass Luxemburg sich in an der Erschließung dieser Branche beteiligt, um mitbestimmen zu können und die Nutzung des Weltraums nach europäischen, friedfertigen Werten mitzuprägen.

Sie haben Ingenieurswesen studiert, besitzen ein Doktorat in Neurowissenschaften. Wie gedenken Sie, diese Disziplin bei den Missionen auf der internationalen Raumstation einzusetzen?

Die Experimente auf der ISS unterliegen einem strengen Prozess. Astronauten können sich nur ganz begrenzt mit einbringen, da das Programm schon Jahre im Voraus festgelegt wird. Bei einem Aufenthalt auf der Weltraumstation wird eine ganze Bandbreite an Experimenten durchgeführt. Demnach werde ich mich an Bord nicht nur der neurowissenschaftlichen Forschung widmen, sondern auch anderen Disziplinen. Wobei mir mein Background zweifellos zugutekommen wird. Abgesehen davon hat das Interesse an neurowissenschaftlichen Experimenten deutlich zugenommen. So altern Zellen im All viel schneller als auf der Erde, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Erkenntnis, wie sich dieser Prozess auf die Entwicklung von Zellen auswirkt, könnte vor allem der Krebsforschung dienen.

Astronauten haben die Gabe, ganze Generationen zu inspirieren

Raphäel Liégeois, Astronaut

Wie geht es jetzt weiter?

Los geht es am 3. April mit der Grundausbildung von einem Jahr im Astronautenzentrum in Köln. Dabei wird es vor allem darum gehen, alle Astronauten auf ein gleiches Niveau zu bringen. Wir haben alle unterschiedliche Fähigkeiten. Sophie Adenot aus Frankreich ist beispielsweise Pilotin beim Militär und hat bestimmte Erfahrungen im Risikomanagement, die andere nicht haben. Teambuilding wird ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, auch wenn die europäischen Astronauten aller Voraussicht nach nicht gleichzeitig eingesetzt werden. Bei den Flügen sind wir nämlich auf die Zusammenarbeit mit den USA angewiesen. Und deren Plätze sind begrenzt.

Wann starten Sie ins All?

Ein Datum steht noch nicht fest. Nach der Grundausbildung – bei der wir übrigens auch Russisch lernen müssen – befinden sich die Astronauten im sogenannten „pre-assigment training“. Und das so lange, bis man einem Flug zugeordnet wird. Anschließend wird man zwei Jahre lang auf die Mission vorbereitet. Theoretisch kann ich also erst im April 2026 zur ISS starten. Dann hängt es aber auch von der Reihenfolge der Flüge ab und deren Frequenz. Für die letzte Astronautenklasse waren zunächst nur drei Flüge vorgesehen. Letztendlich kamen aber alle sieben Astronauten zum Zuge. Manchmal geht es schneller als erwartet.

Worauf freuen Sie sich am meisten?

Dass es endlich losgeht. Momentan befinden wir uns noch zwischen zwei Tänzen. Zum einen habe ich ein Engagement an der Uni bis Ende Februar, zum anderen nehme ich bereits Termine für die ESA wahr. Konkreter wird es wohl, wenn wir das Training in Angriff nehmen. Ich freue mich einfach auf das ganze Abenteuer.

Astronautenklasse 2022

Mit Raphaël Liégeois hat die European Space Agency (ESA) am 23. November in Paris den ersten Astronauten mit Luxemburger Staatsangehörigkeit nominiert. Der Wissenschaftler von der Universität Genf wird zwar unter belgischer Flagge fliegen, ist zum Teil aber in Differdingen aufgewachsen und besitzt seit 2018 auch den Luxemburger Pass.
Der Wissenschaftler ist Mitglied einer fünfköpfigen Astronautengruppe, die in den letzten 18 Monaten unter fast 23.000 Bewerbern ausgesucht wurden. Gleichzeitig wurden elf Reserve-Astronauten und ein sogenannter Para-Astronaut fürs Training in Köln ausgewählt. Neben Liégeois sind auch die Französin Sophie Adenot, die Britin Rosemary Coogan, der Spanier Pablo Álvarez Fernández und der Schweizer Marco Alain Sieber für künftige Missionen auf der ISS vorgesehen. Indessen umfasst die Gruppe der Reserve-Astronauten sechs Frauen und sechs Männer, die bei einem Ausfall oder bei späteren Missionen zum Zuge kommen werden.
Nach dem ursprünglichen Aufruf im Februar 2021 gingen bei der ESA insgesamt 22.523 Bewerbungen ein. Die meisten davon stammten aus Frankreich (7.087), gefolgt von Deutschland (3.695) und dem Vereinigten Königreich (2.000). In Luxemburg hatten sich in einer ersten Phase 64 Kandidaten gemeldet. Sechs davon wurden zur zweiten Phase eingeladen – mit 530 Frauen und 831 Männern aus den anderen 21 Mitgliedstaaten.
An der Grundausbildung wird erstmals auch der sogenannte Para-Astronaut John McFall teilnehmen. Der Brite hat eine körperliche Behinderung, soll damit aber auf einen Flug in den Weltraum vorbereitet werden. (ham)