Auf Belval wohnen: Ein Leben zwischen Grautönen und Industriezeugen

Auf Belval wohnen: Ein Leben zwischen Grautönen und Industriezeugen

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Das Belvaler Viertel steckt noch in den Kinderschuhen: Zukünftig sollen dort 7.000 Menschen leben. Die Kombination aus ehemaligem Industriestandort und modernen Bauten zieht gerade viele junge Menschen an. Auch der 30-jährige Marc Hermes schlägt seine Zelte dort auf.

Der erste Eindruck vom Viertel mag etwas grau und menschenleer sein. Der Blick erstreckt sich über viereckige, mehrstöckige Bauwerke, die zwischen Zeitzeugen der industriellen Vergangenheit des Landes hochgezogen wurden. Hinter diesen Fassaden steckt mehr Leben, als viele vielleicht denken: Mittlerweile haben 3.100 Menschen in dieser Kulisse ein neues Zuhause gefunden. So mancher hat von seiner Wohnung aus eine außergewöhnliche Sicht auf die ehemaligen Hochöfen.

Genau diese Aussicht hat Marc Hermes, wenn er aus dem Fenster seiner neuen Wohnung blickt, die er zusammen mit seiner Freundin beziehen wird. Für ihn ist es bereits der zweite Umzug nach Belval. Vor fünf Jahren hat er für drei Jahre auf Belval gelebt. Dann ist er nach Esch gezogen. Nun wollte er mit seiner Freundin eine Wohnung kaufen – mit der Voraussetzung, dass sie in Belval liegt.

Warum hat es ihm dieses Viertel so angetan? „Es gibt eigentlich alles hier und ich kann alles zu Fuß machen“, sagt der 30-Jährige. Einkaufen oder mal abends etwas trinken gehen, das kann er alles direkt vor Ort. Das Auto braucht er dann nur noch für außerhalb. Seine Freundin kann nach dem Umzug direkt mit dem Zug zur Arbeit fahren. Die Wohnungspreise liegen seiner Meinung nach etwas über dem sonst üblichen Durchschnitt: „Sie werden noch steigen. Eigentlich ist es überall zu teuer.“

Auf Wohnungssuche waren die beiden nicht sehr lange: Sie ist ihnen förmlich in den Schoß gefallen, da sie den Verkäufer bereits kannten. Die Apartments seien jedoch gefragt: „Die Immobilienagenturen haben gesagt, dass die Wohnungen innerhalb von Stunden verkauft sind.“ Große Nachfrage herrsche auch bei den noch gar nicht gebauten Objekten. Viele Leute bleiben nur einige Jahre. Das hat er zumindest bei seinem vorherigen Wohnkomplex wahrgenommen. „Fast alle 14 Tage ist jemand ausgezogen.“

Ameisen unter einem Stein

Das Paar selbst plant auch nicht, für immer dort zu bleiben: In fünf Jahren wollen sie weitersehen. Auch seine Freizeit kann Marc auf Belval verbringen. Er ist Mitglied einer Band, die fast nebenan probt. Als Hobby-Videograf bekommt er in den ansässigen Geschäften das nötige Zubehör. Dazu gebe es das Kino und die neue Bibliothek und die Rockhal. Jede Woche finden mehrere Konzerte statt. Auch auf dem großen Parkplatz „Square Mile“ werde am Wochenende öfters etwas geboten.

Seiner Meinung nach sind bereits mehr Leute auf Belval unterwegs, als es noch vor ein paar Jahren der Fall war – wenn auch immer noch nicht genug. Viele Geschäftslokale stünden auch nach wie vor leer. Obwohl es ein Uni-Viertel sei, fehle es an dem dazu passenden Nachtleben. „Am Tag sehe ich einige Studenten. Nachts eher weniger.“ Viele kämen von außerhalb und wohnten nicht in Uni-Nähe. Generell sei in den Cafés und Bars nach 1.00 Uhr Schluss. Die Lehrkraft führt dies auf die Wohnanlagen zurück, die sich in den oberen Stockwerken befinden.

Bis zu 17.000 Menschen kommen in der Woche nach Belval. Mehr als 200 Unternehmen haben sich inzwischen dort angesiedelt, die insgesamt 8.500 Angestellte beschäftigen. Diese seien hauptsächlich in der Mittagszeit zu sehen. Marc vergleicht sie mit 1.000 Ameisen, die unter einem Stein hervorkommen, wenn dieser angehoben wird. „Dann sind alle Terrassen besetzt und die Restaurants überfüllt.“ Auswahl gebe es schließlich genug: Vom Italiener und Chinesen bis hin zum Japaner sei alles vorhanden. „Komischerweise werden sehr viele Burger angeboten“, lacht er.

Kombination aus Pop- und Industriekultur

Etwas, das ihn bereits vor fünf Jahren gestört und sich immer noch nicht verbessert hat, ist die Verkehrssituation. „Abends zwischen 17.00 und 19.00 Uhr staut es sich bis zum Kreisverkehr Raemerich, weil es nur den einen Weg gibt. Abends ist es ähnlich.“ Es gebe noch eine andere Strecke, doch die werde nicht viel benutzt, da sie durch Esch führt. Bei ausverkauften Konzerten komme noch zusätzlicher Verkehr hinzu. „In Zukunft soll sich das ändern – doch das wurde schon vor fünf Jahren gesagt.“

Wie beschreibt er die Ästhetik des Viertels, die für viele etwas gewöhnungsbedürftig ist? – „Ziemlich grau. Das Ganze könnte etwas Farbe vertragen.“ Er findet es schade, dass nur graue Blöcke hochgezogen worden seien. „Es ist ein sehr schönes Bild, wenn der Hochofen abends beleuchtet wird. Doch dieser Grauton zieht sich durch alles. Vielleicht war das modern, als sie das alles geplant haben.“ Wenn der Himmel dann auch noch so grau sei wie am Montag, sei das schon etwas deprimierend. Abgesehen von diesen beiden Aspekten – dem Verkehr und dem Erscheinungsbild des Viertels – sei es schön, auf Belval zu leben.

Marc wünscht sich, dass Belval zu einer kleinen, autonomen Stadt wird. „Moderne Straßennamen wie die „avenue du Rock ’n’ roll“ oder „avenue du Swing“. Das zeige auch, dass die Rockhal – das erste Gebäude, das eröffnet hat – diesen Teil des Viertels definiere.

Durch die Konzerthalle kommen Menschen aus dem Ausland hierhin. „Es ist schön, zu sehen, wie sie vor dem Hochofen staunen.“ Dann wird sofort das Handy gezückt und es werden Fotos für Instagram geschossen. Besonders die Kombination aus Pop- und Industriekultur gefällt ihm: Beim Verlassen der Rockhal stehen die Konzertbesucher direkt vor einem Symbol der Stahlindustrie, auf der Luxemburg seinen Reichtum begründete. Mit diesem Hochofen verbindet Marc übrigens auch seine eigene Familiengeschichte: Sein Vater und sein Patenonkel haben „op der Schmelz“ gearbeitet.


LLC: 25.000 Besucher im Monat

Im September 2018 wurde das Luxembourg Learning Centre (LLC), das mitunter eine Bibliothek beherbergt, eröffnet. Das Gebäude umfasst 14.000 Quadratmeter. 9.000 davon sind frei zugänglich. Das LLC erstreckt sich über mehrere Stockwerke; jede Etage ist inhaltlich wie farblich einem anderen Themenbereich gewidmet. Den Besuchern stehen über 1.000 Plätze zur Verfügung, um ungestört zu arbeiten. Hinzu kommen Gruppen- und Arbeitsräume.

Auch stehen Laptops zur freien Verfügung. Bei der Konzeption des Gebäudes wurde die industrielle Vergangenheit des Standorts nicht vergessen: Die Fassade erinnert an die staubbedeckte Fenster der damaligen Arbeit. Bestandteile der ehemaligen Möllerei wie etwa Skip, eine Art Aufzug zu den Hochöfen, wurden als Zeugnis der Stahlindustrie ins neue Gebäude integriert. In den letzten neun Monaten haben durchschnittlich 25.000 Besucher das Angebot des Zentrums genutzt. Während der Examenszeit ist die Bibliothek samstags geöffnet. Laut Verantwortlichen arbeitet man derzeit aber daran, dies das ganze Jahr über zu gewährleisten.


Vier Wohnviertel

Eine Besonderheit von Belval ist, dass es sich über zwei verschiedene Stadtgebiete erstreckt: Die Verwaltung läuft über die Stadt Esch und die Gemeinde Sanem (Beles). Die Hochofenterrasse ist das Kernstück von Belval. Rund um die stillgelegten Hochöfen vermischen sich Arbeiten, Wohnen, Studieren und Kultur miteinander. Zwischen der Hochofenterrasse und dem Park Belval liegt das Geschäftsviertel „Square Mile“. Die Erschließung des Wohnviertels Belval Nord ist so weit abgeschlossen. Auf Belval Süd, das sich in Richtung Frankreich erstreckt, sollen bis 2027 550 Wohneinheiten entstehen, darunter 120 Einfamilienhäuser. Später sollen bis zu 7.000 Menschen auf Belval leben.


Forschung und Innovation

Belval ist ein Wissensstandort. Neben der Universität Luxemburg gibt es noch das Lycée Bel-Val, das derzeit rund 1.100 Schüler besuchen. Zudem entsteht gerade ein Schulzentrum. 5.700 Studenten, Schüler, Hilfskräfte und Forscher zählte Belval im letzten Jahr. Außerdem haben sich Forschungsinstitute (unter anderem LIST, Liser, Ilnas und LCBS) und einige Start-up-Firmen dort angesiedelt. Das Start-up-Zentrum Technoport unterstützt die Entwicklung in diesem Bereich. Die luxemburgische Agentur Luxinnovation dient als Schnittschnelle für Innovation und Forschung. Der „Fonds national de recherche“ unterstützt finanzielle Vorhaben im Bereich der Natur- und Geisteswissenschaften.


Wie Belval entstand

  • 1909: Der „Escher Bësch“ wird abgeholzt, um Platz für das Stahlwerk zu machen.
  • 1965: Das Stahlwerk wird bis 1979 komplett umgebaut und modernisiert.
  • 1993: Nach und nach werden die drei Hochöfen stillgelegt und durch einen Elektroofen ersetzt.
  • 2000: Der Luxemburger Staat und der Stahlkonzern Arbed gründen die Entwicklungsgesellschaft Agora.
  • 2005: Eröffnung der Rockhal.
  • 2008: Fertigstellung des Einkaufszentrums Belval Plaza I.
  • 2010: Eröffnung des Bahnhofs „Belval-Universität“.
  • 2015: Im September startet das erste Semester auf dem neuen Campus.
  • 2018: Eröffnung des „Luxembourg Learning Center“ im September.
Jang
14. Juni 2019 - 8.07

Een moderne Ghetto ?