Atombombe „Artikel 7“ rückt näher

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Die EU-Kommission hat ein Verfahren wegen möglicher Verletzung der demokratischen Grundwerte gegen Polen eingeleitet. Damit rückt ein Einsatz der Atombombe „Artikel 7“ näher, betont Jean Asselborn im Tageblatt-Interview.

Von Dhiraj Sabharwal

Tageblatt: Wie bedenklich sind die Fehlentwicklungen in Staaten wie Ungarn und Polen?

Jean Asselborn: Die EU hat einen Fehler begangen. Die Fehlentwicklungen in Ungarn wurden seit 2010 zunächst nicht ernst genommen – weder vom EU-Parlament noch von der EU-Kommission. Und vom EU-Rat gar nicht zu reden. Vor rund zwei Jahren wurde dann die PiS-Regierung in Polen gewählt. Man hat direkt erkannt, dass die Regierung extrem nationalistisch orientiert ist. Die Werte der EU werden seitdem mit Füßen getreten. Ich habe mir hier aber nie Sorgen um die Position des EU-Parlaments gemacht. Auch die EU-Kommission ist mit ihrem Vorgehen konsequent.

Ungarn und Polen haben sich zu Europas Schmuddelkindern entwickelt.

Wir haben in der EU Probleme: wir haben den Brexit, die Stabilisierung des Euros, die Koordination der Außenpolitik – all dies ist machbar. Was die EU aber nicht verkraftet: dass Mitgliedstaaten das Einmaleins der Kopenhagener EU-Beitrittskriterien mit Füßen treten.

Sind die Fehlentwicklungen in Polen der EU-Kommission wichtiger als jene in Ungarn?

Polen ist nicht wichtiger als Ungarn. Es handelt sich dennoch um einen Staat mit rund 40 Millionen Einwohnern. Polen war seit dem Fall der Berliner Mauer und der EU-Erweiterung eine Referenz für Staaten, die der Union beitreten wollten. Wenn aus Polen falsche Signale kommen – dass etwa die Demokratie mit Füßen getreten wird –, färbt das auf viele andere EU-Mitgliedstaaten ab.

Hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker richtig gehandelt?

Ja, Polen und Ungarn sind mit ihrem Verhalten nicht ganz alleine. Deshalb ist es sehr wichtig, dass jetzt reagiert wird. Mann muss EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, gratulieren. Das Ganze muss jetzt im EU-Rat weiterverfolgt werden.

Ungarns Premier Viktor Orban schaltet aber bereits auf stur.

Ja, Orban hat bereits gesagt, er ließe es nicht zu, dass Polen sanktioniert wird. Wir haben die Atombombe im EU-Rat: Artikel 7 der EU-Verträge, der die Einschränkung der Stimmrechte in der EU eines Mitgliedstaats vorsieht. Er wurde bislang noch nie genutzt. Jetzt ist es möglich, ihn umzusetzen. Allerdings braucht man dafür die Einstimmigkeit der Staaten im EU-Rat.

Wie stehen die Chancen und was steht auf dem Spiel?

Wenn wir keine Einstimmigkeit erhalten, sind jene Länder, die sich gegen die Umsetzung von Artikel 7 wenden, für das Scheitern verantwortlich. Wir dürfen uns auch nicht hinter einer einstimmigen Wahl – wenn es zu dieser kommen sollte – verstecken, um im Anschluss trotzdem nichts zu machen.

Was würde dies für Polen bedeuten?

Wenn sich Polen nicht an die EU-Standards in Sachen Rechtsstaatlichkeit hält, ist eine unabhängige Justiz nicht gewährleistet. Die Justiz bleibt von der aktuellen Mehrheitspartei abhängig. Polens Richter unterlägen weiterhin der Parteikontrolle.


Was ist Artikel 7?

Mit Artikel 7 des EU-Vertrags soll sichergestellt werden, dass sich alle EU-Mitgliedstaaten an Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit halten. Er sieht bei „schwerwiegender und anhaltender Verletzung“ der Werte als schwerste Sanktion eine Aussetzung der Stimmrechte des Mitgliedstaates vor.

Die Hürden dafür sind allerdings hoch. Das Verfahren sieht vor, dass zunächst offiziell festgestellt wird, dass in Polen die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ von EU-Werten besteht. Dafür wäre im Rat der Mitgliedstaaten eine Vier-Fünftel-Mehrheit erforderlich – das heißt 22 Länder müssten zustimmen.

In einem zweiten Schritt müssten die EU-Partner Polens dann sogar einstimmig feststellen, dass eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ der Werte tatsächlich vorliegt. Erst danach könnte mit sogenannter qualifizierter Mehrheit beschlossen werden, die Stimmrechte Polens in der EU auszusetzen. Die qualifizierte Mehrheit würde in diesem Fall die Zustimmung von mindestens 20 Staaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung erfordern.

Das Verfahren nach Artikel 7 ist in der Geschichte der EU noch nie zur Anwendung gekommen. Weil es so schwerwiegende Sanktionen wie einen Stimmrechtsentzug möglich macht, wird es in Brüssel auch als „Atombombe“ bezeichnet. In etlichen EU-Staaten gab es zuletzt Widerstand, es überhaupt in Erwägung zu ziehen. Als Grund gilt auch die Gefahr, dass im Zuge des Verfahrens nicht die erforderlichen Mehrheiten zustande kommen. Die EU könnte dann bei einem wichtigen Thema wie der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit bloßgestellt werden.  (dpa)

Reiner Seibt
22. Dezember 2017 - 11.37

Was soll die ganze entrüstende Diskussion, wenn u. A. auch in Deutschland mit der Richterbestellung genau so verfahren wird, wie das jetzt von Polen beschlossen wird. Scheinheiliger geht es nun wirklich nicht. Wer das nicht glauben will, kann sich hier https://www.juwiss.de/103-2017/ schlau machen - die Richter werden, wie jetzt in Polen von den Bundestagsparteien bestimmt!!!

ROBERT POLFER
21. Dezember 2017 - 22.57

Einstimmigkeit im EU Rat. Gudden Witz ??? System ass falsch . Majoriteit misst zielen . Och an der UNO . Et geet jo nie virun ......

Serenissima en Escher Jong
21. Dezember 2017 - 13.46

Was soll das ? die Anwendung der "Atombombe" verlangt Einstimmigkeit der EU Mitgliedstaaten: Ungarn hat schon angekündigt sein Veto einzulegen...also was nun?

Lucas
20. Dezember 2017 - 19.47

Das sehe ich auch so. Viele Länder haben die Folgen vom 2. Weltkrieg immer noch nicht verarbeiten können. Und wir können uns kaum vorstellen, wie manche Länder unter den Nazis und später dem Kommunismus nachhaltig gelitten haben. Heute steht die Türkei mit 100 Millionen Muslimen in der Schwebe, auch zu der EU gehören zu wollen, mit vollem Mitspracherecht, also Entscheidungsmacht, in allen Gremien, obschon das Land überhaupt nicht mehr dem entspricht, was es zur Zeit der "Beitrittsüberlegungen" war, und zudem gar nicht zu dem europäischen Europa gehört. Russland schon! Sollte dies der Fall doch werden, dann werden noch mehr Länder der EU den Rücken kehren oder sich innerlich von ihr verabschieden. Der Islam ist nämlich politisch-religiöse Ideologie; man braucht sich nur korrekt (also wissenschaftlich) zu informieren und sich umzusehen.

Norbert Muhlenbach
20. Dezember 2017 - 18.13

Ob das die betroffenen Laender beeindruckt? Atombombe? Wohl eher ein Sylvesterknaller. Osteuropa geht seinen eigenen Weg. Vielleicht ein guter Weg. Nicht alles was Bruessel ausbruetet muss auch geschluckt werden. Osteuropa hat sich erst vor 27 Jahren von der Knechschaft befreit, warum sollen sich die Staaten wieder unterwerfen, und das in einem Europa, das auseinanderfaellt?