GeschlechtergerechtigkeitAlleinerziehend, weiblich, arm: Wen Inflation und Wohnungskrise besonders hart treffen

Geschlechtergerechtigkeit / Alleinerziehend, weiblich, arm: Wen Inflation und Wohnungskrise besonders hart treffen
Frauen sind stärker von steigenden Lebensmittelpreisen betroffen als Männer, sagt eine aktuelle Liser-Studie Foto: Grafik/Jenny Fueldner

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Globale und lokale Krisen treffen auch die Menschen in Luxemburg – aber nicht alle gleich. Eine neue Studie von Liser und dem Ministerium für Gleichberechtigung und Diversität zeigt, wen die wirtschaftlichen Schocks der letzten Jahre am meisten belasten.

Luxemburg ist eines der reichsten Länder Europas, jeder 15. Einwohner ein Millionär. Das ist die eine Seite. Das Klischeebild, das viele Menschen vom Großherzogtum haben, zwischen Steueroase und EU-Hauptstadt. Aber es gibt auch eine andere Seite, und die wird in den vergangenen Jahren immer sichtbarer. Angefeuert von globalen und lokalen Krisen. Von steigenden Energiekosten, rasanter Inflation, unbezahlbarem Wohnraum. Da sind zum Beispiel die sogenannten „working poor“. Menschen, die in Luxemburg leben und arbeiten, deren Lohn aber nicht ausreicht, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Beinahe 13 Prozent der luxemburgischen Arbeitnehmer leben mit einem Armutsrisiko, sagt Statec, die Statistikbehörde des Landes. In der Gesamtbevölkerung waren es 2022 mehr als 17 Prozent. 17 Prozent, die mit weniger als 2.247 Euro pro Monat auskommen müssen. Die Krisen der vergangenen Jahre haben auch Luxemburg getroffen. Aber nicht alle Luxemburger gleich hart. 

„Keine Krise ist genderneutral“, sagt Yuriko Backes (DP) im Plenarsaal der Universitätsbibliothek. Es ist Karfreitag-Morgen und die Ministerin für Gleichstellung und Diversität zu Gast bei der Konferenz, die ihr Ministerium gemeinsam mit dem Luxembourg Institute of Socio-Economic Research, kurz: Liser, organisiert hat. Welche unterschiedlich starken Auswirkungen Krisen auf die Geschlechter hätten, habe man während der Covid-Pandemie erfahren können, so Backes. Frauen übernahmen mehr Care-Arbeit, mussten öfter Urlaub aus familiären Gründen nehmen. „Ohnehin schon vulnerable Gruppen sind in Krisenzeiten immer am meisten betroffen“, sagt die Ministerin weiter. Und nicht selten bedeutet das: Frauen.

Multiplikator für Ungerechtigkeit

Um diese Erfahrungen auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen, haben Mega und Liser eine Studie auf den Weg gebracht. Sie trägt den Titel „Preisanstieg und Geschlechterungleichheit in Luxemburg“ und untersucht, welche Rolle der Faktor Geschlecht in drei wichtigen Bereichen spielt: in der Wohnkrise, bei Konsum und Inflation und bei politischen Einstellungen zum Thema Nachhaltigkeit. Die kurze Antwort: Geschlecht spielt in all diesen Bereichen eine Rolle. Die etwas längere, im Wortlaut der Forscher: „Unsere Analyse zeigt, dass wirtschaftliche Schocks die schwächsten Teile der Bevölkerung benachteiligen können, und zwar sowohl kurzfristig, indem sie ihr Wohlbefinden verringern und sie stärker dem Risiko von Armut und materieller Entbehrung in den Bereichen Wohnen und Konsum aussetzen, als auch langfristig, indem sie sie von den notwendigen Veränderungen in den sozialen Präferenzen, Einstellungen und Normen abhalten, die mit dem nachhaltigen Wachstum einhergehen, das im Grünen Pakt für Europa propagiert wird.“

Was das in Detail und Praxis bedeutet, kann man an den Ergebnissen im Bereich Logement ablesen. Auf Grundlage von Daten aus dem Jahr 2019 hat das Liser untersucht, wie viel Geld luxemburgische Haushalte anteilig aufwenden müssen, um ihre Wohnkosten zu finanzieren – unterteilt nach Art des Wohnens (Eigentum oder Miete) und dem Geschlecht des „chef de ménage“, also der Person im Haushalt, die das meiste Geld verdient. Interessanterweise zeigen sich bei der Gesamtheit der Haushalte kaum Unterschiede beim Wohnkostenaufwand, wenn es um das Geschlecht des Haushaltsvorstands geht. Das nationale Mittel liegt bei 24 Prozent. In von Männern geführten Haushalten ist der Kostenanteil 23,6, bei Frauen 24,8. Geschlecht wird erst dann zu einem wirklich ausschlaggebenden Faktor, wenn Kinder ins Spiel kommen. Beim Blick auf Einpersonenhaushalte mit und ohne Kind zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern (s. Grafik). Verhältnismäßig am meisten zahlen müssen alleinerziehende Mütter: beinahe die Hälfte ihres verfügbaren Einkommens.

Kinder sind der Ungerechtigkeitsfaktor – noch mehr als Geschlecht

Marc Crochet, Generaldirektor Caritas

Eine Tendenz, die nicht nur bei der Analyse der Wohnkosten sichtbar wird, sondern auch bei den Wohnbedingungen. Auch hier zeigt die Studie, dass Frauen, die alleine mit einem oder mehreren Kindern leben, größere finanzielle Probleme haben – sowohl als Männer als auch als kinderlose Frauen. In der Diskussionsrunde der Konferenz bringt es Marc Crochet, Generaldirektor der Caritas, auf den Punkt: „Kinder sind der Ungerechtigkeitsfaktor – noch mehr als Geschlecht.“ Crochet kennt viele solcher Fälle aus seiner Arbeit. Und mahnt gleichzeitig, nicht nur auf die Zahlen zu schauen, sondern auch „auf Aspekte, die Zahlen nicht sagen“. Viele seiner Klienten würden aus der Statistik herausfallen, ihre Nöte seien so existenziell, sie hätten keine Zeit für eine Studienteilnahme.

Frauen priorisieren Lebensmittel und Heizen

Auch im Bereich Preisanstieg und Inflation zeigt der oberflächliche Blick zunächst nur marginale Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Betrachtet man jedoch Verbrauch und Konsum im Speziellen, offenbaren sich Abweichungen, die große Auswirkungen haben. Von Frauen geführte Haushalte geben laut Liser im Gegensatz zu Männer-Haushalten einen größeren Anteil ihres Einkommens (unabhängig von dessen Höhe) für Grundbedürfnisse aus, also für Nahrungsmittel, Heizen und Elektrizität. Eben jene Bereiche, die in den vergangenen Jahren am stärksten von Preisanstiegen betroffen waren. Die Inflation treffe deshalb nicht alle Teile der Gesellschaft gleichermaßen, so die Autoren der Studie. Vielmehr wirkt sie wie ein Multiplikator für Geschlechterungerechtigkeit: „Inflation wirkt sich unterschiedlich auf Männer und Frauen aus – wegen ihrer systemisch unterschiedlichen Einkommenslevel, unterschiedlicher Konsumbedürfnisse, Präferenzen und Sparverhalten.“

„Gute Politik basiert auf Daten, Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen“, hat Yuriko Backes gleich zu Beginn der Konferenz gesagt. Da die Daten zu konkreten Treibern der Geschlechterungerechtigkeit nun einmal mehr vorliegen, ist das ein Satz, an dem sich die Ministerin in Zukunft wird messen lassen müssen. Die Wissenschaft muss keine Lösungen für gesellschaftliche Problem bieten, aber sie kann mit ihren Analysen der Politik helfen, Probleme zu verstehen. Oder wie es Liser-Mitarbeiterin Giorgia Menta ausdrückt: „Wir müssen den Einfluss von Geschlecht beachten, bevor wir eine politische Maßnahme überhaupt entwickeln.“