PolenWie ein kurdischer Spitaldirektor im Alleingang versucht, den Flüchtlingsstrom an der weißrussischen Grenze aufzuhalten

Polen / Wie ein kurdischer Spitaldirektor im Alleingang versucht, den Flüchtlingsstrom an der weißrussischen Grenze aufzuhalten
Der in Polen ansässige kurdische Arzt Arsalan Azzaddin hilft seinen Landsleuten, die vom belarussischen Machthaber zu politischen Zwecken missbraucht wurden Foto: Paul Flückiger

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Die Übermüdung ist hinter den dicken Brillengläsern nicht zu sehen. Doch Arsalan Azzaddins Blick wirkt nach wie vor entschlossen. Wir treffen uns in der Notaufnahme des staatlichen Spitals von Bielsk Podlaski, einer Kleinstadt rund 30 Kilometer westlich der polnisch-weißrussischen Grenze.

Hier ist Doktor Azzaddins Reich, hier ist der irakische Kurde seit Jahren der Chef. Und bisher hat das wenige interessiert, denn der gut ausgebildete und freundliche Ausländer war bei der großen polnischen Ärzteknappheit ein gern gesehener Gastarbeiter. Mit der Flüchtlingskrise an der EU-Außengrenze ist Dr. Azzaddin jedoch auf einen Schlag zumindest in Polen und Kurdistan berühmt geworden.

„Ich wollte mich überhaupt nicht in der Öffentlichkeit zeigen, glauben Sie mir“, sagt Arsalan Azzaddin mit einem entschuldigenden Blick. Doktor Azzaddin hat gerade seine Schicht angetreten. Im blauen Kittel sitzt er im Chefbüro, hinter ihm ein Stapel Papier, wenn er den Computer einschaltet, schwimmen dort zuerst einmal Delphine über den Bildschirm. Sie passen überhaupt nicht zu Azzaddins insgesamt mehreren Dutzend Patienten aus Nahost, die in den letzten drei Monaten meist halberfroren aus den nahen Wäldern gerettet wurden, manche schwer verletzt und traumatisiert, nach einer wochenlangen Flucht durch die sumpfigen Waldgebiete zwischen Weißrussland und Polen.

„Ich habe nur drei Ziele“, sagt der Iraker und ordnet seine Gedanken haarscharf: „Erstens: den Menschenstrom aufhalten. Zweitens: die Schlepper verhaften lassen. Drittens: die Menschen zurück in ihre Heimatländer bringen.“ Daher müsste es dazu kommen, dass im irakischen Kurdistan und auch in Bagdad keine weißrussischen Visen mehr ausgestellt würden. In Polen munkelt man inzwischen, dass es einem einfachen Landspitalarzt gelungen sei, zwei Konsulate von Alexander Lukaschenko im Irak zu schließen. Tatsache ist jedenfalls, dass sich Arsalan Azzaddin aus Bielsk Podlaskie (25.000 Einwohner) an den Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, Necirvan Barzani, wandte – sowie an drei große kurdische TV-Stationen – und dort über seine kurdischen Patienten erzählte. „Sie wurden alle übers Ohr gehauen: Denn niemand lässt sie an der EU-Außengrenze einfach nach Europa weiterreisen“, nur das hätte er immer wieder erklärt, und die Polen hätten davon nichts erfahren sollen.

Sie wurden alle übers Ohr gehauen: Denn niemand lässt sie an der EU-Außengrenze einfach nach Europa weiterreisen

Dr. Arsalan Azzaddin

Der Notfallarzt zeigt auf seinem Computer-Bildschirm die Webseite von Rudaw-TV, dem wohl bekanntesten kurdisch-irakischen TV-Sender, und Videos, die er von seinen Patienten aufgenommen hat. Da erzählt eine Frau weinend, wie sie von den weißrussischen Grenzschützern geschlagen wurde und wie sie mit ihrem achtjährigen Sohn 33 Tage mit nur einer Flasche Mineralwasser im Wald ausgeharrt habe. „Nennen wir es beim Namen: Solche Flüchtlinge ernähren sich von kotigem Wasser, noch Schlimmerem und auch etwas Tannenkries“, sagt Azzaddin.

Andere Flüchtlinge flehen auf den Videos ihren Landsmann im Arztkittel an, es nicht zuzulassen, dass sie wieder nach Weißrussland zurückgeschafft werden. „Lieber sterbe ich hier, als wieder hinter den Zaun zu müssen, ja Selbstmord ist besser“, sagt ein Mittdreißiger auf einem Video auf Kurdisch. Die Mutter mit dem Kind fleht: „Tun Sie etwas für uns! Senden Sie uns zurück nach Kurdistan!“ Doktor Azzaddin übersetzt seine Videos geduldig, auch wenn er immer wieder auf seine Uhr blickt. Denn der Chef ist bei der Arbeit und sollte bald operieren gehen – ein Notfall, diesmal eine Polin.

„Man muss doch helfen!“

„Erst die Videos mit den Augenzeugen haben die kurdische Öffentlichkeit und auch die kurdische Regierung wirklich bewegt“, erzählt Azzaddin. Die Videos postet er vor allem auf Facebook, aber auch in kurdischen und irakischen Diskussionsforen, ein paar Flüchtlingsberichte wurden auch im TV gezeigt.

Arsalan Azzaddin selbst ist Ende der Siebzigerjahre nach Polen gekommen, um Medizin zu studieren. Alles sei legal gewesen, sein Vater habe fürs Studium bezahlt, sie hätten sich zusammen zuvor mehrere Länder angeschaut, darunter Italien und Griechenland, sich dann aber für Polen entschieden. Azzaddin promovierte an der Medizinischen Universität Bialystok, einer der besten in Polen, und blieb in Ostpolen. Seine irakische Ehefrau ist ebenso Ärztin und arbeitet in einem Spital in Bialystok. Inzwischen ist seine 19-jährige Tochter in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten und studiert ebenfalls Medizin. Stolz zeigt Dr. Azzaddin am Ende des Gesprächs Fotos der Tochter im weißen Covid-Schutzanzug.

Doch was hält er als Arzt von den umstrittenen polnischen Pushbacks zurück nach Weißrussland, die im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention stehen? Das Gesetz sei zu achten, manchmal würden deshalb Polizisten auch seine Patienten, kaum seien sie geheilt, abholen, in Handschellen legen und zurück an die Grenze fahren, erzählt der Notfallarzt mit seiner fast 40-jährigen polnischen Berufserfahrung.

„Man muss doch helfen!“, bricht es plötzlich doch aus dem Kurden heraus: „Man sollte sie nicht zurückschicken, sondern nach Polen reinlassen und danach mit Flugzeugen zurück in den Irak schaffen“, sagt Doktor Azzaddin nun. „Ein live bei der Landung im kurdischen TV übertragenes Rückführungsflugzeug aus Polen würde bereits genügen, um Nachahmer abzuschrecken.“

CESHA
30. November 2021 - 9.53

Ein Mann, der nicht nur Herz, sondern auch Verstand zeigt.