SpannungenNach dem Massentod von Migranten im Ärmelkanal streiten London und Paris um die Asylpolitik

Spannungen / Nach dem Massentod von Migranten im Ärmelkanal streiten London und Paris um die Asylpolitik
Die britische Seenotrettungsorganisation Royal National Lifeboat Institution (RNLI) bringt im Ärmelkanal abgefangene Migranten mit ihrem Schlauchboot an Land Foto: AFP/Ben Stansall

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Eine humanitäre Tragödie im Ärmelkanal hat die politischen Spannungen zwischen Großbritannien und Frankreich verschärft.

Nachdem am Mittwoch mindestens 27 Migranten vor Calais ertrunken waren, beschuldigte Premierminister Boris Johnson den Nachbarn auf dem Kontinent, dort werde „zu wenig“ gegen die Flüchtlingswelle getan. Der französische Präsident Emmanuel Macron forderte von London „volle Kooperation“ im Kampf gegen den Menschenschmuggel und warnte davor, „eine tragische Situation für politische Zwecke“ zu missbrauchen.

Weil andere Routen auf die Insel, etwa durch den Kanaltunnel zwischen Calais und Folkestone, weitgehend verstopft sind, haben in den vergangenen Jahren immer mehr Migranten ihr Glück mit Schlauchbooten und Kajaks versucht. Immer wieder kam es dabei zu einzelnen Todesfällen, bisher aber nicht zu einem Massensterben – bis zum Mittwochnachmittag.

Da meldete ein französischer Fischkutter der Küstenwache, er habe Menschen im Meer treiben sehen. Die alarmierten Helikopter und Boote konnten 17 Männer, sieben Frauen und drei minderjährige Teenager nur noch tot bergen; bei ihnen handelt es sich nach Angaben der Polizei vorwiegend um Kurden aus dem Irak oder Iran. Zwei Männer, ein iranischer Kurde sowie ein Somalier, rangen am Donnerstag auf der Intensivstation mit dem Tod. Unklar blieb, warum die französischen Behörden zunächst von 34 Bootspassagieren und 31 Toten gesprochen hatten.

Das ebenfalls geborgene Schlauchboot war offenbar nach kurzer Fahrt in rauer, aber keineswegs stürmischer See leckgeschlagen. Während Innenminister Gérald Darmanin die mangelhafte Qualität des Gefährts für die Havarie verantwortlich machte, sprachen örtliche Quellen von einer Kollision, möglicherweise mit einem Containerschiff. Der Ärmelkanal gehört zu den am stärksten befahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt. An seiner engsten Stelle zwischen Calais und Dover weist er lediglich eine Breite von 34 Kilometern auf.

Ungeachtet der Katastrophe vor Calais wagten auch am Donnerstag wieder Hunderte von Migranten, die meisten aus Afrika und dem Nahen Osten, die gefährliche Überfahrt. Die Schlauchboote werden von organisierten Schmugglerbanden bereitgestellt; der Preis für einen Platz in den meist total überfüllten Vehikeln liegt zwischen 3.000 und 7.000 Euro. Das ungewöhnlich milde und ruhige Wetter hat im November die Seefahrer begünstigt: Landeten im Oktober 2.669 Menschen auf der Insel, so waren es in diesem Monat bereits mehr als 6.000. Mehrheitlich handelt es sich um Männer zwischen 18 und 39 Jahren, so die britische Grenzschutzbehörde Border Force.

Die vermeintliche Asylkrise versetzt die konservative Brexit-Regierung seit Wochen in Panik. Im EU-Referendumskampf spielte Immigration eine herausragende Rolle; Vorkämpfer wie Johnson und die jetzige Innenministerin Priti Patel beschuldigten den damaligen Tory-Premier David Cameron, dieser habe die Kontrolle über die Grenzen verloren. Genau diesem Vorwurf sehen sich die Verantwortlichen jetzt selbst ausgesetzt. Dabei hat die Netto-Immigration in das Land mit 66 Millionen Einwohnern im vergangenen Jahr einen Tiefststand von 34.000 erreicht.

Brexiteers wollten kein Abkommen über Asyl

Im Unterhaus lobte Innenministerin Priti Patel am Donnerstag ihr neues Grenzschutzgesetz, das derzeit im Parlament beraten wird. Ausgehend davon, dass das bestehende Asylsystem „kaputt“ sei, setzt die Politikerin vom äußersten rechten Flügel der Regierungspartei auf die systematische Kriminalisierung von Migranten. Zukünftig sollen Flüchtlinge ohne Visum sofort in Haft genommen werden, unabhängig von ihrem Status. Menschenschmugglern droht eine automatische lebenslange Freiheitsstrafe.

Das Problem aber, so behauptet London schon seit Wochen, liege auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Patel bot Paris nicht nur britische Beamte für gemeinsame Patrouillen entlang des rund 300 Kilometer langen französischen Küstenabschnitts an, der Großbritannien gegenüberliegt; sie möchte auch ein Abkommen mit dem Nachbarn schließen, das dem Dubliner EU-Asylsystem nahekommt. Alle diesbezüglichen Absprachen hatten die Brexiteers noch im vergangenen Jahr, als es um die Details des EU-Austritts ging, abgelehnt, ebenso wie die enge Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Geheimdiensten.

Die britisch-französischen Beziehungen sind seit Wochen angespannt. Streitpunkte sind die Fischerei im Ärmelkanal, Grenzkontrollen im Güterverkehr und die Haltung gegenüber China. Im Asylstreit beklagt Paris mangelnde Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Menschenhändler. „Die Mafiachefs leben in London und investieren ihr Geld in der City“, berichtete Franck Dhersin von der zuständigen Bezirksregierung dem TV-Sender BFMTV.