„Zakhor“Das Elend der Welt in einem Koffer: In Medernach ist die Shoah-Gedenkstätte offiziell enthüllt worden

„Zakhor“ / Das Elend der Welt in einem Koffer: In Medernach ist die Shoah-Gedenkstätte offiziell enthüllt worden
Durch seine Unscheinbarkeit entfaltet der Koffer, der am Sonntag von Chamber-Präsident Fernand Etgen, Bürgermeister André Kirschten und Marc Schoentgen („Comité Auschwitz“) enthüllt wurde, seine ganze Symbolkraft Foto: Editpress/Tania Feller

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In Medernach wurde am Sonntag die Gedenkstätte „Zakhor“ offiziell enthüllt. Mit einem Koffer in Bronze des Trierer Künstlers Ralf Kotschka soll am ehemaligen Standort der alten Synagoge an jene 22 Einwohner der heutigen Ernztalgemeinde erinnert werden, die am 16. Oktober 1941 nach Polen deportiert wurden.

„Meine sehr lieben Beide: Ihr denkt sicher, wir hätten euch vergessen, was aber nicht der Fall ist. Denn wir sprechen sehr viel von euch. Ich hätte euch damals vor unserer Abreise geschrieben, aber mit dem besten Willen kam nicht mehr dazu, da wir allerhand zu tun hatten“: Mit diesen Sätzen beginnt eine Postkarte, die im Dezember 1941 im Ghetto von Litzmannstadt in Polen verfasst wurde.

Absender sind Gerson und Sophie Aronow-Herz aus Medernach. Auf den ersten Blick sind es alltägliche Informationen, mit denen sich die Verfasser an ihre nicht-jüdischen Freunde in Limpertsberg wenden. Im Verlauf des Schreibens aber tun sich zwischen den Zeilen Abgründe auf: „Jetzt sind wir schon in der achten Woche hier und haben schon viel durchgemacht, indem wir einen großen Verlust hatten, da nämlich Louis heute vor vierzehn Tagen gestorben ist“, schreiben Sophie und Gerson.

Dass Ludwig (Louis) Rosenfeld inzwischen gestorben sei, Gerson in einer Schmiede Arbeit gefunden habe und man „die anderen“ nur noch selten zu Gesicht bekomme, das haben die Freunde in Limpertsberg nie erfahren. „Die Postkarte wurde nie abgesendet“, erklärt Marc Schoentgen, Präsident des „Comité Auschwitz“, an diesem kühlen Sonntagmorgen unter strahlend blauem Himmel in Medernach. So wie viele Schreiben jüdischer Familien aus Luxemburg, die im Oktober 1941 vom nationalsozialistischen Regime ins polnische Ghetto Litzmannstadt (Lodz) deportiert wurden, fiel auch die Postkarte der deutschen Zensur zum Opfer.

Aus 22 Dörfern und Städten des Landes stammten die 323 Juden, die sich am 16. Oktober 1941 auf eine staatspolizeiliche Verfügung hin am Bahnhof Luxemburg einfinden mussten. Neben „Bettzeug mit Decken“, einer „vollständigen Bekleidung soweit sie am Körper getragen werden kann“, 100 Reichsmark und „drei Tagen Verpflegung“ durften sie alle nur einen Koffer tragen – „pro Person mit Gepäck im Gewicht bis zu 50 kg“.

Symbol der Abschiebung

Dieser Koffer ist heute Symbol der Abschiebung geworden, ein Synonym des Massakers an Millionen von Juden, die der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschine zum Opfer gefallen sind. Mit einer Statue in Kofferform will nun auch die „Aerenzdallgemeng“ des Holocaust gedenken und an jene 22 Einwohner jüdischer Abstammung erinnern, die 1941 in den sicheren Tod abgeschoben wurden.

Entworfen wurde das Denkmal, das am Sonntag in Anwesenheit zahlreicher Vertreter aus Politik und Gesellschaft in Medernach enthüllt wurde, vom Trierer Künstler Ralf Kotschka, dessen Konzept auch schon an anderen Orten an die Ereignisse von 1941 erinnert. Ziel des „Comité Auschwitz“ ist es, in allen 22 Dörfern und Städten des Landes einen Koffer aufzustellen, aus denen jüdische Einwohner ins Ghetto abgeschoben wurden.

In Medernach soll der Koffer in Bronze nun am ehemaligen Standort der alten Synagoge jener 22 Einwohner gedenken, die einst in der heutigen Ernztalgemeinde ein Zuhause gefunden hatten. Ergänzt wird die Gedenkstätte „Zakhor“ (Hebräisch für „Gedenke!“) von einer gleichnamigen Gedenkplatte und einer Informationstafel mit Hinweisen und Bildern der Medernacher Familien Aronow-Herz, Kahn und Rosenfeld sowie der vierköpfigen Familie Levy aus der „Reisermillen“ nahe Ermsdorf. Von ihnen sollte nur Daniel Levy die Heimat jemals wiedersehen.

Reise ohne Wiederkehr

Auch sie waren vor 80 Jahren mit drei Tagen Verpflegung, 100 Reichsmark und nur einem Koffer zum Bahnhof gefahren. Ein Koffer, der „sämtliches Elend der Welt“ enthielt, wie Gaston Herz am Sonntag betont. Sämtliche Familienmitglieder hat der 93-Jährige im Holocaust verloren. Nur die Großmutter war durch ihren frühzeitigen Tod im Jahre 1936 dem Massaker entkommen, wie Herz mit bebender Stimme feststellte.

Es waren bewegende Erinnerungen, die Gaston Herz mit den Anwesenden am Standort jener Synagoge teilte, in der seine Geschwister verheiratet wurden und sein Bruder Roger Bar Mitzwa feiern konnte. Großvater, Vater, Mutter, Bruder, Vetter und Cousinen – die gesamte Familie sei massakriert worden, „nur weil sie mit jüdischem Glauben zur Welt gekommen waren“, so Herz.

Gaston Herz hat seine ganze Familie im Holocaust verloren. Er fühlt sich auch 80 Jahre später dem Heimatort tief verbunden.
Gaston Herz hat seine ganze Familie im Holocaust verloren. Er fühlt sich auch 80 Jahre später dem Heimatort tief verbunden. Foto: Editpress/Tania Feller

Seine Tante Sophie war es, die besagte Postkarte an die Freunde in Limpertsberg verfasst hatte. Zusammen mit ihrem Mann Gerson und zehn weiteren Mitgliedern der Familie Herz war sie ins Ghetto Litzmannstadt abgeschoben worden. Dort musste sich die zwölfköpfige Familie mit Louis und Bertha Rosenfeld und ihrer Tochter Jeannine ein kleines Zimmer teilen. „Die liebe Bertha war viel krank und Jeanninchen auch. So dass bei uns das reinste Spital war. So könnt Ihr (…) sehen, dass wir schon allerhand hatten“, schreibt die Tante. „Man muss schon zwischen den Zeilen lesen, um herauszufinden, wie dramatisch die Situation wirklich war“, schlussfolgert Marc Schoentgen 80 Jahre später.

Dass die Gedenkstätte in der rue Savelborn mit dem Monument aus den 1950er Jahren und einer Gedenktafel der Famile Herz nun um ein weiteres Denkmal erweitert wurde, nennt Schoentgen „in einem Moment, in dem wir uns mit Erinnerungen schwertun“, richtig und wichtig. Heute stünden Koffer für Reisen mit Wiederkehr. „Damals aber war es eine Abreise ohne Retour“, so der Präsident des „Comité Auschwitz“.

Überall in Europa seien damals Koffer gepackt worden, ohne zu wissen, wo die Reise hinführe. Inzwischen aber wisse die Menschheit, was ihren Besitzern zugestoßen sei: „Spuren sieht man heute
im Museum vom Auschwitz, wo Berge von Koffern liegen. Vielleicht auch solche, die in Medernach gepackt wurden“, so Schoentgen.

Das Denkmal besteht aus einem Koffer, einer Informationstafel und der Inschrift „Zakhor!“, dem hebräischen Imperativ für „Gedenke!“
Das Denkmal besteht aus einem Koffer, einer Informationstafel und der Inschrift „Zakhor!“, dem hebräischen Imperativ für „Gedenke!“ Foto: Editpress/Tania Feller

Virus Antisemitismus

Für André Kirschten ist der Koffer ein Symbol für das Schicksal, das Leid, die Trauer und die Ungerechtigkeit, die unzählige Juden erlitten haben. „Leider sehen wir auch heute wieder Tendenzen zu Diskriminierung, Radikalismus und Rassismus“, so der Bürgermeister der „Aerenzdallgemeng“. Doch dürften sich diese Ereignisse nicht wiederholen. „Weder für Menschen anderen Glaubens noch für Menschen, die eine andere Hautfarbe oder eine andere Einstellung zum Leben haben“, so Kirschten. Vielmehr wünsche er sich, dass sich die Menschen auf eine Reise begeben, für die sie „Respekt, Toleranz und Verständnis in ihre Koffer packen“.

Postkarte aus dem Ghetto

Litzmannstadt, den 10. Dezember 1941

Meine sehr lieben Beide: Ihr denkt sicher, wir hätten euch vergessen, was aber nicht der Fall ist. Denn wir sprechen sehr viel von euch. Ich hätte euch damals vor unserer Abreise geschrieben, aber mit dem besten Willen kam nicht mehr dazu, da wir allerhand zu tun hatten und die liebe Bertha noch mit einer Flebitt (Phlepitis, Anm. der Red) im Bett lag bis zum letzten Tag. 

So dachte ich bestimmt, dass du, die liebe Maria, zur Bahn kämst, wo wir von zehn morgens bis abends zwölf im Zug an der Bahn waren. Jetzt sind wir schon in der achten Woche hier und haben schon viel durchgemacht, in dem wir einen großen Verlust hatten, da nämlich Louis (Ludwig Rosenfeld, Anm. der Red.) heute vor vierzehn Tagen gestorben ist.

Die liebe Bertha war an einer Kehlkopfgrippe viel krank und Jeanninchen auch. So dass bei uns das reinste Spital war. So könnt Ihr, meine besten Liebsten sehen, dass wir schon allerhand hatten. Gerson arbeitet in einer Schmiede und ist zufrieden.

Die liebe Bertha und wir sind zusammen in einem großen Zimmer mit einer Familie von Luxemburg. Die anderen sind nicht weit von uns. Kommen selten herauf. Besser so!

Von unserem Vater haben wir noch nichts gehört. Wie geht es deinen Eltern? Sende herzliche Grüße an die Familie Rosenthal. Ich will für heute schließen, da die liebe Bertha auch noch ihre Grüße bei schreibt. Lasset mal von euch hören. So seit ihr denn für heute herzlich gegrüßt und geküsst.

Eure Freunde Sophie und Gerson

(Zusatz von Bertha Rosenfeld:)
Ich habe an den guten Nikolaus gedacht. Hier gibt es sowas nicht. Meine lieben Beide, aus unseren Schreiben erseht ihr, dass wir teilweise am Leben sind. Wo nichts dran zu ändern ist.

So verbleibet mit herzlichen Grüßen,

Eure Freundin Bertha und Jeannine

Parallelen zur heutigen Gesellschaft zog auch der erste Bürger des Landes. Antisemitismus sei ein Thema, das ständig angesprochen werden müsse. „Auch in einem Land, dem es wirtschaftlich gut geht und das durch seinen gesellschaftlichen Pluralismus auflebt, müssen wir ständig wachsam bleiben, um Diskriminierung und Vorurteile zu bekämpfen“, so Chamber-Präsident Fernand Etgen.

Antisemitismus sei ein Virus, das verschiedene Formen annimmt. Ob im Netz oder im Alltag: „Wir müssen uns überall dagegen wehren. Auch die Verharmlosung des Holocaust kann gefährlich werden. Das dürfen wir nicht akzeptieren“, fordert Etgen. So seien allein letztes Jahr 64 Vorfälle mit antisemitischem Hintergrund in Luxemburg gemeldet worden. Man müsse konsequent gegen Diskriminierung, Gewalt und Extremismus vorgehen: „Nur indem wir unsere Geschichte kennen, erklären und weiter vermitteln, können wir verhindern, dass sich die Vergangenheit wiederholt.“