KolumneTokio 2020 hängt am seidenen Faden

Kolumne / Tokio 2020 hängt am seidenen Faden
Heute sind es nur noch 67 Tage bis zum Start der Olympischen Spiele in Tokio Foto: DPA/Eugene Hoshiko

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Heute Montag sollte IOC-Präsident Thomas Bach Hiroshima besuchen. In der symbolträchtigen Stadt, die am 6. August 1945 durch einen US-Atombombenabwurf in Schutt und Asche gelegt wurde, macht der olympische Fackellauf Halt. Bachs Visite musste wegen der Corona-Pandemie verlegt werden. Auch die offiziellen Gespräche mit Regierungschef Yoshihide Suga und OK-Präsidentin Seiko Hashimoto wurden vertagt.

Seit gestern Sonntag gilt in den Präfekturen von Hiroshima, Hokkaido und Okayama der Ausnahmezustand. Die Zahl der Präfekturen, die mit dem Notstand leben müssen, erhöht sich damit auf sieben. Tokio, Kyoto, Osaka und Hyogo waren schon im April auf die Liste gesetzt worden. Anfangs sollte der Notstand in Tokio nur bis zum 11. Mai dauern, danach wurde er um drei Wochen verlängert. Wie es im Juni weitergeht, weiß niemand so recht.

Nur noch 67 Tage

Gemäß offizieller Planung müssten die Olympischen Spiele am 23. Juli beginnen. Von heute Montag (17. Mai) an gerechnet sind das nur noch 67 Tage, also etwas mehr als zwei Monate. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst, die Proteste gegen die Spiele nehmen täglich zu. Die Inzidenzzahlen steigen, eine Reihe Spitäler wollen weder Personal für Tokio 2020 abstellen noch olympische Corona-Infizierte aufnehmen. 

Zu alledem kommt die vom japanischen Politiker und Anwalt Kenji Utsunomiya initiierte Petition „Cancel the Tokyo Olympics to protect our lives“ („Sagen Sie die Olympischen Spiele von Tokio ab, um unsere Leben zu schützen.“), die bis Sonntagabend nahezu 370.000 Unterschriften sammelte. Nächstes Ziel: eine halbe Million Signaturen.

Zweck der Petition ist es, dass sowohl im Parlament und auch auf der Straße offen über eine Absage der Spiele diskutiert wird. Die Japaner haben die Schnauze voll vom Ausnahmezustand, Olympia ist zweitrangig geworden, die Gesundheit steht an allererster Stelle. Auch wenn durch einen eventuellen Verzicht auf die Spiele Millionen von Sponsorengeldern den Bach runtergehen würden. 

Die Geister, die Tokio rief

Tokio 2020 sitzt in der Zwickmühle, es wird die Geister, die es rief, nicht mehr los. Gewiss sind die Macher von Olympia nicht verantwortlich für die weltweite Corona-Pandemie, der gewagte Schritt, die Spiele nur um ein Jahr zu verlegen, erweist sich 14 Monate später aber als verhängnisvoll. 

Ich zitiere aus meiner Kolumne vom 28. März 2020: „Wer gibt dem Organisationskomitee und dem IOC eigentlich die Garantie, dass Covid-19 nicht auch 2021 noch wütet? Ohne Hellseher, Virenforscher  oder Facharzt zu sein, muss man bezweifeln, dass die Pandemie innerhalb der nächsten 12 Monate gebändigt werden kann. Die prätentiöse Verkündung, Olympia im Sommer 2021 in alter Frische zu veranstalten und die Spiele gleichzeitig als Sieg der Menschheit über einen unsichtbaren Feind zu feiern, ist vorerst also etwas für Träumer, Gemütsberuhiger und Stimmungsaufheller.  Da der internationale Sportkalender der nächsten Jahre sowieso geändert werden muss, wäre es viel realistischer gewesen, Tokio 2020 ins Jahr 2022 zu verlegen. Im dem Fall würden wie früher zwei Olympische Spiele in einem Jahr stattfinden, im Februar die Winterspiele in Peking, im Sommer diejenigen von Tokio, dazu im November/Dezember die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Demnach drei Großereignisse im Jahr 2022 und etwas mehr Zeit für das Virus, aus den Körpern und von der Bildfläche zu verschwinden.“

Eine große Schmach

Auch wenn es 1964 die Olympischen Spiele schon einmal mit Erfolg organisierte, scheint Japan nicht auf bestem Fuß mit dem größten Sportfest der Welt zu stehen. Zweimal (1960, 2016) wurde die Kandidatur Tokios von den wichtigen Herren im IOC für nicht gut befunden. Im Jahr 1940 sollte das Land der aufgehenden Sonne sowohl die Winterspiele (Sapporo) als auch die Sommerspiele (Tokio) organisieren. Danach marschierte Japans Armee in China ein. Das Geld wurde knapp. Tokio musste die Spiele im Jahr 1938 an das IOC zurückgeben, was 80 Jahre später von der Bevölkerung immer noch als große Schmach angesehen wird. 

Für das Selbstwertgefühl der Japaner war die Verschiebung von Tokio 2020 um zwölf Monate ein weiterer harter Schlag. Rund ein Jahrzehnt nach der dreifachen Katastrophe von Fukushima (Erdbeben, Tsunami und Atom-Gau am 11. März 2011) wollte die stolze Nation den Besuchern aus aller Welt Olympische Spiele des Wiederaufbaus vorstellen. Mit fortschreitender Zeit werden diese Pläne immer mehr zur Makulatur. 

Die Grenzen sind dicht

Zuerst lud man durch einen Regierungsbeschluss die fremden Zuschauer aus, für sie sind die Grenzen dicht. Falls die Spiele tatsächlich stattfinden, dürfen wahrscheinlich auch die Einheimischen nicht zu den Wettkampfstätten kommen. Die Gefahr einer Infektion ist zu groß. Die Entscheidung über die Zuschauerpräsenz auf den Tribünen fällt im Juni.

Ohne die rund 11.000 Sportler (7.800 Quotenplätze waren am 12. Mai vergeben) geht es natürlich nicht. Allerdings wurden bis jetzt schon 45 Trainingscamps, die vor den Spielen von vielen dieser Athleten in Japan abgehalten werden sollten, abgesagt. 

Als Pluspunkt können das IOC und das Organisationskomitee immerhin verbuchen, dass in den letzten Wochen vier Test-Events mit ausländischen Sportlern (Volleyball, Kunstspringen, Sapporo-Marathon, LA-Meeting Tokio) unter Ausschluss der Öffentlichkeit über die Bühne gingen und dabei kein positiver Corona-Fall zu vermelden war. Die strikten Gesundheits- und Hygieneregeln mit Bewegungseinschränkungen wurden eingehalten.

Am Sonntag entschied Tokio 2020, nur die Hälfte der vorgesehenen Offiziellen ins Land zu lassen. Über eine Reduzierung der akkreditierten Medienvertreter wurde nichts bekannt. Diese Verringerung wird sich in den nächsten Wochen von selbst ergeben, denn seit der Veröffentlichung des zweiten „Playbooks“ für die Presse wird in so manchem Verlagshaus eifrig darüber diskutiert, ob es überhaupt Sinn ergibt, einen Sonderberichterstatter ins ferne Japan zu schicken.

Ein Buch voller Verbote

In diesem 50 Seiten starken „Guide to a safe and successful Games”, dem nach dessen Erscheinen noch einmal 44 Seiten Erklärungen und Erläuterungen folgten, werden die Journalisten, Reporter, Fotografen, Kameraleute und Techniker im Detail über alles informiert, was sie vor und während Olympia tun müssen und was ihnen verboten ist. Ähnliche „Playbooks“ wurden erstellt auch für die Athleten und die Team-Verantwortlichen, die internationalen Verbände, die Marketing-Partner, die sogenannte „olympische Familie“ und die Paralympics. Jeder weiß also, auf was er sich einlässt, wenn er ins Flugzeug steigen will, das ihn in die japanische Hauptstadt bringen soll.

Wenn jemand eine Reise tut, ist die Vorfreude oft größer als das Erlebnis selbst. Das kann bei Tokio 2020 nicht der Fall sein. Wer das „Playbook“ sorgfältig liest, dem vergeht die Lust auf Olympia. So hat der Pressemann, der im Besitz einer Akkreditierung ist, in den zwei Wochen vor seiner Reise genau Buch darüber zu führen, mit wem er in dieser Zeit in Kontakt tritt. Jedes Medienhaus muss einen sogenannten „Covid-19-Liaison-Officer“ ernennen, der bis nach den Spielen als Verbindungsmann zum Organisationskomitee dient. 

14 Tage „Quarantäne“

In den letzten 96 Stunden vor dem Flug sind zwei negative Tests Vorschrift. Die nächsten Corona-Kontrollen folgen bei der Einwanderung, danach geht’s fast täglich weiter mit dem Stäbchenbewegen in Nase oder Rachen. Es müssen Apps heruntergeladen werden, damit das Gesundheitsministerium über den Zustand des so wichtigen „Patienten“ laufend informiert bleibt. Alle vorgeschriebenen Corona-Maßnahmen (Maske tragen, Distanz halten, usw.) sind genauestens einzuhalten.

Der Journalist darf sich in den ersten 14 Tagen seines Aufenthalts in Japan nur dorthin bewegen, wo der Organisator will. Vom Hotel aus (selbstverständlich einer vom OK vermittelten offiziellen Herberge) ist es erlaubt, mit dem Olympia-Pressebus zu einer am Tag vorher angemeldeten Wettkampfstätte, ins Pressezentrum und mit dem vorgeschriebenen Bus wieder zurück ins Hotel zu fahren. Die Benutzung der weitaus schnelleren Metro ist während dieser Zeitspanne verboten, der öffentliche Transport wird erst ab dem 15. Aufenthaltstag erlaubt. 

Essen muss man entweder in den offiziellen Restaurants im Pressezentrum, im Speisesaal des Hotels oder im eigenen Hotelzimmer. Kontakte zu Fremden sind nicht erlaubt, man darf weder durch die Stadt schlendern und Eindrücke gewinnen, wie es sich für einen Reporter gehört, noch in ein Kino, ein Theater oder ein Café gehen. 

Einschränkungen

Nehmen wir mal an, bei einem der unzähligen Tests, die man in Tokio über sich ergehen lassen muss, wird man durch welchen Umstand auch immer positiv oder, schlimmer noch, falsch positiv getestet. Dann ist man weg vom Fenster und wird isoliert. 

Das kann einem natürlich auch zu Hause passieren. Aber da ist man dann eben zu Hause und nicht etwa 10.000 km davon entfernt in einer Klinik (schlimmstenfalls) oder in einem kleinen japanischen Zimmer (bestenfalls), wo man außer einem Fernseher mit japanischen Sendern nichts hat. 

Zum Teil kann man die strengen Maßnahmen nachvollziehen, aber die Organisatoren müssen auch Verständnis für die Sorgen und Ängste der Medien haben. Ein Journalist oder Fotograf, der bei den Spielen in Tokio dabei sein will, wird viel mehr damit beschäftigt sein, täglich Buch über sich selbst zu führen, Formulare auszufüllen und schriftliche Anfragen beim Organisator zu tätigen, als Artikel zu verfassen oder Bilder zu schießen. 

Mit der Brechstange

Eine angemessene Berichterstattung vor Ort kann nur zum Teil möglich sein. Es kommt darauf an, was der Leser, Zuhörer oder Zuschauer von seinem Medium erwartet. Mit Sicherheit wird der Konsument bis zum Geht-nicht-mehr mit Sachen bombardiert, die wenig gemein mit Sport und Olympia haben. Das Virus und die Einschränkungen werden im Blätterwald sowie in der Rundfunk- und Fernsehlandschaft allgegenwärtig sein. Auf dem Bildschirm dürften die Spiele noch einigermaßen gut herüberkommen, aber vermissen wird man die Stimmung, die Freude, die Begeisterung und alles, was Olympia in der Vergangenheit so einzigartig machte. 

Das IOC, die japanische Regierung und das Organisationskomitee wollen diese Spiele, die eigentlich keine Olympischen Spiele im ursprünglichen Sinne mehr sind, sondern ein Sammelsurium von aneinandergereihten sportlichen Wettkämpfen in ein und derselben Stadt, auf Biegen und Brechen über die Distanz bekommen. 

Das rein Sportliche ist im Laufe des letztes Pandemiejahres zweitrangig geworden und in den Hintergrund gerückt. Die Organisatoren reden von Sicherheit und denken an Geld. So gesehen dürfen sie auch keinem Presseverlag es verdenken, wenn dieser wegen der besonderen Umstände auf eine  Berichterstattung vor Ort verzichtet und Tokio 2020 aus der Heimredaktion behandelt …, immer noch vorausgesetzt, dass die Olympischen Spiele auch tatsächlich stattfinden!