Obdachlose in Luxemburg„Überall ausgestreckte Hände“: Junger Mann in Käerjeng bewegt die Gemüter

Obdachlose in Luxemburg / „Überall ausgestreckte Hände“: Junger Mann in Käerjeng bewegt die Gemüter
Seit einem Monat schon übernachtet Johnny im Betonrohr. Seit einigen Tagen aber scheint er eine neue Bleibe gefunden zu haben. Wo er sich jetzt befindet, wissen seine Wohltäter aber nicht.  Foto: Editpress/Eric Hamus

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Die Nachricht sorgte nicht nur in Musikerkreisen für Aufsehen: In Berlin ist vor einer Woche ein aus Luxemburg stammender Musiker auf der Straße erfroren. Trotz zahlreicher Hilfsangebote habe sich Marco R. bis zuletzt nicht helfen lassen wollen, so Bekannte. Fälle wie diese gibt es auch in Luxemburg. In Käerjeng etwa fällt der junge Johnny durch sämtliche Raster.

„Ich glaube, Johnny* ist noch nicht wach“, sagt Heng. Der begeisterte Musiker wohnt gleich neben einem schmucken Park in der Gemeinde Käerjeng, hat vom Wohnzimmer aus freie Sicht auf das gesamte Areal. Im Sommer toben sich hier die Kinder so richtig aus, während ihre Eltern das Geschehen von den gemütlichen Bänken aus verfolgen. Im Winter aber verirren sich nur Spaziergänger sporadisch in diese Ecke der Gemeinde.

Doch der Schein trügt an diesem trüben Morgen. Winzige Schneeflocken rieseln vom grauen Himmel, eine dünne weiße Decke legt sich langsam über das Gras. Auf der anderen Seite der Lichtung führt eine Dame ihren Hund spazieren. Ansonsten wirkt der Park menschenleer. Doch in einem grauen Betonrohr rührt sich plötzlich eine Menschengestalt. Bei näherer Betrachtung erkennt man Decken, Einkaufstüten und einen vermummten Kopf. Johnny ist gerade mal eine Minute lang wach. Etwas misstrauisch blickt er in Richtung des Besuchers, der sich mit langsamen Schritten nähert.

Dann aber erkennt er Heng, seinen Freund und Helfer der letzten Wochen. Dieser vergewissert sich kurz, ob beim jungen Mann alles in Ordnung ist, bevor er den Journalisten zu sich winkt. Seit knapp einem Monat übernachtet Johnny im Betonrohr. Ganz den Elementen ausgesetzt ist er also nicht. Dennoch ist seine Bleibe nicht optimal, vor allem angesichts der winterlichen Temperaturen. In mehrere Decken verpackt begrüßt Johnny seinen neuen Besucher. Seine Augen leuchten auf, als er dessen Mitbringsel erkennt: ein Schokocroissant und ein normales Hörnchen.

„Du hast doch nichts dagegen, wenn ich das esse“, entgegnet er dem Journalisten auf dessen Frage, ob man sich kurz unterhalten kann. Währenddessen schreitet Heng zurück zu seinem Wohnhaus. In knappen Worten schildert Johnny seine Lebensumstände. Seit knapp einem Monat schlafe er nun schon in diesem Rohr. Den Umständen entsprechend gehe es ihm dort gut. „Nur wenn es richtig kalt wird, wird es ungemütlich“, sagt der 25-Jährige noch etwas verschlafen.

Eigentlich wohne er noch bei seinen Eltern. Wegen „eines Streits“ sei er jedoch dort zurzeit nicht willkommen. Er habe nämlich manchmal „Psychosen“, erzählt Johnny. Die habe er jetzt aber im Griff. In anderen Worten: Er war seinen Eltern gegenüber handgreiflich geworden. Daraufhin wurde er von der Polizei des Hauses verwiesen.

Der junge Mann hat sichtlich Schwierigkeiten, seine Lage in Worte zu fassen. Man merkt: Manches will er nicht verraten, anderes kann er nicht, weil ihm die Antworten schwerfallen. Ob ihm bereits Hilfe angeboten wurde? Ob er sich ans „Office social“ gewendet habe? Ob er wisse, dass es viele Programme gibt, die ihm weiterhelfen? Fragen, die er schulterzuckend unbeantwortet lässt.

Nur so viel ist zu erfahren: „Im März darf ich wieder zurück. So lange muss ich halt über die Runden kommen“, erzählt der junge Mann. Bis dahin hoffe er, dass seine Eltern ihn wieder nach Hause lassen. Zu seinem Bruder dürfe er nicht. Auch bei Freunden könne er nicht übernachten. „Nur manchmal darf ich bei dem einen oder anderen Kumpel den Abend verbringen“, sagt Johnny. Zur Winteraktion für Obdachlose auf Findel gehe er nur, „wenn es richtig kalt draußen wird“.

Rasch wird klar, dass Johnny in Luxemburg durch sämtliche Raster fällt. Eine Ausbildung hat der 25-Jährige nicht. Die Schule hat er nur bis zur Neuvième besucht. Bis vor kurzem bei den Eltern wohnhaft, hielt er sich die letzten Jahre mehr schlecht als recht über Wasser. Es fällt ihm schwer, sich auszudrücken, er scheint auch Schwierigkeiten zu haben, seine Lage einzuordnen und die Möglichkeiten, die sich ihm bieten.

Durchaus keine Seltenheit bei Menschen wie Johnny, wie Luc Lauer von den „Stroossen Englen“ betont. Die meisten seien an einem Punkt angelangt, an dem sie nicht mal begreifen, dass ihnen überhaupt Möglichkeiten offenstehen. Meist sei auch nicht nur ein Grund schuld an deren Lage, sondern gleich mehrere unglückliche Umstände auf einmal. „Menschen wie Johnny muss man wirklich an der Hand nehmen, ihnen sämtliche Angebote regelrecht vor Augen führen und sie auf Schritt und Tritt begleiten“, so Lauer.

Tatsächlich hat sich auch bei Johnny so manches zusammengebraut. Neben einem frühen Schulabgang leidet der junge Mann auch an Trieblosigkeit und Depressionen, wie er selbst zugibt. Er habe Schwierigkeiten, sich „um Bidong ze rappen“, sagt er. Manchmal falle es ihm dann auch schwer, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Dann genüge nur ein Fünkchen und schon komme es zur Explosion.

Drogenprobleme habe er jedoch keine, behauptet der junge Mann. Auch Alkohol sage ihm nichts. Er sei auch bereit, an sich zu arbeiten. Er gelobt Besserung, will einer psychologischen Betreuung zusagen. Er könne sich durchaus eine Teilnahme an einer Arbeitsinitiative vorstellen. Dafür aber muss Johnny zuerst aus dem Rohr zurück ins Leben. Diese Brücke schlagen fällt ihm aber schwer.

Ein verzweifelter Wohltäter

In diesem Punkt verzweifelt auch Heng. Tatsächlich hat der Käerjenger von seinem Wohnzimmer aus freie Sicht in Johnnys vermeintliche Versteck. Die Nächte schlage er sich um die Ohren, in Sorge um den jungen Mann im Park gleich nebenan. Jeden Morgen gilt sein erster Blick dem Betonrohr. „Ich habe Angst, er wacht nach einer kalten Nacht nicht mehr auf“, grämt sich der begeisterte Musiker.

Er selbst hat alles in seiner Macht Stehende versucht, dem jungen Mann unter die Arme zu greifen. Von Decken und Nahrung über Kleingeld bis hin zu einem offenen Ohr und Anrufen bei Behörden, Politikern und Initiativen. Alles hat Heng versucht. Ohne Erfolg. Johnny schleicht sich immer noch abends nach Einbruch der Dunkelheit in sein Rohr, das er früh am Morgen wieder verlässt, um den Tag anderswo zu verbringen.

In Hengs Worten schwingt Verzweiflung mit, Frust und manchmal gar Wut. Enttäuscht ist er vor allem von der Reaktion mancher Behörden. „Er muss sich auch helfen lassen wollen, so lautet die Standard-Antwort“, berichtet der Wohltäter von seinen Gesprächen mit Politikern, Sozialarbeitern und Polizisten. Man könne den jungen Mann nicht zwingen, so der Tenor. „Wir können ihn doch nicht sich selbst überlassen“, entgegnet Heng. „Ich muss immer an einen potenziellen Lebensmüden denken, der an einem Brückenrand steht. Wenn man an einer solchen Person vorbeigeht, dann versucht man doch auch, sie wieder zurück auf die sichere Seite zu ziehen.“

Genauso ergehe es ihm auch mit Johnny. Deshalb kann er nicht nachvollziehen, dass sich die meisten Menschen so schnell geschlagen geben. Dass Johnny aber viele Hilfsangebote regelrecht ablehnt, kann er auch nicht verstehen. „Wir haben ihm zum Beispiel Kleidung gebracht. Die hat er nie getragen. Nur manchmal bittet er um Kleingeld, um sich Schokolade zu besorgen“, sagt Heng.

„Niemand muss auf der Straße schlafen“

Auch die Käerjenger Schöffin Josée-Anne Siebenaler-Thill weiß um Johnnys Lage. Allerdings weiß sie auch um die Schwierigkeiten, dem jungen Mann Hilfe zukommen zu lassen. Tatsächlich sei in der Gemeinde bereits viel unternommen worden, um Johnny zu helfen. Das Sozialamt habe regelmäßigen Kontakt zum 25-Jährigen. „Er weiß genau, wo er Hilfe findet“, betont die Schöffin der Grünen.

Zuletzt habe ihm die Gemeinde übers Sozialamt sogar den Aufenthalt in einer Jugendherberge angeboten. Die Kosten werde man natürlich selbst übernehmen, inklusive Mahlzeiten. Doch habe Johnny auch dieses Angebot bisher nicht angenommen. „Er braucht nur im Sozialamt vorbeizukommen und schon hat er ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett, zwei Mahlzeiten am Tag und eine Dusche.“

Sie wisse auch von einer Einwohnerin, die sich letztes Jahr vier Monate lang um den jungen Mann gekümmert habe. Bei sämtlichen Initiativen habe sie angeklopft, alles Mögliche habe sie ihm angeboten. Genützt habe es nichts. „Überall wird dem jungen Mann Hilfe angeboten. Mehr als ihm dauernd die Hand entgegenzustrecken, können wir aber nicht tun“, unterstreicht Siebenaler-Thill. Man merkt: Der Fall Johnny geht auch ihr ans Gemüt.

Dass das Käerjenger Sozialamt nicht helfe, will sie nicht gelten lassen. An Heiligabend etwa habe eine Mitarbeiterin es fertiggebracht, dass sich die Beschäftigungsinitiative „Inter-Actions“ des jungen Mannes annehmen wollte. „Sie sind auch vorbeigekommen, haben ihn mitgenommen. Nach drei Stunden aber saß er wieder in seinem Betonrohr“, so Siebenaler-Thill etwas resigniert. Natürlich hoffe auch sie auf eine Lösung im Sinne des jungen Mannes. Doch: Im Park störe er niemanden, er falle nicht weiter auf, sei ruhig und auch nicht gewalttätig. Vertreiben könne man ihn nicht. Mit Gewalt zu etwas zwingen schon gar nicht.

„Niemand muss in Luxemburg auf der Straße schlafen“, sagt die Schöffin. Es gebe so viele hervorragende Initiativen und Programme, unendlich viele kompetente Sozialarbeiter und Freiwillige, die sich für die Belange der Obdachlosen einsetzen. „Doch der Wille muss auch vorhanden sein, diese Hilfe anzunehmen“, sagt Siebenaler-Thill. „So schlimm es auch klingt: Es ist seine Entscheidung. Diese muss man dann auch respektieren. So schwer uns das auch fällt.“

* Name von der Redaktion geändert

Niemand muss in Luxemburg auf der Straße übernachten – und doch gibt es viele Obdachlose im Land
Niemand muss in Luxemburg auf der Straße übernachten – und doch gibt es viele Obdachlose im Land Foto: Editpress/Tania Feller
churchill
21. Januar 2021 - 17.10

@Leila Dat stemmt. Ech kann mech nach un een Här erenneren den d'Rout Breck mat entworf huet.Hien war Architekt.Mais eigentlech huet hien dat Liewen op der Strooss gewielt,sot hien mir selwer,während hien mir bei den Mathésaufgaben an der Gare gehollef huet,wei ech op den Zuch gewaart hun.Dat war Mett 70er Joeren.

Leila
20. Januar 2021 - 17.37

Ja, zu den 360 000-Einwohner-Zeiten gab es am Bahnhof vielleicht eine Handvoll "Clochards", die man mehr als "Garer Originale" bezeichnen könnte als Obdachlose. Mir ist eine alte Dame in Erinnerung, die eine Ente (oder so) im Kinderwagen spazieren fuhr.

monopol scholer
20. Januar 2021 - 15.00

@Sozial denken. Sie sind nicht der Einzige, der sozial denkt und dies für sich beanspruchen kann. In obigem Artikel geht auch die Rede von einem " verzweifelten Wohltäter " der nicht versteht, wieso Johnny Hilfsangebote ablehnt. Niemand kann den Unglücklichen zwigen, sein Rohr zu verlassen. Also lesen und überlegen, bevor man über andere Kommentatoren urteilt und sich auf eine billige Art lustig über sie macht.

trotinette josy
20. Januar 2021 - 13.04

@Sozial denken. Sie müssen mich nicht lehren sozial zu denken. Ich glaube von mir behaupten zu können, dass ich durchaus eine soziale Ader habe und habe schon vielen Mitmenschen in Not geholfen. Allerdings muss man sich auch helfen lassen. Fahre zwar keinen Tretroller mehr-aus dem Alter bin ich raus- bin aber viel mit dem Rad unterwegs. Das zu Ihrem gut gemeinten, hämischen Ratschlag.

Vinz
20. Januar 2021 - 11.37

@trotinette josy: es ist leider nicht so einfach wie Sie sich das vorstellen. Ich weiss aus Erfahrung wie das läuft: man muss Termine einhalten, komplizierte Formulare ausfüllen, wenn man anruft um Auskunft zu bekommen, hebt niemand auf, usw, usf. Glauben Sie mir diese Leute machen ein Alptraum mit, sie haben einfach keine Kraft mehr Formulare auszufüllen oder sich Termine zu merken. Auch sind solche Leute meist tollpatschig und wissen sich nicht zu helfen. Man muss sehr viel Geduld aufbringen und sich wirklich Zeit für solche Leute nehmen - und wirklich helfen wollen und sich nicht hinter Paragrafen verstecken !

Sozial denken
20. Januar 2021 - 10.29

Méi ewéi d'accord mam soziale Fred.Den trotinette josy soll trotinette fueren

trotinette josy
20. Januar 2021 - 9.50

@Frank Goebel. So gesehen, ist dem jungen Obdachlosen nicht zu helfen. Man kann effektiv niemanden zu seinem Glück zwingen.

Mensch
20. Januar 2021 - 9.07

@ Frank Goebel. Wenn das so einfach ist, warum hat TB denn einen Artikel darüber geschrieben?

Frank Goebel
20. Januar 2021 - 8.12

Aus dem Artikel: „Er braucht nur im Sozialamt vorbeizukommen und schon hat er ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett, zwei Mahlzeiten am Tag und eine Dusche.“ - Die Redaktion

De soziale Fred
19. Januar 2021 - 23.27

Fiirwât kommen déi Léit net och an esou eng schéin propper a gehëtzte Ënnerkunft a kréien all Daag ze iessen an ze drénken a.s.w. wéi et all déi Flüchtlingen hun déi mir ophuelen. Hei as jo machbar, fiirwât net och fir déi Obdachlosen? Dât sin och menschlech Wiésen déi vun onser Gesellschaft verstouss goufen!

de Prolet
19. Januar 2021 - 10.48

Sou änneren Zäiten.Fréier ass keen hänke oder am Stach gelooss ginn. An den 1950er-60er Joeren, hunn d'Gemengen hier arbechtslos Matbierger beschäftegt . Ët huet kee Mënsch missen dobausse an der Keelt an am Dreck schloofen. Ët goufen nach Baueren, an do konnten déi Obdachlos iwwernuechten., a wann ët nëmmen an der Scheier war. Neen, fréier war ët nët méi schéin wéi haut, ët war anescht, ët war méi mënschlech. Mir hate jo och nëmmen 360.000 Awunner. Sou gesinn war alles och méi einfach.

churchill
19. Januar 2021 - 8.34

@Mensch absolut richteg. Mais mat Prestigeobjekter kann een sech mei bretzen an nationbranding machen. Wann een engem helleft,dat könnt net zur Geltung. Leider tickt eist politescht System esou ekelhaft. Den Politiker ass et esou laang wei breet op een dobaussen erfreiert.

en ale Sozialist
18. Januar 2021 - 15.59

@Mensch. Kann Ihnen nur zustimmen. Allerdings gibt es sehr viele Mitbürger, die Vorurteile gegenüber den " Gescheiterten " haben, die ihnen gegenüber keine Empathie empfinden und die leider nicht so denken oder überlegen wie wir beide. Umso wohlhabender eine Gesellschaft umso geringer ihr Mitgefühl für die Gestrandeten. Viele Umstände können dazu führen, dass ein Mensch durchs soziale Netz fällt . Ausserdem brauchen diese Menschen kein passives Mitgefühl, eher eine aktive Unterstützung. Jeder hat eine zweite Chance verdient.

Mensch
18. Januar 2021 - 9.49

Menschen die auf der Strasse leben haben meistens keinen Willen mehr. Die haben oft sehr negative Sachen erlebt und wurden von Menschen sehr enttäuscht. Wenn man darauf besteht Hilfe anzubieten nehmen die meisten sie auch an, aber dann müssen die Leute auch betreut werden bis es ihnen besser geht und nicht gesagt bekommen "jetzt könnt ihr hier schlafen" und morgen früh geht's wieder auf die Strasse. Die Leute müssen einfach betreut und beschäftigt werden. Wo ein Wille ist ist ein Weg. Wir haben ja Geld zum Bau von Prestigeobjekten, da müsste doch auch etwas für die Leute auf der Strasse übrig sein.