Krawallnacht von WashingtonEin Schock für die EU und ihr Amerika-Bild

Krawallnacht von Washington / Ein Schock für die EU und ihr Amerika-Bild
Spät am Mittwochabend kontrolliert die Spezialpolizei das Kapitol – die EU-Spitzen hatten ihre Empörung schon kundgetan Foto: AFP/Olivier Douliery

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Schock, Unverständnis, tiefe Sorge – die Unruhen rund um das Kapitol in Washington haben auch im Ausland deutliche Reaktionen hervorgerufen. Viele Spitzenpolitiker werten die chaotischen Ereignisse als Angriff auf die Demokratie.

Josep Borrell traute seinen Augen nicht. „Dies ist nicht Amerika“, twitterte der EU-Außenbeauftragte in der Chaos-Nacht von Washington. Auch Ratspräsident Charles Michel war fassungslos. „Die Szenen von heute Nacht zu beobachten, ist ein Schock“, schrieb der Belgier.

Der „Tempel der Demokratie“ (der US-Kongress) dürfe nicht angetastet werden, so Michel. Dass es doch geschah, sogar mit Rückendeckung von Noch-Präsident Donald Trump, ist für viele EU-Politiker ein traumatisches Erlebnis. Der Sturm auf das Kapitol hat ihr Amerika-Bild angekratzt.

Eine Störung der Demokratie kommt darin – jedenfalls bisher – nicht vor. So betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch in der Krawallnacht, sie glaube „an die Stärke der US-Institutionen und der Demokratie“. Ähnlich äußerten sich viele andere EU-Politiker.

Auch dass Trump den Aufstand vom Weißen Haus aus steuerte, ist für die EU ein Schock. Bisher kamen Fake News und Desinformation nach Angaben der EU-Kommission nur aus dem Kreml in Moskau. Nun müssen die EU-Strategen umdenken – auch der US-Präsident kann Lügen verbreiten und Unruhe stiften.

Die größten Sorgen macht man sich in Brüssel aber um Trumps Amtsnachfolger Joe Biden. Die EU hat Biden bereits zu einem virtuellen Gipfeltreffen eingeladen und eine umfangreiche Agenda aufgesetzt. Von der Leyen und Borrell hoffen auf eine neue Ära transatlantischer Freundschaft.

So oder so, Zankäpfel gibt es genug

Doch nun ist fraglich geworden, ob Biden überhaupt Zeit finden wird, sich mit Europa zu beschäftigen. Wenn sich die Krise in den USA nicht beruhigt, könnte der nächste US-Präsident gezwungen sein, sich auf die Innenpolitik zu konzentrieren und die Wunden der Trump-Ära zu heilen.

Die EU würde dann nur noch die zweite Geige spielen, wenn überhaupt. Schon jetzt gehen Diplomaten in Brüssel davon aus, dass sich auch der Neue im Weißen Haus vor allem auf China konzentrieren wird – genau wie Trump. Die Europäer werden um den erhofften Neustart kämpfen müssen.

Die EU-Kommission geht bereits in die Offensive. Sie hat Washington eine „transatlantische Agenda“ für die globale Zusammenarbeit vorgeschlagen. Ganz oben auf der Liste stehen der Klimaschutz und der Kampf gegen Corona. Beides hatte Trump verschmäht, Biden soll für den Schulterschluss sorgen.

Die Europäer hoffen aber auch auf ein Ende der US-Strafzölle und auf eine Reform der Welthandelsorganisation WTO. Zudem wollen sie die Spannungen in der NATO beilegen und Biden mit einer kräftigen Erhöhung der Verteidigungsausgaben entgegenkommen. Vor allem Deutschland sei hier gefordert, heißt es in Brüssel.

Doch ausgerechnet das größte EU-Land sorgte zuletzt für Ärger. Das Investitionsabkommen mit China, das Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor dem Ende des deutschen EU-Vorsitzes einfädelte, könne Biden vor den Kopf stoßen, sagen Kritiker in Warschau und Washington. Auch die Gaspipeline Nord Stream 2 bleibt ein Zankapfel.

EU muss erst mal in eigenen Reihen aufräumen

Und dann sind da noch die deutsch-französischen Spannungen über die weitere Strategie. Merkel und von der Leyen wollen die EU wieder auf die USA einschwören. „Eine starke transatlantische Partnerschaft macht sowohl die EU als auch die USA stärker“, sagt von der Leyen.

Demgegenüber besteht Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron darauf, dass die EU den unter Trump eingeschlagenen Kurs der „strategischen Autonomie“ fortsetzt. Europa müsse sich von Amerika unabhängiger machen, denn niemand könne wissen, was nach Biden kommt, so Macron.

Zunächst muss die EU aber in den eigenen Reihen aufräumen. Polen, Ungarn, Tschechien und Slowenien hatten Trump bis zuletzt die Stange gehalten. Nun müssen auch sie von ihrem amerikanischen Idol Abschied nehmen. Die Chaosnacht von Washington dürfte das Umdenken erleichtern.