Editorial Schnörkellos

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Eines der wenigen Outdoor-Events im Sommer: die „Congés annulés“ Foto: Editpress/Alain Rischard

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Am 13. August hielt der Deutsche-Buchpreis-Gewinner Sasa Stanisic im Rahmen des Grenzgänger-Festivals eine Lesung im Berliner LCB – draußen, vor der Wannsee-Kulisse. Angesichts der immer noch drastischen Reduzierung des Kulturangebots und der zahlreichen Urlaubsabsagen hätte man sich eigentlich auf einen Besucherschwall einstellen können, stattdessen tauchten weniger als 200 Literaturinteressenten auf. Dies ist keine Einzelerscheinung. Auch wenn die Kulturbranche sich so langsam erholt und wieder Events anbietet, folgt das Publikum dem Lockruf der Kultur nicht mehr – und das nach monatelangem Entzug.

Die Angst vor dem Virus erklärt diese Skepsis nicht alleine – fast wirkt es so, als hätte man sich die Droge Kultur erfolgreich abgewöhnt und mit trägem Netflix-Schauen einen würdevollen Ersatz gefunden. In der Kulturbranche hat sich eine Lethargie breitgemacht, auch in Luxemburg gab es im Sommer neben den „Congés annulés“ nur wenige Events. Einige sind wohl erleichtert, nicht mehr so tun zu müssen, als würden sie sich für Kultur interessieren, andere genießen es, mehr Zeit zu Hause zu verbringen, noch andere sehen die momentanen Bemühungen, alternative Events anzubieten, als das, was sie teilweise auch sind: ein schaler Ersatz. Laut Slavoj Zizek leben wir zunehmend in einer entkoffeinierten Gesellschaft. Seit Beginn der Pandemie ist dieses (über-)vorsichtige Leben auch in den Kultursektor eingedrungen – ein Bereich, in dem Kreativität die Oberhand haben und Risikobereitschaft das A und O sein müsste.

Weiterhin gilt: Autokino-Spektakel oder maskenlose Freilichtkonzerte mit Distanz und im Sitzen sind weder richtig toll noch wirtschaftlich rentabel. Die zaghaft voranschreitende Wiedergeburt der Kultur – in der September-Ausgabe des Musikexpress meint „Lollapalooza“-Mitbegründer Marc Geiger, mit einer Rückkehr zur Norm in der Eventbranche sei nicht vor 2022 zu rechnen – zeugt aber vor allem von einer weiteren Mutation. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Mutation des Coronavirus, sondern um eine späte Metamorphose des Kapitalismus.

All diejenigen, die während des Lockdowns meinten, die Pandemie wäre das mögliche Tor zu einer besseren Welt, in der Menschen mit Delphinen in den Lagunen von Venedig schwimmen würden, wurden spätestens nach dem Lockdown eines Besseren belehrt. Das Virus war im Gegensatz die Gelegenheit, den Weg für eine weitere Mutation des Kapitalismus zu ebnen. Nachdem der „wilde“ Kapitalismus in den 80ern von Thatcher und Reagan zementiert wurde, sind wir nun in der Ära dessen, was ich hier schnörkellosen Kapitalismus nennen möchte, angekommen: Alles, was nicht wirklich und so richtig rentabel ist, wird nun auf offensive Art als nebensächlich behandelt. 300 Menschen dürfen in einem Flugzeug nebeneinander hocken, weil die Tourismusbranche sonst vor dem Ende steht, am 14. August tanzten in Juan-les-Pins gefühlt 300 Menschen auf engstem Raum, während sich zwei hilflose Polizisten ohne Maske einen Weg durch die Menschenmenge bahnten – nur in der Kulturbranche ist es wesentlich, das „Social Distancing“ besonders strikt einzuhalten.

Irgendwie hat diese Hierarchisierung nach wirtschaftlichen Prioritäten etwas Beruhigendes: Das kapitalistische System zeigt uns endlich sein wahres Gesicht. Wer stets fand, dass die in Pynchons und Volodines Büchern mit Vehemenz gezeichneten neoliberalen Feindbilder etwas zu karikaturhaft daherkamen, weiß nun, dass diese Darstellungen eher authentisch als übertrieben waren. Nachdem das System seine Verachtung gegenüber kulturellen Produkten ganz offen an den Tag gelegt hat, bleiben der Kultur die Nische, die Rebellion, die Wut und der Protest. Glücklicherweise hat dies immer schon zu den spannenderen Werken geführt.

DanV
26. August 2020 - 15.46

Kapitalismus? Kunstverachtung? Hier ein Stichwort, das den Tatsachen besser entspricht: "Überleben". Googeln Sie mal die Maslow-Pyramide ... Da steht Kunst nicht mal drin. Der Mensch muß erst für die grundlegenden Bedürfnisse sorgen. Das sind essen, trinken, Dach über dem Kopf, usw. Dafür muß er Geld verdienen, also braucht er Arbeit. Deshalb muß die Wirtschaft wieder angekurbelt werden und nicht die Kunst - die Mehrheit der Menschen sind keine Künstler. Wenn die grundlegenden Bedürfnisse der Massen wieder gesichert sind, wird es der Kunst auch wieder besser gehen. Aber 300 Menschen auf engstem Raum, egal ob im Flugzeug oder beim Tanzen - das ist wirklich noch viel zu früh.