RetroWie Andy Schleck die Tour de France 2010 gewann (4/8): Andys erster Streich

Retro / Wie Andy Schleck die Tour de France 2010 gewann (4/8): Andys erster Streich
Ankunft in Morzine: Andy wartet den richtigen Moment ab, um Samuel Sanchez zu überholen und seinen ersten Etappensieg zu feiern Foto: Marie-Paule Schock

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Vor zehn Jahren beendete Andy Schleck die Tour de France hinter Alberto Contador auf dem zweiten Platz, wurde aber am 6. Februar 2012 wegen einer positiven Dopingprobe des Spaniers zum Sieger erklärt. Das „Maillot jaune“ bekam er am 29. Mai 2012 im Mondorfer Casino übergestreift. In einer achtteiligen Folge erzählt Petz Lahure, wie es zu dem historischen fünften Luxemburger Tour-Erfolg kam. Heute (4/8): „Andys erster Streich“.

Wie von vielen erwartet, wurde die Vorherrschaft von Fabian Cancellara bei der Tour de France 2010 in den Anstiegen des französischen Jura beendet. Der Franzose Sylvain Chavanel attackierte auf der siebten Etappe Tournus-Les Rousses im zweitletzten Anstieg (Col de la Croix de Serra) und schaffte es allein bis ins Ziel. In Les Rousses feierte er seinen zweiten Etappensieg innerhalb von nur sechs Tagen und streifte zum zweiten Mal bei dieser Tour das Gelbe Trikot über.

Andys 1. Etappensieg

Als Cancellara abgehängt war, ließ er es mit einigen anderen Mannschaftskollegen (aus taktischen Gründen?) lockerer angehen. Bis ins Ziel wuchs der Rückstand der Gruppe um den Schweizer Zeitfahr-Weltmeister bis auf 14‘12“ an. Andy Schleck (20.), der mit den meisten Favoriten 1‘47“ nach Chavanel eintraf, hatte vom Saxo-Bank-Team nur mehr Chris Sörensen (23.) an seiner Seite. Der Luxemburger übernahm die Führung in der Wertung des „besten jungen Fahrers“ und damit auch das „Maillot blanc“. Für den Tag danach auf der Etappe Les Rousses – Morzine-Avoriaz versprach er Großes. Und er hielt Wort.

Im Hauptort des französischen Teils der grenzüberschreitenden „Portes du soleil“ (Haute Savoie/F – Wallis/CH) setzte Andy die Reihe der Luxemburger Etappensiege bei der Tour de France fort. Er war der 15. Fahrer aus dem kleinen Großherzogtum, der eine Etappe gewann (die 68. insgesamt), doch sahen die vielen Luxemburger Fans in diesem Erfolg lediglich eine Zwischenstation auf dem Weg zu mehr. „Dat Allerbescht kënnt eréischt“, so die einstimmige Meinung des Schleck-Anhangs.

„Ich habe einen Plan“

Bei der Einfahrt ins Ziel wirbelte Andy mit den Armen durch die Luft, dann streckte er den rechten Zeigefinger in die Höhe und schrie seine Freude in die weite Welt hinaus. Es war sein erster Etappensieg bei der Tour de France, vier Jahre, nachdem sein Bruder Frank auf der Alpe d’Huez gesiegt hatte.

Luxemburg schien seit 2006 auf Etappensiege bei der Tour abonniert zu sein (2006 Frank Schleck, 2007 Kim Kirchen, 2008 Kim Kirchen, 2009 Frank Schleck, 2010 Andy Schleck), wobei allerdings zu bemerken ist, dass Kim Kirchen seine Siege am grünen Tisch zugesprochen bekam. Kim klassierte sich in Loudenvielle (2007) und in Cholet (2008) als Zweiter, doch die vermeintlichen „Gewinner“ Winokurow und Schumacher waren beide gedopt.

„Ich habe bei dieser Tour de France einen Plan, und den will ich befolgen“, sagte Andy bei der obligaten Pressekonferenz des Siegers. Dieser Plan, das war beileibe kein Geheimnis, sollte zum Gesamterfolg in Paris führen, ein Ziel, das seit Charly Gaul im Jahre 1958 kein Luxemburger mehr erreicht hatte.

Nur keine Angst

Spätestens in Morzine wurde der Beweis erbracht, dass Andy sowohl physisch als auch psychisch in der Lage war, seine Träume in die Wirklichkeit umzusetzen. Bis auf die „Champs-Elysées“ in Paris aber lagen noch viele gefahrenreiche Kilometer vor ihm. Allerdings hatte der junge Mann in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen, dass ein ganz großer Champion wie er sich vor nichts und niemandem zu fürchten brauchte.
Bis zu diesem Zeitpunkt ging der Plan, den Andy Schleck sich vorgezeichnet hatte, auf. Daran änderten auch ein Sturz, der Schlüsselbeinbruch seines Bruders Frank und der zu hohe Zeitrückstand beim Prolog nur wenig.
Auf den „Pavés“ machte Andy Terrain wett, danach brachte Cancellara dank seines Gelben Trikots einiges an Geld in die Mannschaftskasse, und in Morzine durfte der junge Schleck sich selbst feiern.

„Alles mit der Ruhe“

Andy, und das war das Erstaunliche an der Strategie des jungen Mannes, nahm sich Zeit für das Gelingen seines Vorhabens. „Alles mit der Ruhe, nur keine Panik“ war die Devise des Saxo-Bank-Kapitäns, der bei der Pressekonferenz am Ruhetag eine Gelassenheit ausstrahlte, wie sie nur den ganz großen Champions, die ihrer Sache sicher sind und die wissen, was sie wollen, eigen ist. Pessimisten meinten, das Saxo-Bank-Team wäre durch Frank Schlecks Ausfall zu schwach in den Bergen. So können eigentlich nur Radsporttheoretiker denken. Denn wenn es ans Eingemachte geht, sind auch die andern auf sich alleine gestellt. Es zählt also die eigene Kraft.

Trotzdem war für die nächsten Etappen Vorsicht geboten, denn die Geschichte der Tour de France strotzt nur so von Überraschungen und unerwarteten Umschwüngen. „Wir sind alle wichtigen Teilstrecken abgefahren, nur die achte nicht“, sagte Andy beispielsweise am Vortag nach der Fahrt durch das französische Jura.
„Wenn wir um die Schwierigkeiten gewusst hätten, die uns erwarteten, wären wir in der Vorbereitungsphase wohl irgendwann auf der Strecke zwischen Tournus und der ‘Station des Rousses‘ aufgekreuzt. Ich war natürlich glücklich über das ‘Maillot blanc‘, das ich überstreifen durfte, doch habe ich eine andere Trikotfarbe im Hinterkopf.“

Der Traum von Gelb

Von dieser (gelben) Farbe, dem Traum aller Tour-Teilnehmer, war Andy Schleck nach dem Etappensieg von Morzine nur mehr 20 Sekunden entfernt. Das „Maillot jaune“, das für 24 Stunden von den Schultern Fabian Cancellaras auf diejenigen von Sylvain Chavanel gewandert war, übernahm der Australier Cadel Evans. Mit Alberto Contador (3. auf 1‘01“) schien er der gefährlichste Widersacher von Andy zu sein.
Eigentlich kamen („sauf accident“) nur mehr diese drei Fahrer für den Gesamtsieg in Frage. Für den Sprung auf die unterste Stufe des Treppchens durften sich zwar auch noch Denis Mentschow (5. auf 1‘10“), Roman Kreuziger (7. auf 1‘45“) oder sogar der überraschende Ryder Hesjedal (6. auf 1.01“) Chancen ausrechnen, doch müsste sich der Schlusssieger aus dem Trio Evans-Schleck-Contador herausschälen. Auf der ersten Etappe nach dem Ruhetag über den Col de la Colombière, den Col des Saisies und den gefürchteten Col de la Madeleine nach Saint-Jean-de-Maurienne wollte Andy nicht unbedingt sein zweites Ziel bei dieser Tour, das „Maillot jaune“, anpeilen.

Pressekonferenz am Ruhetag: Andy kündigt an, nach dem Weißen Trikot auch das „Maillot jaune“ zu holen 
Pressekonferenz am Ruhetag: Andy kündigt an, nach dem Weißen Trikot auch das „Maillot jaune“ zu holen  Foto: Marie-Paule Schock

Revanche für Beijing

Das schien ihm etwas verfrüht zu sein, umso mehr da das gelbe Leibchen bei Cadel Evans bestens aufgehoben war. In den Pyrenäen würde sich mit Sicherheit eine idealere Gelegenheit zum Leaderwechsel bieten. In der Steigung nach Avoriaz konnte Cadel Evans die Attacke von Andy Schleck zwar nicht kontern, doch hielt er, genau wie übrigens auch Alberto Contador, den Abstand so gering wie möglich. Am Ende retteten Andy und sein spanischer Begleiter Samuel Sanchez zehn Sekunden Vorsprung über den Strich. Auf der Zielgeraden nahm Andy Revanche für die bei den Olympischen Spielen in Beijing 2008 erlittene Spurtniederlage. Damals gewann Sanchez, während Andy nach der späteren Disqualifizierung des Italieners Davide Rebellin in den offiziellen olympischen Ergebnissen auf Platz 4 geführt wird.

In Morzine fehlten einige Mitfavoriten in der zehnköpfigen Verfolgergruppe, die vom Holländer Robert Gesink (Platz 3) angeführt wurde. So beispielsweise der Engländer Bradley Wiggins, der Kanadier Ryder Hesjedal … und vor allem „Veteran“ Lance Armstrong, der einen rabenschwarzen Tag erwischt hatte.

Armstrong, das Ende …

Der siebenfache Tour-Sieger stürzte im Verlauf der Etappe mehrere Male, trug Abschürfungen an Rücken, Schulter, Knie und Ellbogen davon und konnte schon im Anstieg zum Col de la Ramaz (rund 40 km vor dem Ziel) nicht mehr folgen. Er traf mit 11‘45“ Verspätung ein. Das war das Ende einer Ära, ein glanzloser und schmerzhafter Abschied von der Radsportbühne. Armstrong, der jahrelang Bodyguards brauchte, um sich vor der Öffentlichkeit abzuschirmen, wurde von denselben Leuten, die ihm einst zujubelten, kaum noch beachtet. Als der „Boss“ zwei Jahre zuvor sein Comeback angekündigt hatte, waren die Meinungen geteilt, ob er nach längerer Abstinenz vom Radsattel noch einmal bis an die Spitze fahren könnte. Bei der Tour 2008 mischte der für seine markigen Sprüche bekannte Texaner über Erwarten gut mit und schaffte es sogar auf den dritten Podiumsplatz.

Überheblichkeit

Wenn Lance schlau gewesen wäre, hätte er es dabei bewenden lassen. Stattdessen aber kündigte er vollmundig an, die andern 2010 noch einmal das Fürchten zu lehren. Diese Aussage war von einer Überheblichkeit sondergleichen, sie zeugte von falscher Selbsteinschätzung und trug dem Alter, dieser wichtigsten aller Begleiterscheinungen, nicht Rechnung.

Armstrong war (wie die anderen übrigens auch) zwei Jahre älter geworden. Die Natur aber macht einen feinen Unterschied zwischen einem, der auf die 40 zumarschiert, und einem, der knapp 25 ist. Während der eine den Zenit seines Könnens längst überschritten hat und sich quälen muss, um auf hohem Niveau irgendwie noch mithalten zu können, wird der andere stark und stärker.

Die Schere zwischen beiden vergrößert sich demnach. Das ist nun mal so, das hätte Lance wissen müssen. Armstrongs sportliche Laufbahn war vorbei. Und sein Ruf ebenso. Denn ausgerechnet zum Ausklang seiner so erfolgreichen Karriere wurden die Doping-Vorwürfe, die ohnehin sein ständiger Begleiter waren, immer konkreter. Mittlerweile wissen wir, wie das Ganze endete. Armstrong bekam wegen jahrelangen systematischen Betrugs alle Titel aberkannt.

Serie

In einer achtteiligen Serie von Petz Lahure blickt das Tageblatt auf den Tour-Sieg von Andy Schleck aus dem Jahr 2010 zurück. Der 5. Teil, „Endlich in Gelb“, folgt am Montag, den 13. Juli.