ForumSchuld an Nawalnys Tod ist die „Schocktherapie“

Forum / Schuld an Nawalnys Tod ist die „Schocktherapie“
 Foto: Uncredited/AP/dpa

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Der Tod des russischen Oppositionspolitikers und Kremlkritikers Alexei Nawalny in einer arktischen Strafkolonie hat die Welt schockiert, aber nicht unbedingt überrascht. Der umgewandelte Gulag mit Namen „Polarwolf“, in dem er starb, war für Schwerstkriminelle und nicht für politische Gefangene reserviert, für seine harschen Bedingungen bekannt, und Nawalny war ausgiebigst gefoltert worden.

Trotzdem waren die Umstände von Nawalnys plötzlichem Tod – nach einem gutgelaunten Auftreten vor Gericht am Vortag – mysteriös. Mit seinen 47 Jahren war Nawalny noch immer jung, und er schmiedete aktiv Pläne, was nahelegt, dass er der Zukunft weiterhin hoffnungsfroh entgegensah. Die Indizien deuten also nicht auf einen Tod aus „natürlichen Ursachen“ hin, wie die russischen Behörden behaupteten.

Freilich waren Nawalnys Tage gezählt, nachdem er jahrelang die Korruption von Präsident Wladimir Putins Regime aufgedeckt hatte. Im Jahr 2020 scheiterte der schwerwiegendste Anschlag auf sein Leben – eine beinah tödliche Vergiftung mit dem militärischen Nervengift Nowitschok –, als er zur Behandlung nach Deutschland geflogen wurde. Im Bewusstsein des Schicksals, das ihn in Russland erwartete, wo die Linie zwischen einer Haftstrafe und einem Todesurteil gefährlich dünn ist, entschied er sich trotzdem zur Rückkehr nach Moskau, wo er bei seiner Ankunft verhaftet und letztlich zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Wer der Hauptverdächtige bei Nawalnys Tod ist, ist offensichtlich. „Putin ist verantwortlich“, äußerte US-Präsident Joe Biden. Andere Staats- und Regierungschefs und ein Chor von Kommentatoren schlossen sich dieser Einschätzung an. Nawalny – ein geschickter Basisorganisator, der 2013 für den Posten des Bürgermeisters von Moskau und 2018 bei den Präsidentschaftswahlen kandidierte – war der deutlich glaubwürdigste und charismatischste Kritiker Putins, dessen Partei er als einen Haufen „Schwindler und Diebe“ bezeichnet hatte.

Wirtschaftspolitik der 1990er Jahre

Selbst hinter Gittern blieb Nawalny für Putin eine glaubwürdige Bedrohung. Daher deuten angesichts seines Todes – so verdächtig nah vor der Präsidentschaftswahl im März, bei der Putin eine fünfte Amtszeit anstrebt (nachdem er 2020 die verfassungsmäßige Amtszeitbeschränkung aufheben ließ) – zumindest die Indizien auf einen eindeutigen Schuldigen hin. Doch während Putins Rolle bei Nawalnys Tod so gut wie unbestreitbar ist, gibt es einen stillen Komplizen, dessen Anteil an dieser Tragödie nicht ignoriert werden darf: die Anfang der 1990er Jahre verfolgte Wirtschaftspolitik.

Statt einen allmählichen Übergang weg von der sowjetischen Kommandowirtschaft zu verfolgen, verabschiedete Russland ein Reformpaket, das versprach, die Marktkräfte schnellstmöglich freizusetzen. Dieser als „Schocktherapie“ bekannte Ansatz genoss die Unterstützung des Internationalen Währungsfonds und vieler hoch angesehener Ökonomen, von denen mehrere am Harvard Institute for International Development angesiedelt waren, und hatte den Segen der Regierung von US-Präsident Bill Clinton.

Die schnelle Massenprivatisierung – eine zentrale Komponente der Schocktherapie – führte zu einem der größten Vermögenstransfers der Geschichte, der auch viele der weltgrößten Öl-, Erdgas- und Metallvorkommen umfasste. Das ehrgeizigste Unterfangen dabei, das von Präsident Boris Jelzins Privatisierungsbeauftragten Anatoli Tschubais konzipierte Programm „Kredite für Aktien“, schuf eine politisch einflussreiche Klasse von Oligarchen, die die Kontrolle über Russlands wertvollste Vermögenswerte erlangten.

Das Ziel der schnellen Privatisierung war kein rein wirtschaftliches. Tschubais hatte dabei auch die noch immer enorme Präsenz der Kommunistischen Partei im Auge, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion entmutigt, aber nach wie vor geeint war. Eines der Ziele der Massenprivatisierung war daher, die Einheit der Partei zu zerstören, indem man einen Keil der Gier zwischen Parteikader und Funktionäre trieb. Dieser Teil des Plans funktionierte nahezu perfekt: Selbst KGB-Mitglieder sagten sich von ihren Klans los, um industrielle und sonstige Vermögenswerte an sich zu raffen.

Fehlende institutionelle Voraussetzungen

Das Problem war, dass die institutionellen Voraussetzungen fehlten, z. B. Gerichte oder Regulierungsstrukturen (die bekanntlich „unbeweglich“ sind und sich nicht ohne Weiteres aus dem Ausland übernehmen lassen) oder selbst Kennzahlen, die ein Funktionieren der Märkte hätten belegen können. Es überrascht nicht, dass Tschubais’ Privatisierungsmaßnahmen sich ebenso sehr als „Schock“ wie als „Therapie“ erwiesen. Die plötzliche Liberalisierung der Preise und die Massenprivatisierung führten nur zu einer verunstalteten Kleptokratie, Vetternwirtschaft und allgegenwärtiger Korruption. Am Ende seiner Amtszeit ernannte der zunehmend gebrechliche und unbeliebte Jelzin Putin, einen unbedeutenden ehemaligen KGB-Offizier der mittleren Ebene, zum Ministerpräsidenten – eine Position, die Putin im Jahr 2000 gegen die Präsidentschaft eintauschte.

Nawalnys tragischer Tod, der mit dem zweiten Jahrestag des russischen Einmarsches in der Ukraine zusammenfiel, hat seine Wurzeln in dieser historischen Entwicklung. Natürlich hat Putin Blut an den Händen; doch Schuld hat auch die Wirtschaftspolitik, die das Ökosystem hervorbrachte, in dem er aufstieg und Erfolg hatte. In einer idealen Welt würden wir den Niedergang dieser Politik erleben, statt den Tod eines Helden der modernen Zeit zu betrauern.

Aus dem Englischen von Jan Doolan.

*Antara Haldar ist Associate Professor für empirische Rechtsstudien an der Universität Cambridge, Gastlehrende an der Universität Harvard und Studienleiterin einer vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Studie zum Thema Recht und Kognition.

Copyright: Project Syndicate, 2024. www.project-syndicate.org.

fraulein smilla
4. März 2024 - 13.15

Nach dem Nobelpreistraeger Jo Stiglitz haben marktwirtschaftlische Bolschewiken , ua des IWF Russland damals zugrunde gerichtet .

fraulein smilla
3. März 2024 - 17.40

Jelzin machte Putin zu seinem Nachfolger ,weil der Ihm und seiner korrumpierten Familie ,besonders seiner Tochter Tatjana Schutz vor Strafverfolgung garantierte und sie so vor langjaehrigen Haftstrafen bewarhte .

JJ
2. März 2024 - 15.07

Schuld ist Putin und seine Menschen verachtende Mafia von Kopfnickern.