ForumGaza – Die Schuld des Westens

Forum / Gaza – Die Schuld des Westens
 Foto: AFP/Mohammed Abed

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Durch sein verdruckstes Schweigen, sein verlegenes Wegschauen und gewundenes Nichtstun hat sich der Westen mitschuldig gemacht an der Tragödie, die sich in Gaza abspielt. Unter den Europäern fällt die Passivität Deutschlands besonders auf. Man hätte vielleicht meinen können, dass das Land, das einst so viel Leid über die Welt gebracht und daraufhin selbst viel gelitten hat, eine besondere Sensibilität für das entsetzliche Leiden der Palästinenser habe.

Während man sich tagtäglich über Tote und Verletzte, über Zerstörung in der Ukraine erregt, hört man in Europa kaum ein Wort über die vielfach, relativ wie absolut, größeren Verluste an zivilen Menschenleben in Gaza. Man beruft sich stets auf den 7. Oktober 2023, so als ob die Geschichte an dem Tag begonnen hätte und zugleich stehen geblieben wäre. Man gedenkt der israelischen Opfer und der israelischen Geiseln, doch es kommt kaum ein Wort des Bedauerns über die zehntausenden palästinensischen Opfer über die Lippen.

Die europäischen Mainstream-Medien, allen voran die deutschen, sind so gut wie stumm. Ein Deutscher, der nur die Bild-Zeitung liest, weiß gar nicht, dass in Gaza ein Vernichtungskrieg tobt, dass weit über zehntausend Kinder getötet und viel mehr noch verstümmelt worden sind. Auch die „gehobeneren“ Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche oder Die Zeit berichten ganz wenig über das Leid der Palästinenser. Ähnliches, wenn auch nicht ganz so krass, gilt für Frankreich, für Le Monde, Le Figaro, Libération. Wenn in Charkow zwei Menschen ums Leben kommen, berichten die europäischen Medien ausführlich darüber, zweihundert Tote in Gaza zur gleichen Zeit scheinen ihnen kaum erwähnenswert.

Westliche Bigotterie

Wie sind dieses politische und moralische Versagen, diese Drückebergerei des Westens zu erklären? Ist es Zynismus, Moralvergessenheit, Vulgärmachiavellismus, Kompensation für Jahrhunderte von Antijudaismus? Das Verhalten in der Gaza-Tragödie ist jedenfalls ein Revelator: Es enthüllt vor allem die europäische Schwäche. Die EU bietet ein Bild der Konfusion und inneren Zerrissenheit, ja Erstarrung. Kommissionspräsidentin von der Leyen und Ratspräsident Michel scheinen mehr mit dem Gerangel um persönliche Prärogativen als mit den großen Anliegen der Politik beschäftigt zu sein. Großbritannien pflegt seine alten Marotten und Obsessionen, Frankreich wird kaum noch von jemandem ernst genommen. Nach vier Monaten Krieg in Gaza warnt die deutsche Außenministerin Israel zum ersten Mal zaghaft davor, die militärische Offensive auf Rafah auszuweiten. Ein solcher Schritt wäre „eine humanitäre Katastrophe mit Ansage“. Oppositionsführer Friedrich Merz hingegen, stolz auf seine Begegnung mit Netanyahu, verteidigt auf Teufel komm raus das israelische Handeln.

Israel profitiert natürlich auch davon, dass in den USA ein physisch und mental angeschlagener Präsident regiert, der immer mehr auf seine Entourage angewiesen ist, eher Sprachrohr als Gestalter geworden ist. Erst nach vier Monaten Gemetzel traut sich Biden, das israelische Vorgehen etwas zu kritisieren, es sei „over the top“, also übertrieben. Was allerdings die israelische Regierung, in der ja auch rechtsextreme Minister mit exterminatorischer Gesinnung sitzen, nicht im geringsten zu stören scheint.

Als vor kurzem drei amerikanische Soldaten bei einem Drohnenangriff in Jordanien getötet wurden, gab es großes Gejammer und Gezeter, wurden Vergeltungsmaßnahmen ohne Rücksicht auf zivile Opfer ergriffen. Dreißigtausend getötete Palästinenser scheinen hingegen eine vernachlässigbare Größe zu sein.

Den „Rest der Welt“ scheint übrigens kaum zu interessieren, was in Gaza passiert. Man überlässt diese Angelegenheit dem Westen. Vielleicht freut sich auch so mancher über das Versagen des Abendlandes. Wie will der Westen, der dem blutigen Treiben in Gaza so untätig zuschaut, anderen Teilen der Welt noch Lektionen erteilen in Sachen Menschenrechte und universelle Werte? Doch seltsamer-, ja groteskerweise fährt dieser Westen, der seine proklamierten Werte verrät und verramscht, fort, anderen, China etwa, seine moralischen Überzeugungen zu predigen.

Der Westen wird von seinen Versäumnissen, von seiner Verblendung, seinen Selbst-Täuschungen, seiner Selbstgefälligkeit, seinem Mangel an Entschlossenheit, an Tatkraft, an Durchsetzungsvermögen, an Glaubwürdigkeit eingeholt.

„Quel gâchis“

Schaut man sich den sogenannten Friedensprozess im Nahen Osten an, so kommt man nicht umhin, auszurufen: Welche Vergeudung! In der Tat hat der Westen nie vermocht, eine wirklich solide Lösung durchzusetzen; er hat vielmehr der allmählichen Verschlechterung der Lage zugeschaut, einer Lage, die zunehmend verworrener, ja zu einem schier unentwirrbaren Knäuel geworden ist.

Er hat sich in den Illusionen von oberflächlichen Diskussionen, wenig durchdachten und wenig substanziellen Abmachungen und Abkommen gewogen, ja geradezu gesonnt, Vereinbarungen, die außer wohlwollendem Schulterklopfen, feierlichen Danksagungen und Friedensnobelpreisen kaum etwas einbrachten: Oslo, wo vor etwas mehr als 30 Jahren von „Leben in friedlicher Koexistenz und beiderseitiger Würde und Sicherheit“ die Rede war und von „historischer Versöhnung“, Camp David im Jahr 2000, wo es eine Annäherung in territorialen Fragen gab, nicht aber in der Frage der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge und des Status von Jerusalem.

Seit Jahrzehnten hat man im Westen so getan, als ob die „palästinensische Frage“ höchste Priorität genieße, während sie in Wirklichkeit als Frage von zweitrangiger politischer Bedeutung behandelt wurde. Das böse jähe Erwachen hätte ja spätestens jetzt kommen müssen, doch verharrt der Westen weiter in seiner Lethargie, seiner Verlegenheit, seiner Untätigkeit.

Irrungen und Wirrungen

Wieso unterstützt der Westen eine Regierung, von der er weiß, dass sie rechtsextreme, faschistoide Elemente enthält, einen Premierminister, von dem man weiß, dass er bereit ist, zehntausende von Palästinensern zu opfern, um politisch zumindest einstweilen zu überleben?

Weshalb hat der Westen nicht einmal versucht, Israel etwas Einhalt zu gebieten? Wieso ergeht er sich in Ablenkungsmanövern, Vorwänden, Ausreden, übernimmt unkritisch den Diskurs der Netanyahu-Regierung, der besagt, dass man Krankenhäuser zerstören müsse, weil die Hamas darunter Waffenlager verstecke, dass die UNRWA1) nicht mehr unterstützt werden solle, weil sich einige ihrer Mitarbeiter angeblich an den Attacken des 7. Oktober beteiligt hätten? Übrigens hat Israel bislang keine Beweise für diese Anschuldigungen vorgelegt. Dennoch haben einige westliche Länder wie die USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich ihre Hilfslieferungen an UNRWA gestoppt. Dies dürfte zu einer Verschärfung der ohnehin unfassbaren humanitären Katastrophe im Gaza-Streifen führen.

Was der Westen nicht wahrhaben will: dass er eine irrige Vorstellung vom derzeitigen politischen Israel hat, dessen Entwicklung zu einem zunehmend autistischen Gemeinwesen, wo der Anteil der gemäßigten, vernünftigen, weltoffenen, auf ein friedliches Miteinander bedachten Kräfte unablässig schrumpft. Für den, der die unendlich leidvolle Geschichte des jüdischen Volks vor Augen hat, hat die absehbare längerfristige Entwicklung Israels etwas Befremdliches, aber auch Unheilvolles, geradezu Tragisches.

Durch seine fast bedingungslose Unterstützung Israels macht ein erratischer Westen, der verzweifelt nach Orientierung sucht, die sein Handeln rechtfertigen und steuern könnte, sich mitschuldig an dem furchtbaren Geschehen in Gaza. Sein Gebaren weckt böse Erinnerungen an triste Episoden der westlichen Kolonialpolitik, an eine Geschichte, von der viele gemeint oder zumindest gehofft hatten, dass sie sich nie wiederholen werde. Sind da etwa unterschwellige rassische Vorurteile im Spiel, diesmal nicht gegen die Juden, sondern gegen die Muslime? Es ist, als ob der säkularisierte Westen noch von dumpfen Resten eines einstigen Missionarismus und Superiorismus durchdrungen sei.


1) Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, dessen bei weitem größte finanzielle Unterstützer bislang die USA und Deutschland waren.


Zum Autor: Armand Clesse ist u.a. Politologe.

luxmann
23. Februar 2024 - 6.19

Ein sehr guter beitrag von Armand Clesse, der volle unterstuetzung verdient.

Job 2.0
21. Februar 2024 - 13.12

Die Ansiedlung der Juden in arabischem Gebiet nach dem Krieg war ein schwacher Schachzug. Man hält ja keine Hühner in einem Wald voller Wölfe. Die damalige Enteignung der Palestinenser war die Lunte an einem Pulverfass.

Emile Müller
19. Februar 2024 - 14.30

Ein sehr schwacher und sehr einseitiger Artikel eines "Politologen"... dessen Fragen sehr schnell, einfach und bereits mehrmals beantwortet wurden.... Warum unterstützt Europa und die USA Isreael.... Da es der einzige nicht islamische und dem Westen zugeneigte Staat im Nahen Osten ist. Da ein Terroranschlag der Hamas dem unverhältnismäßigen Überfall Israels auf Gaza vorausging. Da ein nicht Unterstützen eine Form der Einladung zur Kriegserkläung aller Nachbarstaaten gegen Israel wäre (nicht dass es dieser Kriege bereits genügend gegeben hätte...). Interessant ist es allerdings, dass Leute, die gemütlich im Westen sitzen und alle Vorteile geniessen jene sind, die am meisten gegen den Westen schreien, vom Rest der Welt (China/Indien und Co.) wird nichts erwartet, wer hier noch in rassistischen und kolonialen Denkmustern steckt ist leicht erkennbar. Ein Plumper Versuch einer Darseinsberechtigung als "Politologe", ein Titel der die westliche Dekadenz nun wahrlich unterstreicht....

derbösewesten
19. Februar 2024 - 13.46

der Westen hat an gar nix schuld. die hamas macht ihr eigenes ding, natürlich mit hilfe der iranischen pfaffen. nicht vergessen, 90% der Gaza Einwohner unterstützen die Hamas.

DanV
19. Februar 2024 - 13.24

Bitte hören Sie auf, den Westen als eine "Allmacht" zu sehen, die alle Probleme regeln kann. Das Gegenteil ist der Fall: die Hilfen für beide Seiten, egal ob Finanzierung in Israel oder Finanzierung der UNRWA übertünchen nur die unendlich große HILFLOSIGKEIT der westlichen Staaten vor soviel Irrationalität und Sturheit. Alle Vermittlungsversuche, ob engagierte oder halbherzige, sind gescheitert und haben nur zu mehr Blutvergiessen geführt. Sehen Sie endlich ein, dass weder die israelische noch die palästinensiche Seite einen vernünftigen Kompromis schließen will. Beide wollen alles oder nichts. Aber in zwei Punkten haben Sie recht. Waffenlieferungen sollten unterbleiben und Israel rutscht immer weiter auf die dunkle Seite. Europäische Christen UND Juden waren darüber schon vor dem 7. Oktober. sehr beunruhigt.

max.l
19. Februar 2024 - 11.11

dem Autor : chapeau..

fraulein smilla
19. Februar 2024 - 8.51

Wieso laesst Opi Biden es sich eigentlich so lange gefallen ,dass Bibi ihm dauernd den Stinkefinger zeigt .Er koennte sich an seinem Vorgaenger George H Bush ( Bush Vater ) ein Beispiel nehemen . Der zeigte 1991 der damaligen Regierung Shamir ,wer in ihrer Beziehung die Hosen anhat indem er ihnen drohte den Geldhahn zuzudrehen falls sie sich weigerten an der Madridkonferenz teilzunehmen .