EditorialEin furchtbarer Kater

Editorial / Ein furchtbarer Kater
 Foto: AFP/Gabriel Bouys

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Kennen Sie folgendes Szenario? Nach einer langen Nacht wachen Sie auf. Die Realität fühlt sich irgendwie fern an. Sie sind nicht in der Lage, die Aufgaben zu erledigen, die Sie sich eigentlich vorgenommen hatten. Nicht weil der Körper es nicht kann, sondern weil der Geist es nicht will. Sie haben einen Kater.

So fühlen sich derzeit auch viele Fußballfans dieser Welt. Eigentlich sollten sie sich auf die anstehende Weltmeisterschaft in Katar freuen, sämtliche Sonderhefte kaufen, um sich ordentlich vorzubereiten, die Panini-Bilder-Sammlung in Angriff nehmen und schon mal den Garten für einen tollen Abend mit Freunden vorbereiten.

Das geht allerdings nicht, denn viele unter ihnen haben den Katar-Kater. Nie war die Vorfreude getrübter als vor der Weltmeisterschaft 2022 im Wüstenstaat. Dieses Gefühl hat nichts mit der Entfernung zu tun. Es hat auch nichts mit dem Zeitunterschied zu tun. Katar ist bei den Fans nicht angekommen. Die FIFA verspricht das beste Turnier aller Zeiten … derzeit sieht es eher nach der traurigsten Weltmeisterschaft aller Zeiten aus.

Dieses Gefühl kann man nicht an den Ticketbestellungen messen. Die Stadien werden auch in Katar voll sein. Eine Weltmeisterschaft spielt sich aber nicht nur in den Arenen ab, sondern auch in den Kneipen, in den heimischen Wohnzimmern, im Pausenhof und auf der Straße. Es ist ein soziales Event, das alle vier Jahre vier Wochen lang die Menschen verbindet und zusammenbringt. Es wird auch mal gestritten, aber das gehört zur Natur des Menschen dazu.

Dieses Gefühl wurde durch die Wahl von Katar als Austragungsort zerstört. Die Gründe sind eindeutig: Das Emirat wurde 2010 nicht wegen seiner Fußballkultur, sondern wegen seines Geldes auserwählt. Die Begriffe Bestechung und Korruption begleiteten seitdem die WM 2022. Durch den Bauboom werden Gastarbeiter ausgebeutet. Wie viele von ihnen starben, steht bis heute nicht fest. Manche Quellen sprechen von drei (die FIFA und das WM-Organisationskomitee, Anm. d. Red.), andere von 6.500 (die englische Tageszeitung The Guardian, Anm. d. Red.) Toten. Genaue Zahlen gibt es auch deshalb nicht, weil der Wüstenstaat ausweichend auf diese Frage antwortet. Fest steht, dass 15.000 Nicht-Katarer von 2010 bis 2020 starben. In dieser Statistik wurden jedoch auch Tote erfasst, die eines „natürlichen“ Todes starben. Ein weiteres Problem ist der Umgang mit der LGBTQI±Gemeinschaft und Andersdenkenden.

Es gibt genügend Gründe, warum Katar keine Weltmeisterschaft austragen sollte. Seit 2010 wurde dies jedoch nicht verhindert.

Das Tageblatt hat sich entschieden, diese Weltmeisterschaft nicht zu boykottieren. Es wäre zu einfach, sich der Welle derer anzuschließen, die jahrelang nichts gegen dieses Event unternommen haben und ein paar Wochen vor der WM scheinheilig zu beschließen, etwas zu boykottieren, woran man sowieso nichts mehr ändern kann.

Die Berichterstattung wird aber an die Begebenheiten angepasst werden. Der Sport wird diesmal weniger im Mittelpunkt stehen als bisher. Wir haben uns aber auch entschlossen, die Weltmeisterschaft nicht zu boykottieren, da im Wüstenstaat Athleten der Extraklasse auflaufen werden und es unsere Aufgabe als Tageszeitung mit einem starken Sportteil ist, unseren Lesern die Leistung dieser Topsportler nicht vorzuenthalten.

Apuntes
9. November 2022 - 11.27

Umgedreht, Herr Elvinger! Wenn man das Produkt Weltmeisterschaft konsumiert, nimmt man automatisch die Produktionsbedingungen in Kauf.

JJ
9. November 2022 - 8.48

Sport ist ein Mittel der Politik.Seit dem Lauf von Marathon. Hitler hat Olympia vermarktet und dabei sogar einem "Minderrassigen" Jesse Owens zähneknirschend zugesehen. Wir waren in Peking haben aber Moskau boykottiert.Aus Solidarität zu den Amerikanern?Oder aus Überzeugung? Die Korrupten des IOC oder der FIFA drücken schon einmal ein Auge zu wenns um viel Geld geht. Da sind die Menschenrechte Nippes dagegen. Er habe in Katar nie einen Sklaven gesehen der Ketten an den Füßen getragen hätte oder angebunden war oder geschlagen wurde,meinte die Schlichtgestalt Franz Beckenbauer. Na dann. Wir werden einige Bierchen trinken und die Spiele anschauen.Zuhause bei 19 Grad,weil wir das Klima ja retten wollen ohne schlechtes Gewissen. So hofieren wir weiter Schurkenstaaten und wir schauen dem Klimawandel zu.Seit dem Lauf von Marathon.

jung.luc.lux
9. November 2022 - 7.32

Absolut einverstanden mit der Schlussfolgerung von Dan Elvinger. Doch was hat Sport mit Politik zu tun? Wer hat die olympischen Spiele nach Moskau oder nach Berlin vergeben? Man lasse doch Sport, Sport sein und Gesellschaftsprobleme, Gesellschaftsprobleme sein.