6. Dezember 2025 - 8.57 Uhr
Interview„Als wäre er nie Präsident gewesen“: RTL-Anwalt Pol Urbany erklärt die Auswirkungen des Nickts-Urteils
Tageblatt: Herr Urbany, Sie vertreten im Fall Nickts die CLT-UFA. Wie haben Sie persönlich das Kassationsurteil aufgenommen?
Pol Urbany: Als Anwalt halte ich meine eigenen Emotionen im Zaum. Ich bin da, um die Interessen meiner Mandantinnen und Mandanten zu vertreten – nicht die der Gesellschaft insgesamt und auch nicht meine privaten gesellschaftspolitischen Überzeugungen. Aber als Bürger und als Mediennutzer hat mich dieses Urteil schon etwas getroffen. Es hat ungute Auswirkungen auf unsere Zeitgeschichte. Es rüttelt an der Pressefreiheit und damit an den Fundamenten der demokratischen Gesellschaft.
Sie hatten offenbar erwartet, dass die „Cour de cassation“ das Berufungsurteil kippt. Warum?
Die „Cour d’appel“ hat sich auf das Urteil Hurbain gegen Belgien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützt. Wenn man diesen Grundsatzentscheid genau liest, sieht man aber, dass die dort festgelegten Kriterien auf den Fall Nickts gerade nicht passen. In Hurbain geht es um eine Privatperson, die unter Alkoholeinfluss einen Autounfall verursacht hat. Zwei Menschen sterben, es ist tragisch, aber ein Unfall geschieht nicht absichtlich – ein klassischer „fait divers“, wie er jeden Tag vielfach in Europa vorkommt. Straßburg hält ausdrücklich fest: in einem solchen Fall gibt es ein sehr begrenztes historisches und gesellschaftliches Interesse, keine große Mediatisierung, keine öffentliche Figur.
Zur Person
Pol Urbany, geboren 1962, praktiziert seit 1986 in Luxemburg als Anwalt. Er war zehn Jahre lang der Anwalt des Journalistenverbandes ALJ, arbeitete am Pressegesetz von 2004 mit und verteidigte im Jahr 2001 den Journalisten Marc Thoma erfolgreich vor dem EGMR in Straßburg.
Beim Herrn Nickts reden wir hingegen nicht von einem Unfall, sondern von einem der größten Betrugs- und Unterschlagungsfälle der letzten Jahrzehnte in Luxemburg. Auch die Generalstaatsanwaltschaft hat das so gesehen. Die Affäre war massiv in den Medien, vom Auffliegen des Skandals über das Strafverfahren bis hin zur Liquidation der FSFL. Das ist nicht nur ein nationaler Skandal. Das ist Teil der Sozial-, Gewerkschafts- und Justizgeschichte dieses Landes.
Was ist für Sie der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Fällen?
In Hurbain haben wir einen tragischen Unfall und eine Privatperson, die nie die Öffentlichkeit gesucht hat. Im Fall Nickts haben wir vorsätzliche Straftaten, immense finanzielle Schäden für eine große Zahl von Menschen und eine Person, die sich bewusst als Gewerkschaftspräsident und gesellschaftlicher Akteur in die Öffentlichkeit gestellt hat. Er hat sogar ein eigenes Buch geschrieben, in dem er sich als Sündenbock darstellt.
Der Gerichtshof in Straßburg schaute in Hurbain auf mehrere Kriterien: Schwere der Taten, Profil der betroffenen Person, öffentliches und historisches Interesse, Grad der Mediatisierung, Benehmen danach. Wenn ich diese Kriterien auf die Nickts-Affäre anwende, komme ich zu einem anderen Ergebnis als die Cour de cassation.
Es wird allerdings darauf verwiesen, dass die meisten Opfer inzwischen entschädigt seien und die Affäre damit gegessen ist. Spielt das keine Rolle?
Man liest oft, die Opfer seien „zu 90 Prozent entschädigt“. So weit ich sehe, bezieht sich das, wenn diese Zahl überhaupt stimmt, nur auf den reinen Kapitalbetrag. Nach dem Prinzip der „réparation intégrale“ muss aber der gesamte Schaden ersetzt werden, den jemand durch ein rechtswidriges Verhalten erleidet. Es geht also nicht nur um das Kapital, das verschwunden ist, sondern auch um die Zinsen, die über Jahrzehnte angefallen wären, wenn das Geld regulär auf der Bank geblieben oder seriös angelegt worden wäre. Und die Zinsen der 1990er-Jahre waren nicht gerade gering. Es besteht also bis heute ein nicht kompensierter Schaden. Aus juristischer wie wirtschaftlicher Sicht ist die Affäre nicht abgeschlossen. Man kann durchaus sagen: Sie bleibt eine Angelegenheit von anhaltendem öffentlichen Interesse.
Es ist, als wäre er nie Präsident gewesen, als gehörte dieses Kapitel nicht mehr zu seinem Namen. Das ist ein massiver Eingriff in das kollektive Gedächtnis.
Was genau verbieten die Luxemburger Gerichte RTL denn jetzt?
RTL darf Nickts’ Namen und sein Bild überhaupt nicht mehr im Zusammenhang mit seinen gewerkschaftlichen Aktivitäten nennen. Im Ergebnis heißt das: In der Darstellung der Geschichte dieser Gewerkschaft und in der Geschichte der FSFL darf sein Name nicht mehr auftauchen. Es ist, als wäre er nie Präsident gewesen, als gehörte dieses Kapitel nicht mehr zu seinem Namen. Das ist ein massiver Eingriff in das kollektive Gedächtnis – in die Gewerkschaftsgeschichte und in die Justizgeschichte gleichermaßen.
Die Schere im Kopf
Sie sprechen von einem „Eingriff in das kollektive Gedächtnis“. Wie weit reichen die Auswirkungen Ihrer Ansicht nach?
Das Urteil ist ein Präzedenzfall. Schon jetzt wurde angekündigt, dass andere Medien „freundliche Briefe“ bekommen könnten. Und Nickts könnte auch zur Blaupause werden, wenn Redaktionen in anderen Affären mit Namen berichten. Nehmen wir einfach mal an, in zehn Jahren möchte eine Zeitung eine Retrospektive zur Caritas-Affäre machen. Oder zur SREL-Affäre. Welche juristischen Abwägungen muss ein Journalist dann bitte machen, wenn er einfach die Wahrheit nochmal erzählen will?
Die Gefahr ist, dass Redaktionen aus Angst vor Klagen Informationen verschweigen. Sie sprechen dann nur noch vom „Fall X“ oder von „einem Gewerkschaftspräsidenten“, ohne die handelnden Personen zu benennen, obwohl diese Namen damals groß in den Schlagzeilen standen und im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Das führt zu zwei ganz konkreten Problemen: Erstens wird seriöse journalistische und historische Recherche extrem erschwert. Die Eckdaten solcher Affären sind fast immer untrennbar mit Namen verbunden. Ohne Namen fehlt der wichtigste Suchbegriff.
Zweitens entsteht ein Klima der Spekulation: Wenn man nur von „einem Gewerkschaftsboss“ spricht, aber den Namen verschweigt, kann das „dieser“ oder „jener“ gewesen sein. Die Nennung eines Namens schützt also paradoxerweise auch die Unbeteiligten, die im selben Umfeld aktiv waren, weil klar ist, wen es betrifft – und wen eben nicht. Eine seriöse Presse soll präzise sein, nicht eine Art Quizshow für die Leser.
Nehmen wir einfach mal an, in zehn Jahren möchte eine Zeitung eine Retrospektive zur Caritas-Affäre machen. Oder zur SREL-Affäre. Welche juristischen Abwägungen muss ein Journalist dann bitte machen, wenn er einfach die Wahrheit nochmal erzählen will?
Sie gehen also von einem „chilling effect“ auf die Medien aus?
Absolut. Jeder Eingriff in die „liberté d’expression und die liberté de la presse“, der für rechtmäßig erklärt wird, birgt das Risiko eines Einschüchterungseffekts. Wenn der „Wachhund“ der Demokratie immer wieder eins übergezogen bekommt, wird er irgendwann zu vorsichtig. Die „Schere im Kopf“ wird größer: Journalisten fragen sich dann bei heiklen Themen zuerst, ob eine Klage droht, bevor sie sich fragen, ob die Öffentlichkeit ein Recht auf diese Information hat. Genau das darf nicht zugelassen werden. Die Presse soll natürlich verantwortungsvoll arbeiten, aber sie darf nicht in einem Klima ständiger Angst vor Prozessen und Verboten agieren.
Das Schweigen der Politik ist ohrenbetäubend. Brauchen wir neue Gesetze, etwa zum „Recht auf Vergessenwerden“, um solche Fälle klarer zu regeln?
Ich bin da sehr skeptisch. Jedes neue Gesetz wird vom jeweils aktuellen Machthaber geschrieben. Und kein Machthaber – weder links, noch rechts, noch in der Mitte – ist begeistert von einer allzu freien und unbequemen Presse. Das gilt auch für institutionelle und wirtschaftliche Macht im Land.
Wir haben heute schon zahlreiche Instrumente, um Menschen vor missbräuchlicher Berichterstattung zu schützen: Es gibt ein „Droit de réponse“, ein „Droit de rectification“, man kann strafrechtliche und zivilrechtlich gegen Berichterstattung vorgehen. Wenn wir da immer neue Schichten von Sonderregeln draufsetzen, erreichen wir am Ende nur eines: Journalistinnen und Journalisten verlieren den Überblick und müssen vor jedem heiklen Namen erst mal durch zwanzig Gesetze blättern, statt mit gesundem Menschenverstand und den ethischen Standards zu arbeiten.
Am Ende geht es um eine einfache Frage: Wollen wir eine Presse, die klar benennt, wer, was, wann, wo und mit wem – oder wollen wir eine Presse, die sich hinter anonymisierten Andeutungen versteckt und damit ein Minenfeld der Spekulation eröffnet? Aus demokratischer Sicht kann es nur eine vernünftige Antwort geben: die erste.
Das Bild der Presse hat in den vergangenen Jahren in der Öffentlichkeit gelitten. Wenn die Presse nicht klar berichten darf, verliert sie ihre Zähne als Wachhund der Demokratie. Sie verliert das Vertrauen von Menschen und wird mit jenen gleichgesetzt, die heikle Wahrheiten lieber unter den Teppich kehren wollen.
Juristisch argumentieren Sie vor allem mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Was steht da im Zentrum?
Herr Nickts hat sich auf Artikel 8 der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), berufen, also das Recht auf Achtung des Privatlebens. Die Gerichte haben das gegen Artikel 10 der EMRK abgewogen, der die Meinungs- und Pressefreiheit schützt. Die Konvention steht in unserer Rechtsordnung über den einfachen Gesetzen, sogar über der Verfassung – außer dort, wo nationales Recht die Grundrechte noch stärker schützt.
Ich persönlich meine, dass unsere Verfassung zusammen mit dem Pressegesetz Journalistinnen und Journalisten teils weitergehende Garantien bietet als Artikel 10 EMRK. Die Cour de cassation hat das anders bewertet. Aber das steht in Straßburg nicht mehr zur Debatte. Dort wird „nur“ geprüft werden, ob die Luxemburger Richter in diesem konkreten Fall die Menschenrechtskonvention richtig interpretiert und angewendet haben. Und ich meine, dass dies nicht geschehen ist.
EMRK Art. 8 Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Können Sie das Laien noch einmal erklären?
Im Prinzip sind alle Menschenrechte gleich: Prinzipiell ist der Schutz des Privatlebens genauso schützenswert wie der Schutz der Ausdrucks- und Pressefreiheit. Geraten beide Rechte aber in Konflikt, wie es hier von Jos Nickts dargestellt wurde, muss das Gericht entscheiden, welches Recht vorgehen muss.
Die Luxemburger Gerichte sind zum Ergebnis gekommen, dass sein Recht auf Privatsphäre schwerer wiegt als die Pressefreiheit von RTL. Diese Abwägung im konkreten Fall Jos Nickts halten wir für falsch und klagen deshalb vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg.
EMRK Art. 10 Freiheit der Meinungsäußerung
(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.
Was erwarten Sie sich konkret vom Gang nach Straßburg?
Ich wünsche mir zwei Klarstellungen. Erstens: In Fällen mit echter gesellschaftlicher und historischer Relevanz – und bei öffentlichen Personen – dürfen Pressefreiheit und Informationsrecht der Öffentlichkeit nicht so weit eingeschränkt werden, dass der Name komplett aus dem Diskurs gelöscht wird. Und zwar nicht nur im aktuellen Nachrichtenteil, sondern auch in historischen Rückblicken, Analysen oder Dokumentationen.
Zweitens: Ein derart weitreichendes Verbot, das sowohl das Strafverfahren als auch eine gesamte politische und gewerkschaftliche Karriere umfasst, ist gravierend unverhältnismäßig.
De Maart

Danke Herr Urbany. Besser kann man nicht erklären wie weitreichend dieser Fall eigentlich ist. Wenn man vorsätzlich eine Straftat begeht, muss man sich der Konsequenzen bewusst sein, wenn man erwischt wird. Hat das Herrn Nickts davon abgehalten eine Straftat zu begehen? Nein. Im Gegenteil. Er macht sogar, mit seinem Buch und vielleicht noch bis heute, noch weiterhin Geld damit! Aber vielleicht ging es ihm ja auch gerade darum und vielleicht liegt das nächste Buch schon in der Schublade...
Ich bin überzeugt, dass Strassburg jedoch die Pressefreiheit schützen wird in seinem Richterspruch und die Luxemburger Justiz sich so eben schon wieder einmal blamieren wird...denn es wäre nicht das erste Mal, dass Strasburg die nationale Justiz zurückpfeiffen würde.....und die nationale Justiz sollte daraus die Lehre ziehen gegebenenfalls Interpretation beim Gerichtsho in Strasburg anfordern, bevor sie einfach verdonneren tut...
"Am Ende geht es um eine einfache Frage:
Wollen wir eine Presse, die klar benennt, wer, was, wann, wo und mit wem – oder wollen wir eine Presse, die sich hinter anonymisierten Andeutungen versteckt und damit ein Minenfeld der Spekulation eröffnet? Aus demokratischer Sicht kann es nur eine vernünftige Antwort geben:
die erste."
ganz kloër Alles wat am Artikel vum P.U. steet houët Kapp a Schwanz..
an ëch gin dovun aus, dat dobäi ee positivt Resultat raus könnt..
wann dat nët dë Fall wär, da misste mër äis awer mol déi bedeitend Frô stellen:
"a wou së mër geland"