Die Worte klangen versöhnlich: „Wir müssen die Herzen öffnen, um eine Einheit zu bilden“, sagte Rodrigo Paz Pereira, der Überraschungssieger des ersten Wahlgangs bei der bolivianischen Präsidentschaftswahl. Aus seiner politischen Herkunft machte der Christdemokrat und Sohn des früheren Präsidenten Jaime Paz Zamora (1989-1993), welcher in den 70er Jahren ursprünglich aus der linkskatholischen, marxistischen Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) stammte, keinen Hehl: „Wenn Gott uns bittet, uns um Bolivien zu kümmern, dann müssen wir verdammt nochmal auf ihn hören.“

Fast ein Drittel der Wähler, gut 32 Prozent, stimmte für den Senator des Partido Demócrata Cristiano (PDC), der von 2010 bis 2015 Präsident des Stadtrats der südbolivianischen Stadt Tarija und von 2015 bis 2020 deren Bürgermeister war. Ex-Präsident Jorge „Tuto“ Quiroga Ramírez (2001-2002), – einst Vizepräsident unter Hugo Banzer, der von 1971 bis 1978 Militärdiktator und von 1997 bis 2001 Präsident war – von der rechtsgerichteten Allianz Libertad y Democracia blieb mit etwa 27 Prozent knapp hinter Paz. Tuto Ramírez war übrigens auch in der Regierung von Jaime Paz Zamora tätig.
Laut Umfragen Top-Favorit war der Bauunternehmer und Multimillionär Samuel Doria Medina. Der 66-Jährige von der Alianza Unidad, der mit Zement reich wurde und dem nicht nur die höchsten Häuser des Landes, sondern auch die Franchises von Burger King und Subway gehören, hatte mit markigen Sprüchen, etwa das Land in hundert Tagen umzukrempeln, Wahlkampf gemacht. Doch er landete mit rund 19 Prozent nur auf dem dritten Platz. Doria Medina kündigte an, Paz zu unterstützen. Und dieser sagte, er wolle sowohl die Wirtschaft stärken als auch die Justiz reformieren und die Korruption bekämpfen.
Wahlkampf mit TikTok
Zudem versprach Paz den Wählern die Senkung von Steuern und Zöllen. Den Wahlkampf führte er praktisch komplett auf TikTok und per Mund-zu-Mund-Propaganda sowie mit markigen Sprüchen wie „Kapitalismus für alle“ und „Geld für alle“. Nicht zuletzt nutzte ihm die Unterstützung seines Vizekandidaten Edman Lara, eines ehemaligen Polizisten. „Capitán Lara“ war aus dem Polizeidienst entlassen und inhaftiert worden, weil er seine Vorgesetzten wegen Korruption angezeigt hatte.
Einen regelrechten Absturz erlebte der Movimiento al Socialismo (MAS). Die ehemalige Regierungspartei, die mehr als anderthalb Jahrzehnte den Präsidenten stellte, kam mit ihrem Kandidaten Eduardo del Castillo nur noch auf gut drei Prozent. Wäre er unter drei Prozent gekommen, hätte seine Partei ihren Namen verloren. Sie ist gespalten in die Unterstützer des amtierenden, aber unbeliebten Präsidenten Luis Arce, der im Mai verkündete, nicht wieder anzutreten, und die Anhänger von Ex-Präsident Evo Morales, die miteinander verfeindet sind.

Auf der Linken schnitt Andrónico Rodríguez am besten ab. Er galt als naheliegender MAS-Kandidat. Der 36-Jährige war einst Morales’ Wunschnachfolger und stammte wie dieser von der Kokabauern-Gewerkschaft der Provinz Chapare. Doch als er seine Kandidatur bekanntgab, bezeichnete ihn Morales als Verräter. Rodríguez trat für das Wahlbündnis Alianza Popular an. Er kam auf gut acht Prozent und somit auf den vierten Platz.
Morales war es derweil gerichtlich verboten worden, an der Wahl teilzunehmen. Mit einer Kampagne bewog er seine Anhänger zum „Voto nulo“, also ungültig zu wählen – knapp acht Millionen Bolivianer waren wahlberechtigt. Etwa 20 Prozent der Wähler folgten ihm, zwei ließen den Wahlzettel ganz leer. Da keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt oder 40 Prozent mit mindestens zehn Prozent Abstand zum Zweitplatzierten, müssen Paz und Quiroga am 19. Oktober gegeneinander ins Stechen.
Nach dem Boom die Krise
Haben die Bolivianer nach 20 Jahren genug von der Linken? Jedenfalls steckt das Land in der tiefsten Wirtschaftskrise seit 40 Jahren. Die Inflation ist mit rund 25 Prozent eine der höchsten in Lateinamerika. Benzin und insbesondere Diesel sind knapp. In La Paz fährt zurzeit nur noch jeder fünfte Bus, in der Tieflandmetropole Santa Cruz nur noch 40 Prozent der Krankenwagen. Der Staat hat kaum noch US-Dollars, der Schwarzmarkt blüht. Als Morales 2006 ins Amt kam, lebte das Land noch von den Einnahmen aus Gasverkäufen, mit denen die Regierung Lebensmittel und Treibstoff subventionierte, Sozial- und Bildungsprogramme finanzierte – ähnlich wie die anderen linken Regierungen der Region zu jener Zeit auf den Export von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten setzte. Die Wirtschaft boomte, die Löhne stiegen, die Armut wurde halbiert, die Lebenserwartung nahm zu. Morales regierte als erster indigener Präsident des Landes bis 2019, war lange Zeit beliebt und einer der linken Hoffnungsträger Lateinamerikas.
Auf den Hauswänden von El Alto im Westen von La Paz, einst durch den Zuzug armer, vor allem indigener Bauern und Minenarbeiter in der Höhe von rund 4.000 Metern entstanden, wurde Morales in zahlreichen Graffiti gepriesen: etwa „Evo hat uns Würde gegeben“ und „Dank Evo kann ich schreiben“, als sei der Indigenenführer Tupaq Katari, der im 18. Jahrhundert für die Rechte der Urbevölkerung kämpfte und von den spanischen Kolonialherren gevierteilt wurde, zurück. Dieser soll vor seinem Tod ausgerufen haben: „Ich werde zurückkehren, und wir werden Millionen sein.“

Morales griff diesen Ausspruch auf. Die ersten Jahre in bitterer Armut in einer Lehmhütte im Hochland gelebt, hütete er Lamas und spielte Trompete in einer Dorfkapelle. Seine Familie entfloh der Not ins tropische Tiefland von Capare, wo Koka wächst und wo Morales Anführer der Kokabauern wurde. Von der Drug Enforcement Agency (DEA) verhaftet und des Landes verwiesen, engagierte er sich nach seiner Rückkehr aus dem argentinischen Exil umso mehr politisch. Im Parlament wurde der Indigene von den Vertretern der Oberschicht geschnitten.
Als Morales 2005 die Wahlen gewann, bekam das „Herz Südamerikas“, wie Ernesto „Che“ Guevara Bolivien nannte, zum ersten Mal einen indigenen Präsidenten. Morales sicherte dem Staat die Eigentumsrechte an den Öl- und Gasquellen, insgesamt behielt der Staat 82 Prozent der Einnahmen aus dem Verkauf der Bodenschätze. Zu jener Zeit hatte er Unterstützer in den Nachbarländern – unter anderem Hugo Chávez in Venezuela, Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien und Néstor Kirchner in Argentinien. Ein Freund aus Havanna, der legendäre kubanische Revolutionsführer Fidel Castro, riet ihm: „Mach es nicht wie ich, Evo, mach es demokratisch.“ Zu Staatsempfängen und -besuchen reiste der Präsident, statt in Schlips und Anzug, in seiner „chompa“, dem berühmten Streifenpullover.
Ich werde zurückkehren, und wir werden Millionen sein
Morales nahm sich die Verfassung vor, ließ in die Präambel indigene Elemente miteinfließen. Beamte mussten Aymara, Quechua, Guaraní oder andere indigene Sprachen lernen. Morales brach mit der kolonialen Klassengesellschaft. Sein Evismo prägte auch die MAS. Der deutsche Journalist und Lateinamerika-Korrespondent Sebastian Schoepp schrieb, in Anspielung auf den berühmten Roman von Gabriel García Márquez, von einem „Ende der Einsamkeit“. Morales ließ jedoch auch die Verfassung ändern, damit er wieder gewählt werden konnte. 2019 trat er nach Protesten zurück. Seine Anhänger blockierten gegen Nachfolger Arce die Straßen. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen gab es Tote.

Morales behauptete, Arce hätte einen Putsch und ihn zu ermorden versucht. Dagegen wurde gegen ihn mit einem Haftbefehl gesucht, weil ihm die Staatsanwaltschaft sogar den Missbrauch von Minderjährigen vorwarf. Die MAS, durch die Feindschaft der beiden Rivalen gespalten und zeitweise mit einer Zweidrittelmehrheit herrschend, hat in der Tat das Land heruntergewirtschaftet. Bolivien musste auf seine Rücklagen zurückgreifen. Zum endgültigen Bruch zwischen „Arcistas“ und „Evistas“ kam es Anfang des Jahres, als Morales aus der MAS austrat.
Die beiden Kontrahenten der Stichwahl, Rodrigo Paz Pereira und Jorge „Tuto“ Quiroga Ramírez, sind sich programmatisch sehr ähnlich. Beide stehen für eine klassische neoliberale Wirtschaftspolitik, wollen den heimischen Markt für ausländische Investoren öffnen und Staatsausgaben einsparen – und sie wollen sich Europa und China statt Kuba und Venezuela zuwenden. Doch beide haben auch eine Schwäche für Monokulturen und verändertes Saatgut. Für beide ist es der vierte Anlauf. Egal, wer von beiden am 19. Oktober gewinnt.
Evo Morales will sich nicht geschlagen geben. Doch die Ära seiner „Bewegung zum Sozialismus“, geprägt von Korruption und Misswirtschaft, scheint zu Ende zu sein. Während er sich im Dschungel von Chapare versteckt hält, droht er, seine Anhänger auf die Straße zu schicken. Laut Nachrichtenagentur sagte er: „Ich werde das bolivianische Volk nicht im Stich lassen.“ Doch sein Erbe verblasst. Allmählich ist es einsamer geworden um den früheren Hoffnungsträger. Der Süden Amerikas, am Scheideweg stehend, droht in eine neue Zeit zu gehen, die jeden, der diese Region liebt, mit Sorge erfüllt.

De Maart

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