Donnerstag30. Oktober 2025

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AnalyseBundestagswahl: Mitte rückt nach rechts

Analyse / Bundestagswahl: Mitte rückt nach rechts
„Wir sind jetzt die politische Mitte“? Die AfD-Parteichefs Tino Chrupalla und Alice Weidel am Montag nach der Wahl in der Bundespressekonferenz. Doch mit der in Teilen rechtsextremen Partei will niemand eine Koalition bilden. Foto: Tobias Schwarz / AFP

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Die CDU/CSU hat die deutsche Bundestagswahl gewonnen, doch die in Teilen rechtsextreme AfD wird zweitstärkste Partei. Derweil wurden die Parteien der einstigen Ampelkoalition abgestraft. Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse.

Es hat schon einige schwarze Stunden in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie gegeben. Die jüngste schlug am Sonntagabend. Die SPD unter Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei der Bundestagswahl mit 16,4 Prozent der Zweitstimmen ihr historisch schlechtestes Wahlresultat auf Bundesebene eingefahren – bei der letzten Wahl im Oktober 2021 war sie noch stärkste Partei. Ein desaströses Ergebnis. Dagegen ist die CDU/CSU Wahlsieger, obwohl sie, nach dem Debakel von 2021, mit 28,5 Prozent ihr zweitschlechtestes Ergebnis erreichte (nach 25,1% im Jahr 2021) – ihr Ziel war es, über 30 Prozent zu kommen. Während die SPD 9,3 Prozentpunkte einbüßte, steigerte sich die Union um 4,4 Prozent. Damit wird sie mit ihrem Spitzenkandidaten Friedrich Merz künftig den Kanzler stellen. Als Koalitionspartner bleibt ihr genau eine Option: die SPD.

Nach dem Urnengang vom Sonntag ist viel die Rede davon, dass die politische Mitte insgesamt verloren hat und geschrumpft ist. Zählt man neben der CDU/CSU und der SPD noch die Resultate der Grünen und die FDP dazu, sind es knapp über 60 Prozent. Deutschland ist extremer, die Ränder des politischen Spektrums sind stärker geworden. Größter Gewinner ist sicherlich die AfD mit einem Zuwachs von 10,4 Prozentpunkten auf nunmehr 20,8. Damit ist sie die zweitstärkste Partei. Die Umfragen lagen also in etwa richtig. Der Linken, die vor nicht allzu langer Zeit bereits als abgeschrieben galt, gelang eine Art Wiederauferstehung. Sie kam mit einem furiosen Schlussspurt im Wahlkampf auf knapp 8,8 Prozent, 3,9 Prozentpunkte mehr als 2021. Nicht in den Bundestag schaffte es hingegen das vor 13 Monaten gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das mit 4,97 Prozent hauchdünn unter der Fünfprozenthürde lag.

Insgesamt ist festzustellen, dass vor den Wahlen eine ausgeprägte Wechselstimmung herrschte und alle drei Parteien der Ampelkoalition abgestraft wurden, neben den Sozialdemokraten vor allem die FDP (minus 7,1%), die mit 4,3 Prozent zum zweiten Mal die Fünfprozenthürde nicht schaffte und aus dem Parlament geflogen ist. Bündnis 90/Die Grünen kamen verhältnismäßig glimpflich davon. Sie erreichten mit 11,6 Prozent ihr bisher zweitbestes Ergebnis (minus 3,1%). Damit sind fünf Parteien im neuen Bundestag, unter denen die Unionsfraktion die 208 der insgesamt 630 Sitze belegt. Befürchtet worden war eine stärkere Zersplitterung des parlamentarischen Parteienspektrums. Der Bundestag ist im Übrigen deutlich kleiner (106 Sitze weniger als 2021), was auf die jüngste Wahlrechtsreform der sogenannten Zweitstimmendeckung zurückzuführen ist, mit der die sogenannten Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft wurden, die vorher einer Partei zustanden, wenn sie mehr Erststimmen (Direktmandate) holte, als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustanden. Nun gingen 23 Wahlkreiskandidaten (von insgesamt 299 Wahlkreisen) mit den meisten Erststimmen leer aus: 15 Kandidaten von der CDU, vier von der AfD, drei von der CSU und eine Kandidatin der SPD. Diese Besonderheit trat am häufigsten (sechsmal) in Baden-Württemberg auf. Sehr hoch lag die Wahlbeteiligung mit 82,5 Prozent (bei gut 59 Millionen Wahlberechtigten), zuletzt war sie 1987 höher (84,3%).

Der blaue Osten

Besonders markante Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland gibt es vor allem im Ergebnis der AfD: Während diese im Westen 17,9 Prozent der Wählerstimmen holte, erreichte sie im Osten mit 34,5 Prozent fast den doppelten Anteil und wurde dort in den meisten Wahlkreisen stärkste Partei – aber auch im Westen in Kaiserslautern und Gelsenkirchen. Signifikant sind auch die 9,9 Prozent des BSW im Osten (3,9 im Westen) und das Abschneiden der Linken mit 12,9 Prozent im Osten und 7,9 im Westen. Demnach verzeichnen die sogenannten Parteien der Mitte in Ostdeutschland zusammen nur 39 Prozent.

Überhaupt ist die Bezeichnung „politische Mitte“ fragwürdig. Der 2022 verstorbene Politologe und Parteienforscher Kurt Lenk sprach gar von einem „Mythos der Mitte“, der inhaltslos sei und vor allem als Projektionsfläche diene. Auf der Landkarte der Politik sei die Mitte eine „terra incognita“, ein nahezu gänzlich weißer Fleck. Sogar die AfD beansprucht sie: Co-Parteichef Tino Chrupalla sagte nach dem Wahlsieg am Sonntag: „Wir sind jetzt die politische Mitte.“ Und die Mitparteichefin und Spitzenkandidatin Alice Weidel bezeichnete die AfD bereits als Volkspartei. Immerhin verdoppelten die Rechten ihr Ergebnis auf 20,8 Prozent. Aber zur Volkspartei ist es (außer im Osten) noch ein ganzes Stück. Nur 21 Prozent der Wähler sind laut Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen für eine Koalition der CDU/CSU mit der AfD. Die meisten davon sind AfD-Wähler. Noch steht die oft beschworene Brandmauer.

Dagegen finden mehr als 37 Prozent eine schwarz-rote Koalition gut, 48 Prozent halten sie für schlecht. Nur bleibt keine andere Möglichkeit, als dass CDU/CSU und SPD eine Regierung bilden: wie schon so oft auf Landes- und bisher viermal auf Bundesebene (1966-1969 unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger sowie von 2005 bis 2009, 2013 bis 2017 und 2018 bis 2021 unter Kanzlerin Angela Merkel).

Der künftige Bundeskanzler Friedrich Merz ließ zwar zuletzt keine Gelegenheit aus, sich von der AfD zu distanzieren und ein Bündnis mit ihr auszuschließen. Was die Themen des Wahlkampfs anging, ließ er sich von den Rechten jedoch deren Hauptthema Zuwanderung und Asyl regelrecht aufzwingen, vor allem nach den jüngsten islamistisch motivierten Anschlägen u.a. in Aschaffenburg. Nach Umfragen lag das Thema Migration mit 44 Prozent vorn, gefolgt von der Wirtschaftslage (36%) und weit vor den Themen Klima, Umwelt und Energie (17%), die im Wahlkampf kaum eine Rolle spielten. Als wichtigstes Thema für die eigene Wahlentscheidung wurden übrigens Frieden und Sicherheit genannt.

Wandernde Wähler

Zurück zu den Parteien der „politischen Mitte“: Sie waren besonders schwach unter den jungen Wählern von 18 bis 24 Jahren. Hier dominierten die Linke (26%) und die AfD (21%). Markant ist zudem das schwächere Abschneiden der AfD bei den Frauen (17%) und das deutlich bessere der Linken bei weiblichen Wählern (elf Prozent). Bei den anderen Parteien weicht der weibliche Wähleranteil weniger stark vom Gesamtergebnis ab. Schwach schneidet die SPD bei Wählern unter 30 Jahren ab (11%). Und als klassische Arbeiterpartei gelten die Sozialdemokraten, deren Vorläufer der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die 1869 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei waren, längst nicht mehr. Unter den Beamten schneidet die SPD heute besser ab. Bei den Arbeitern hat ihr die AfD den Rang abgelaufen.

Aufschlussreich sind die Wählerwanderungen, die zwischen den einzelnen Parteien stattgefunden haben (laut Meinungsforschungsinstitut infratest dimap): Während es vor allem enttäuschte Ampel-Wähler waren, die der CDU/CSU ihren deutlichen Sieg bescherten (1,76 Millionen frühere SPD-Wähler, 1,35 Millionen Liberale, 900.000 bisherige Nichtwähler sowie 460.000 von den Grünen), mobilisierte die AfD vor allem viele frühere Nichtwähler. Etwa 1,8 Millionen der AfD-Wähler waren 2021 nicht wählen gegangen. Damit profitierte die teils rechtsextreme Partei am meisten von der hohen Wahlbeteiligung und sorgte für die größte Bewegung im Elektorat. Deutlich weniger Wähler zog sie von der CDU, FDP (890.000) und SPD (720.000) an.

Mehr Wähler als die AfD gewann nur die Union hinzu (4,5 Millionen). Doch trotz des heftigen Anti-Migrations-Wahlkampfs verlor sie rund eine Million Wähler an die AfD, gewann aber fast keine von dieser hinzu. Insgesamt verlor die SPD am meisten Wähler (3,58 Mio.), prozentual die FDP (vor allem an die Union, 800.000 an die AfD). Zwar mobilisierte das BSW sowohl Nichtwähler (400.000) als auch enttäuschte Sozialdemokraten (440.000), weniger jedoch von der Linken (350.000). Letztere profitierte vor allem von Wechselwählern aus dem linken Teil des politischen Spektrums, vor allem von den Grünen (700.000) und der SPD (560.000). Derweil verzeichnen Grüne und Union die stabilsten Kernwählerschaften. Die Grünen blieben vor allem in westdeutschen Städten wie etwa Köln, Münster, Freiburg, Heidelberg, München und Stuttgart stark, die SPD vor allem im Nordwesten.

Der Spielraum zur Regierungsbildung ist denkbar klein. Wahlsieger CDU/CSU mit dem künftigen Kanzler Merz und Wahlverlierer müssen zusammenarbeiten – um das Gleichgewicht der Mitte und der deutschen Demokratie zu erhalten. Ihr stärkstes Zweitstimmenergebnis holte die CDU zwar im Wahlkreis ihres Spitzenkandidaten, im Hochsauerlandkreis, in Bayern räumte die Schwesterpartei CSU jedoch in vielen Wahlkreisen mit mehr als 40 Prozent ab. Merz dankte CSU-Chef Markus Söder für die „gute Zusammenarbeit“. Allgemein ist die politische Mitte weiter nach rechts gerückt.

Wahlsieger Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender und wohl künftiger Bundeskanzler, erhält zu Beginn der Sitzung des CDU-Vorstands einen Blumenstrauß. Rechts steht klatschend Carsten Linnemann, Generalsekretär der CDU.
Wahlsieger Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender und wohl künftiger Bundeskanzler, erhält zu Beginn der Sitzung des CDU-Vorstands einen Blumenstrauß. Rechts steht klatschend Carsten Linnemann, Generalsekretär der CDU. Foto: Michael Kappeler/dpa

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