Mittwoch5. November 2025

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Krieg und FriedenDas Dilemma eines bekennenden Pazifisten – eine persönliche Betrachtung

Krieg und Frieden / Das Dilemma eines bekennenden Pazifisten – eine persönliche Betrachtung
Ein zerstörter russischer Panzer liegt am Straßenrand bei der Gegenoffensive der ukrainischen Armee  Foto: Uncredited/AP/dpa

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Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der sich am 8. Mai 2025 zum 80. Mal jährt, und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine liegen Jahrzehnte des Kalten Krieges und seiner Stellvertreterkriege, aber auch Jahre der Entspannungspolitik und das Ende des Ost-West-Konflikts. Eine persönliche Betrachtung aus pazifistischer Sicht.

Es war zu schön, um wahr zu sein. Das Wetter lieferte eine spätsommerliche Kulisse. Nach vier Jahren Besatzungszeit befreiten US-amerikanische Soldaten Luxemburg von der Nazi-Herrschaft. Die fünfte Panzerdivision der zwölften Armee überquerte am 9. September 1944 die Grenze bei Petingen. Am Tag darauf war die Hauptstadt befreit. Doch die Freude dauerte nur kurz. Die Angriffswucht der Westalliierten verharrte zeitweilig. Die deutsche Wehrmacht holte zum Gegenschlag aus und startete am 16. Dezember 1944 das Unternehmen „Wacht am Rhein“, die später nach Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt benannte Offensive in den Ardennen, im angloamerikanischen Sprachgebrauch „Battle of the Bulge“.

US-Infanterie in der Ardennenschlacht. Vor 80 Jahren wehrten die Amerikaner die letzte große Offensive der deutschen Wehrmacht ab. 
US-Infanterie in der Ardennenschlacht. Vor 80 Jahren wehrten die Amerikaner die letzte große Offensive der deutschen Wehrmacht ab.  Foto: US Army

Adolf Hitler wollte damit den strategisch wichtigen Hafen von Antwerpen zurückerobern und den Treibstoffnachschub der Alliierten unterbinden. Zunächst schien der Plan aufzugehen. Mit ihren letzten Reserven an Kriegsmaterial griffen drei deutsche Armeen die Amerikaner an. Diese waren überrascht, konnten aber die verlorenen Gebiete wieder unter ihre Kontrolle bringen. Zudem spielte für die Wehrmacht das Wetter nicht mehr mit: Es schneite unentwegt und war bitterkalt. Während auf deutscher Seite die Reserven zur Neige gingen, gelang es den Alliierten, Verluste an Soldaten und Material wettzumachen. Der für die USA größten und verlustreichsten Landschlacht des Zweiten Weltkriegs fielen Zigtausende Soldaten zum Opfer, dazu 3.000 Zivilisten. Die Ardennenoffensive endete nach etwa sechs Wochen mit dem Sieg der Alliierten, der Krieg in Europa am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen (nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki kapitulierte Japan am 2. September 1945).

Mit dem blauen Koffer in den Bunker

Ich hatte immer mein blaues Köfferchen gepackt. Wenn es wieder so weit war und die Sirenen des Luftalarms alles übertönten, machten wir uns auf den Weg.

Die Mutter des Autors

Der Autor dieser Zeilen kam knapp 22 Jahre später zu Welt. Er wuchs in Südwestdeutschland auf. Der Krieg hat ihn indirekt geprägt – durch die Erzählungen seiner Eltern und Großeltern:

Vor allem von meiner Großmutter und dann von meiner Mutter habe ich viel über den Krieg erfahren – etwa wie die Frauen ihr Überleben und das ihrer Familien organisieren mussten, während ihre Männer als Soldaten an der Front waren. Sie erzählten mir vom Alltag, zu dem auch in der zweiten Hälfte des Krieges die ständige Angst vor den Luftangriffen der Alliierten und das Ausharren in den Bunkern und Luftschutzkellern gehörten. „Ich hatte immer mein blaues Köfferchen gepackt“, erzählte meine Mutter. „Wenn es wieder so weit war und die Sirenen des Luftalarms alles übertönten, machten wir uns auf den Weg.“ Manchmal dauerte es nur eine Stunde, bis die Frauen, Kinder und Alten wieder nach Hause zurückkehrten.

Deutsche Soldaten während der Ardennenoffensive
Deutsche Soldaten während der Ardennenoffensive Foto: Bundesarchiv

Während mir meine Mutter, vor allem nachdem meine Großmutter gestorben war, häufig ihre Erinnerungen aus den ersten Jahren ihrer Kindheit im Krieg und in der Nachkriegszeit schilderte, schwiegen viele andere der zwischen 1930 und 1945 geborenen „Kriegskinder“ über die belastenden Erfahrungen, die sie gemacht hatten: die Bombenangriffe, die Armut und mangelnde Versorgung, die Abwesenheit der Väter, den Verlust von Angehörigen oder die Flucht. Etwa jedes vierte Kind in Deutschland wuchs in jener Zeit ohne Vater auf. Noch bis 1948 waren Hunderttausende deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Ein großer Teil von ihnen kehrte bis 1949 heim, die letzten kehrten erst 1956 aus der Sowjetunion zurück.

Mein Großvater kam aus der französischen Gefangenschaft. Zusammen mit einem Kameraden hatte er auf einem Bauernhof arbeiten müssen. Weil er Familienvater mit zwei Kindern war, durfte er früher nach Hause – als Beifahrer auf einem Motorrad quer durch Frankreich bis nach Baden. „Meine Mutter, ihre Schwestern, mein Bruder, meine Kusinen und ich ernteten gerade auf dem Feld Kartoffeln, als wir erfuhren, dass er zurück war“, erzählte meine Mutter. „Wir Kinder rannten ihm entgegen und umarmten ihn. Er war völlig zerlumpt.“ Es war ein Happy End im Gegensatz zu vielen anderen Geschichten, die den Schrecken des Krieges vermittelten.

Erst später berichtete mir meine Mutter von dem Grauen der Nazi-Diktatur: etwa von der Judenverfolgung, von der nur die wenigsten etwas gewusst zu haben vorgaben; davon, wie die Synagoge der einst relativ großen jüdischen Gemeinde nach der Kristallnacht aus dem Ortsbild getilgt wurde; von der Hinrichtung eines polnischen Zwangsarbeiters, den SS-Leute im Wald erschossen, weil er sich mit einer jungen Frau aus dem Dorf eingelassen hatte. Und von der Bombardierung und fast völligen Zerstörung des gut zehn Kilometer entfernten Pforzheim: „Warum leuchtet der Himmel so hell?“, fragte sie meine Großmutter. Es waren die Phosphorbomben, die die britischen Bomber am 23. Februar 1945 über die nordbadische Industriestadt abwarfen.

Die Kriegskinder und ihre Kinder

Nicht nur die aus dem Krieg heimgekehrten Väter waren physisch und psychisch versehrt. Auch den Kriegskindern war viel abverlangt worden, vor allem der Verzicht auf ihre Kindheit. Sie mussten funktionieren sowie diszipliniert, leistungsbezogen und tatkräftig sein. Es waren Eigenschaften, die zum deutschen Wirtschaftswunder der 50er-Jahre passten. Für ihre Traurigkeit gab es hingegen kein Verständnis. „Die vergessene Generation“ heißt ein Buch der Autorin Sabine Bode aus dem Jahr 2004 über die Kriegs- und Flüchtlingskinder, die lange schwiegen und erst Jahrzehnte später ihr Schweigen brachen.

Einige von ihnen berichteten später im Rentenalter von den traumatischen Ereignissen, mit denen sie einst konfrontiert worden waren und die zu Depressionen oder anderen posttraumatischen Belastungsstörungen geführt hatten. Ein Forschungsprojekt der Ludwig-Maximilians-Universität München über die „Europäische Kriegskindheit im Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen“ wurde 2003 vom Psychotherapeuten Michael Ermann ins Leben gerufen. Es stellte sich heraus, dass jedes zehnte Kind schwere psychische Folgen davongetragen hatte. Ihre Traumata gaben einige Kriegskinder an ihre Kinder weiter, an die „Kriegsenkel“. Die Journalistin Anne-Ev Ustorf spricht in ihrem Buch „Wir Kinder der Kriegskinder“ (2008) von einer „transgenerationalen Weitergabe“.

Schlachtfeld Ösling. Getötete Soldaten bei der Schlacht in den Ardennen.
Schlachtfeld Ösling. Getötete Soldaten bei der Schlacht in den Ardennen. xxx

Für mich hatte dies zu einer intensiven Beschäftigung mit Themen wie Gewalt und Krieg geführt. Als Jugendlicher interessierte ich mich für Bücher von Autoren wie Norman Mailer, Herman Wouk und Erich Maria Remarque, die sich mit dem Krieg befassten, und sah Antikriegsfilme wie „Apokalypse Now“ (1979), „The Deer Hunter“ (1978), „Platoon“ (1986) und „Full Metal Jacket“ (1987). Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Amerikaner im Vietnamkrieg ist nicht zuletzt der investigativen Recherche von Journalisten zu verdanken. Dabei sei unter anderem Seymour Hersh zu nennen, der das Massaker von My Lai an die Öffentlichkeit brachte, bei dem 504 Zivilisten ermordet worden waren, aber auch der deutsche Historiker Bernd Greiner, der in seinem Buch „Krieg ohne Fronten“ (2007) die exzessive Radikalisierung kriegerischer Gewalt analysierte.

Die Kriegsverbrechen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg stehen jedoch in keinem Verhältnis zu den Verbrechen, die von Nazideutschland begangen wurden. Zuvorderst sei die Shoah genannt: Etwa sechs Millionen Juden fielen dem Rassenwahn des NS-Regimes zum Opfer. Hinzu kamen andere Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Gegner, Obdachlose, kranke Menschen und Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen.

Niemand wollte es gewusst haben, niemand wollte etwas getan haben. Der große Niemand war der Übeltäter.

Die Großmutter des Autors über die Thematisierung des Holocausts

Es hatte Jahrzehnte gedauert, bis es im Land der Täter zu einer breiten Diskussion über die nationalsozialistische Vergangenheit und den Genozid an den Juden kam. Erst die Ausstrahlung der vierteiligen US-Fernsehserie „Holocaust“ von Marvin J. Chomsky im Januar 1979 bewirkte dies. Bis dahin hatte zumeist der Mantel des Schweigens alles erstickt. Wie es meine Großmutter, eine überzeugte Sozialdemokratin, formulierte: „Niemand wollte es gewusst haben, niemand wollte etwas getan haben. Der große Niemand war der Übeltäter.“ Sie erzählte, wie ihr Nachbar, einst lokaler Anführer der Hitlerjugend, nach dem Krieg den fleißigen, rechtschaffenen Bürger spielte – wie es die westdeutsche Gesellschaft der Adenauer-Ära verlangte.

Derweil blieben Sexualverbrechen durch Soldaten der Wehrmacht bis Ende der 90erJahre weitgehend unerforscht. Sexuelle Gewalt gegen Zivilisten wurde weder verfolgt noch dokumentiert. Im Zuge des Eroberungs- und Vernichtungskrieges waren in den besetzten Ländern vor allem Frauen und Mädchen betroffen, die von den Nazis verfolgt und in Arbeits- und Konzentrationslager gesperrt wurden, Jüdinnen ebenso wie Romnja und Sintizze sowie Angehörige des Widerstands.

Massenhaft vergewaltigten auch die Rotarmisten der Sowjetunion bei ihrem Vormarsch deutsche Frauen. Die Historikerin Miriam Gebhardt thematisiert in ihrem Buch „Als die Soldaten kamen: Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges“ (2015) vor allem die Vergewaltigungen durch westliche Alliierte. Gebhardt geht von etwa 190.000 Vergewaltigungen durch US-Soldaten aus, 50.000 durch französische Soldaten.

Dem US-Historiker Norman Naimark zufolge waren die französisch-marokkanischen Truppen während der Besetzung Badens und Württembergs ähnlich disziplinlos wie die Rotarmisten in der sowjetischen Besatzungszone. So auch in meinem Heimatdorf, wo ein Großteil der Einwohnerinnen Opfer von Vergewaltigungen wurde. Die Frauen meiner Familie hatte Glück. Eine Gruppe marodierender Soldaten hatte gerade das Haus betreten, als französische Offiziere auftauchten, um dort ihren Befehlsstand zu errichten. Fortan stand das Haus unter ihrem persönlichen Schutz. 

Entstehung der Friedensbewegung

Zwar war die Haltung der Deutschen in den Nachkriegsjahren zuerst von „Nie wieder Krieg“ geprägt und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen im Grundgesetz verankert. Nichtsdestotrotz wurde 1956 die Wehrpflicht in Westdeutschland eingeführt. Schließlich ging es dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer um die Westintegration der Bundesrepublik in die NATO. Vor allem im Zusammenhang mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg nahm ab 1968 die Anzahl der Wehrdienstverweigerer um ein Vielfaches zu. Eine breite Friedensbewegung gewann aufgrund des Wettrüstens zwischen den Supermächten im Allgemeinen und des NATO-Doppelbeschlusses im Besonderen ab Ende der 70er-Jahre an Zulauf.

Für eine Teilnahme an den großen Friedensdemonstrationen in Bonn, Berlin und Hamburg, die Ostermärsche, Menschenketten und Sitzblockaden Anfang der 80er war ich noch zu jung. Meine Kriegsdienstverweigerung 1986 hatte ich leichtfertig versäumt. Ich rechtfertigte mich damit, dass mein 15 Monate langer Wehrdienst bei den Sanitätern durchaus mit meinem Gewissen vereinbar sei. Allerdings wurde ich, als ich am 1. Oktober 1986 zur Grundausbildung in der Zweiten Kompanie des Zweiten Sanitätsbataillons in der Tannenbergkaserne im hessischen Marburg antrat, schnell eines Besseren belehrt.

Die zweite Kompanie des zweiten Sanitätsbataillon der Bundeswehr im Herbst 1986 in einem hessischen Wald. Der Autor sitzt in der Mitte.
Die zweite Kompanie des zweiten Sanitätsbataillon der Bundeswehr im Herbst 1986 in einem hessischen Wald. Der Autor sitzt in der Mitte. Foto: privat

Harter Drill, strenge Disziplin, ständige Schikanen – mit der Bundeswehr und ihren hierarchischen Strukturen hatte ich so meine Schwierigkeiten. Vor allem passte es nicht zu meinem Freiheitsverständnis, gezwungen zu werden, pünktlich jeden Sonntagabend in einer Kaserne anzutreten. Das Schießen mit Gewehr und Pistole war mir zuwider. Erst nach der dreimonatigen Grundausbildung konnte ich meiner Zeit in der Bundeswehr zumindest einen Sinn abgewinnen: Ich wurde in einem sechswöchigen Lehrgang zum Sanitäter und Militär-Krankenpfleger ausgebildet, trat danach meinen Dienst im Bundeswehrkrankenhaus in Gießen an, zuerst im Labor, dann in der Urologie. In meiner Freizeit begann ich anarchistische Literatur zu lesen.

Einmal mussten wir nachts zur Übung ausrücken, als es hieß, die Truppen des Warschauer Paktes seien im Anmarsch. Mit meiner Kompanie nahm ich an NATO-Manövern teil, drei Wochen lang auf dem Truppenübungsplatz Baumholder, inklusive Aufbau eines Feldlazaretts, und eine Woche lang an einer Übung mit Amerikanern und Belgiern im Westerwald, bei der sich die Unteroffiziere, Stabsunteroffiziere und Feldwebel abends vor versammelter Truppe die Kanne gaben und mit den weiblichen GIs die Klamotten tauschten, während wir Sanitätssoldaten mit den Waffen im Anschlag im Kübelwagen Typ 181 eine Lichtung bewachen mussten. Außer Wache schieben mussten wir die Geräte warten, was mir und vielen meiner Kameraden ziemlich sinnlos vorkam.

Vom Militär zum Pazifismus

Mein Militärdienst verschaffte mir zwar einige Freunde und Erfahrung als „Kampf-Sani“ – zum guten Soldaten wurde ich jedoch nicht, obwohl ich meinen meine Bundeswehrzeit als Obergefreiter beendete. Stattdessen wurde ich zum überzeugten Pazifisten. Ich nahm an zahlreichen Anti-Kriegs-Protestaktionen teil, etwa in Luxemburg an der großen Demo gegen den Irakkrieg im Februar 2003. Tiefpunkte der US-Invasion im Irak und dessen Besetzung waren der Abu-Ghuraib-Folterskandal 2004 und das Massaker von Haditha 2005. Der Angriffskrieg der USA und ihrer „Koalition der Willigen“ war ohne Legitimation und ein Bruch des Völkerrechts, was dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der beteiligten Staaten des Westens schwer schadete..

Sanitätssoldaten in ihrer Stube in der Tannenbergkaserne von Marburg während der Grundausbildung 1986. Dritter von links ist der Autor.
Sanitätssoldaten in ihrer Stube in der Tannenbergkaserne von Marburg während der Grundausbildung 1986. Dritter von links ist der Autor. Foto: privat

Völkerrechtswidrig war auch die russische Annexion der Krim. Rechnet man die kriegerische Eskalation im ostukrainischen Donbass hinzu, herrschen in der Ukraine mehr als zehn Jahre Krieg. Eine „Zeitenwende“ bedeutete nach den Worten des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 – und eine radikale Wende deutscher Sicherheitspolitik. Das „komplette Denkgebäude der klassischen Friedens- und Konfliktforschung“ sei ins Abseits geraten, meint der Politologe Ulrich Menzel in seinem Buch „Wendepunkte: Am Übergang zum autoritären Jahrhundert“ (2023). „Eine Entspannung und Abrüstung gerichtete Außenpolitik wurde über Nacht ad acta gelegt“, schreibt der Soziologe Paul Schäfer, ehemaliger Abgeordneter der Partei Die Linke im deutschen Bundestag. „Die in den Medien und Politikwissenschaft jetzt vorherrschende Position lautet, dass in dieser neuen Welt(un)ordnung kein Platz mehr für romantische Vorstellungen einer wirkmächtigen UNO und einer europäischen Friedensarchitektur sei.“ Auch kein Platz mehr für Pazifismus? Kein „Frieden schaffen ohne Waffen“ mehr?

Die Bedrohung, die von der russischen imperialistischen Eroberungspolitik ausgeht, müsse zwar in Rechnung gestellt werden, so Schäfer in seinem Essay „Friedenspolitik nach der Zeitenwende“ (2024). In der Tat wäre die Ukraine als souveränes Land ohne militärischen Beistand schon untergegangen und müssten ehemalige Satellitenstaaten oder gar Teile der Sowjetunion ohne ihre Nato-Mitgliedschaft noch mehr die russische Bedrohung fürchten. Derweil hat die „alte“ Friedensbewegung keine wirklich neuen Antworten und bleibt in einem ritualisierten Diskurs gefangen. Sie wurde durch die Nachkriegszeit, die Studentenbewegung, den Kalten Krieg und die Entspannungspolitik geprägt. Hoffnungsfroh, fast euphorisch stimmte die unter Michail Gorbatschow einsetzende Abrüstung, die zu verschiedenen Verträgen führte.

Doch die Friedensbewegung hat sich einer Illusion hingegeben. Es wird wieder aufgerüstet. Der Pazifismus steckt in der Sackgasse. Aus dieser kommt er nur, wenn er sich von dem verengenden, moralisierenden Friedensbegriff löst. Der Gründungsvater der Friedens- und Konfliktforschung, der im vergangenen Jahr verstorbene Norweger Johan Galtung, unterschied zwischen einem negativen Frieden als Abwesenheit von Krieg und einem positiven als Fehlen von struktureller und kultureller Gewalt. Zu einem positiven Frieden bedarf es Sicherheitsgarantien für beide Seiten, im jüngsten Fall sowohl für die Ukraine als auch für Russland.

Aber es helfen auch keine historischen Vergleiche, so etwa die Warnung, die Fehler der Appeasement-Politik, wie sie in den 1930er Jahren insbesondere von britischen und französischen Politiker gegenüber Nazi-Deutschland betrieben wurde, zu wiederholen. Auch nicht die Parallelen, die zwischen der Ardennen-Offensive von vor 80 Jahren und dem Krieg in der Ukraine gesehen werden. Die Lehre aus dem damaligen Massensterben lautet: Es darf erst gar nicht mehr so weit kommen. Krieg kann nur eine „ultima ratio“ sein, kein Allheilmittel.

Demonstration gegen den Irakkrieg (2003)
Demonstration gegen den Irakkrieg (2003) Foto: Editpress-Archiv/Isabella Finzi
Luxmann
8. Januar 2025 - 21.47

Im grunde kommt es fuer den einzelnen immer nur auf 1 frage an.
Was ist mir wichtiger...mein leben und meine gesundheit oder das "vaterland"?
Vergessen wir nie welche antwort die grossherzogin und ihre regierung im mai 1940 auf diese frage gegeben haben.

Grober J-P.
7. Januar 2025 - 0.35

@ Mire / Was würden Sie einem solchen Staat sagen, wissend, dass die Gegenseite ebenso grausam zu Werke geht?
Ich würde beiden sagen, der Allmächtige hatte noch nie Macht sonst hätte er schon bei Euch aufgeräumt. Es geht um Macht von einigen ..........finde kein Wort dafür.

Mire
6. Januar 2025 - 9.28

"Die Lehre aus dem damaligen Massensterben lautet: Es darf erst gar nicht mehr so weit kommen. Krieg kann nur eine „ultima ratio“ sein, kein Allheilmittel."

Und trotzdem wird ein Staat unterstützt der gerade einen Völkermord begeht und illegal Land annektiert. Damit ist nicht Russland gemeint die das gleiche treiben aber sanktionniert werden, nicht wie das andere Land das dabei tatkräftig aus der EU und den USA dabei unterstützt wird. Die gleichen die gegen Russland für das gleiche Sanktionen ausgesprochen haben.

Marianne
6. Januar 2025 - 6.29

Ihre Erinnerungen in Ehren, aber meine Erinnerungen und die vieler Gleichaltriger sehen da etwas anders aus: Luxemburg war ein von den Deutschen besetztes Land. Z.B. erzählte meine Mutter mir, wie sie, eines morgens im Mai, von ihrer Mutter geweckt wurde, als die Deutschen die Sauer übertraten. Sie erzählte mir auch von den Kriegsjahren ohne Vater, der nach Deutschland "strafversetzt" worden war, von de "Muttimädchen" mit denen sie die Schulbank drücken musste, wo sie von der Lehrerin gequält wurde, weil mein Grossvater sich geweigert hatte, sich zu beugen. Ich könnte Ihnen auch von dem anderen Grossvater erzählen, der sich, nach Fürdenken meiner Mutter, nicht so "heldenhaft" verhalten hat. Er erzählte mir, wie sie morgens als sie auf die "Schmelz" gingen, vor der Ankunft der Deutschen gewarnt wurden. Einer seiner Kollegen, dessen Name mir leider entfällt, aber viele Minnetsdäpp werden sich erinnern, ging einfach weiter und wurde erschossen. Mein Opa musste in die DAF eintreten, aber er weigerte sich, den Hitlergruss zu machen. In unserem Haus waren irgendwann Deutsche einquartiert. Mein Opa musste für sie die Schuhe putzen. Meine Vorfahren waren keine JüdInnen oder KommunistInnen. Sie waren auch keine Behinderten oder Homosexuelle, sondern nur BürgerInnen eines Landes, das "Heim ins Reich" geholt wurde, wo ihnen ein untergeordneter, wenn auch privilegierter Platz in der Rassenhierarchie eingeräumt wurde. Die meisten haben diese Situation ertragen, nur wenig waren mit den Opfern solidarisch oder haben sogar aktiv Widerstand geleistet. Es ist aber ein kleiner, so doch feiner Unterschied zur deutschen Bevölkerung, die Hitler gewählt hat und ihm, lange Zeit, begeistert folgte. Die Männer waren auch nicht zufällig an der Front, sondern beteiligten sich an einer gewaltätigen Invasion fremder Länder, wo viele von ihnen an Gräueltaten, wie, z.B., Massenerschiessungen beteiligt waren. Dennoch brauchte es Jahrzehnte, bis diese kollektive Schuld erkannt wurde, und man aufhörte, sich selbst als Opfer zu sehen. Nie wieder Krieg!, heisst auch sich mit der Frage auseinander zu setzen, wie es dazu kommen konnte. Duckmäusertum, Opportunismus, Ideologie sind freilich beileibe nicht das traurige Privileg einer Nation, sondern haben mit Charaktereinstellungen zu tun. Darüber sollten wir gerade heute, wo wir erneut in einer Phase der Konfrontation leben, in der es offensichtlich nur eine richtige Meinung gibt, nachdenken.

Hottua Robert
5. Januar 2025 - 21.02

Herr KUNZMANN, ich weiß nicht, wie weit Grafeneck von ihrem Geburtsort entfernt ist. Das was dort geschah, wurde vom unfehlbaren päpstlichen "Luxemburger Wort" ab 1933 befürwortet. (>BINDING / HOCHE, Freigabe, 1920) Im Dezember 1944 mußten diese BefürworterInnen sich eine neue politische Heimat erschaffen: Die CSV - de sechere Wée. Seit 1974 frage ich mich, und seit dem rezenten Wahlerfolg dieser "arischen" ExpertInnen frage ich verstärkt nach dem "Wohin" dieses Weges. ▪NS-Euthanasie (Deutsche Welle, 01.02.2013) Der Probelauf zum Holocaust. Sie waren die ersten Opfer des systematischen Massenmords der NS-Dikatur: psychisch Kranke und behinderte Erwachsene und Kinder. Die erste EU-Konferenz zur NS-Euthanasie versuchte, Wissenslücken darüber zu füllen. Eigentlich plante Adolf HITLER bereits 1935 die "Reinigung des deutschen Volkskörpers von psychisch Kranken, Behinderten und Lebensunwerten". Doch noch rechnete er mit zu großen Widerständen in der Bevölkerung. "Die Lösung sollte der Krieg bringen, dann ist das Leben sowieso weniger wert", berichtete Professor Gerrit HOHENDORF auf der ersten europäischen Konferenz zu NS-Euthanasie, die drei Tage lang in Berlin stattfand. Viele der 170 Zuhörer aus 20 Ländern erbleichten angesichts der bestialischen Ideologie der Nationalsozialisten, die aus den historischen Zitaten sichtbar wurde. "Behinderte waren die ersten Opfer des Nazi-Terrors, die organisiert umgebracht wurden - an ihnen wurde geprobt", sagte der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert HÜPPE. ▪"Aktion T4" Seit dem 18. August 1939 waren Ärzte in Deutschland aufgefordert, Kinder mit Behinderungen den Gesundheitsämtern zu melden. Sie wurden danach in spezielle Anstalten abtransportiert, verhungerten dort oder wurden vergiftet. Der Begriff "Euthanasie" im Sinne von "schönem Sterben" ist also ein falscher Begriff, weil es vielmehr um brutalen Massenmord ging. Der Terminus hat sich aber bis heute in der Geschichtsschreibung etabliert. Im Oktober 1939 wurde das Tötungsprogramm auf Erwachsene ausgeweitet - und zwar auch in Polen, das im September angegriffen worden war. In der Berliner Tiergartenstraße 4 wurde für die "Aktion T4" eine Verwaltung mit 300 Mitarbeitern aufgebaut. Diese ließen in sechs Kliniken und Anstalten Gasräume einrichten. Hierhin wurden die Menschen mit sogenannten "grauen Bussen" gebracht und dann mit LKW-Abgasen bestialisch umgebracht. ▪300.000 Opfer Nach bisherigem Wissen starben nach Hitlers "Euthanasie-Erlaß" 70.000 Menschen. Im August 1941 wurde die Aktion beendet, auch weil es Widerstände in der deutschen Bevölkerung gab, wie HOHENDORF berichtete. "Die Nazis wollten die Kriegsbereitschaft nicht gefährden."
Berühmt wurde die Rede des Kardinals von GALEN in Münster, der von der Kanzlei aus die Aktionen als Mord verurteilt hatte. Dennoch ging das gezielte Töten weiter. Es begann die zweite, von Wissenschaftlern "dezentral" genannte Phase der NS-Euthanasie. Allein 5.000 Kinder wurden in 31 "Kinderfachabteilungen" mit Schlafmitteln oder Gift umgebracht, wie Christoph KOPKE von der Universität Potsdam berichtete. In psychiatrischen Anstalten wurden - das belegten die extrem hohen Sterberaten aus den Klinikbüchern - die Patienten systematisch unterernährt und so getötet. In den Arbeitslagern der Nazis wurden "dauerhaft Arbeitsunfähige" durch die SS ausgewählt und umgebracht, so KOPKE weiter. Oder es gab Massenerschießungen wie jene Aktion im November 1939 in den pommerschen Anstalten im heutigen Polen, bei der 2.300 Patienten ermordet wurden. Nach derzeitigem Wissen starben durch die NS-Euthanasie insgesamt 300.000 Menschen in Europa. In Polen, Ungarn, Tschechien, Sowjetunion, Frankreich, Österreich - überall fanden die Verbrechen statt. Von vielen Opfern wisse man noch nicht einmal die Namen, hieß es. Eine gesamteuropäische Aufarbeitung dieser Nazi-Verbrechen beginnt gerade erst. Das wurde auf der Konferenz in Berlin deutlich. ▪Jahrzehntelanges Schweigen "Warum aber dauert die Aufklärung so lange?", fragte Günter SAATHOFF von der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Die Konferenz konnte einiges dazu beitragen, die Gründe dafür zu erkunden: Fachleute aus Tschechien, Polen und den früheren Sowjetrepubliken berichteten aus ihren Heimatländern. "Es gibt keine Institution, keine Gedenkstätte und kaum jemanden, der sich in Polen damit beschäftigt", berichtete Artur HOJAN aus Koscian. In Tschechien gebe es zwar ein staatliches Gedenkinstitut, das widme sich aber hauptsächlich der Zeit nach 1948, berichtete Michael SIMUNEK aus Prag. Es gebe zudem nur wenige historische Daten. Jahrzehntelanges Verschweigen und der Eiserne Vorhang in Europa machten es Forschern in Deutschland schwer, die europäische Dimension der Verbrechen zu erforschen. Das wurde auf der Konferenz deutlich. Ein Problem sei auch, daß Publikationen aus Osteuropa nicht übersetzt wurden. Deshalb wisse man noch immer wenig über die Tagungen zur NS-Euthanasie, die in den 1960er und 70er-Jahren in der damaligen Sowjetunion stattfanden. ▪Geringes Wissen "Es gibt viele Länder in Südosteuropa und im Mittelmeerraum, von denen wir gar nichts wissen", sagte Professorin Stefanie ENDLICH aus Berlin: "Welche Parallelen, welche Unterschiede gibt es? Welche Rolle spielten religiöse Strukturen und Jahrhunderte alte Haltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen?", fragte sie. Auch in Deutschland sei viel zu wenig bekannt über Euthanasie. So wurde der Begriff "Vernichtung unwerten Lebens" bereits im späten 19. Jahrhundert erwähnt. Und im Ersten Weltkrieg verhungerten zehntausende Psychiatriepatienten. Über diesen ganzen Komplex, so berichtete ENDLICH, sei das Wissen bei ihren Studenten sehr gering ausgeprägt. Doch die Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Euthanasie ist nicht nur für die Wissenschaft wichtig. Der Beauftragte der Bundesregierung HÜPPE hob hervor, "daß die Diskussion über lebens- und unlebenswertes Leben auch eine aktuelle Relevanz" habe. Wenn er manche anonymen Beiträge in Internetforen zur bioethischen Debatte lese, mache ihm das klar, wie viel "von diesem Gedankengut noch in heutigen Köpfen schlummert". Christoph KOPKE sprach davon, wie wichtig die Erinnerung auch angesichts "der Ökonomisierung aller Lebensbereiche" sei, wonach sich alles rechnen müsse. Er warnte vor zu viel "Kosten-Nutzen-Denken in Krankenhäusern". ▪ Mahnmal geplant Der Deutsche Bundestag hat mit einem Beschluß im November 2011 insgesamt 500.000 Euro für ein Denkmal bewilligt, das am Ort der Planung des Massenmords, in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, im September 2013 eingeweiht werden soll. Die einstige Villa dort steht nicht mehr - dafür wird nun eine blaue, drei Meter hohe Glaswand das Grundstück markieren. Das Denkmal befindet sich dann unweit der anderen Denkmäler für die Opfer der Nationalsozialisten im historischen Stadtzentrum Berlins. Dazu gehören das Holocaust-Mahnmal, das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma sowie das Denkmal für die verfolgten Homosexuellen. Vielleicht wird das Thema dann etwas breiter in der Öffentlichkeit diskutiert, als das dieser Tage in Deutschland geschieht. Über die hochinteressante und emotional erschütternde Veranstaltung jedenfalls wurde in deutschen Medien so gut wie gar nicht berichtet.
[Foto: Berlin 2007: Der graue Bus unweit der Tiergartenstraße 4 erinnerte an die Ermordung von Kranken in der NS-Zeit]
[Foto: Schloß Grafeneck: In einem nahen Schuppen wurden 10.000 Menschen mit Kohlenmonoxid-Gas getötet]
(Deutsche Welle, Kay-Alexander SCHOLZ, 01.02.2013)
MfG, Robert Hottua, ein traumatisiertes Naziopfer, Gründer der LGSP

Reinertz Barriera Manfred
5. Januar 2025 - 20.32

also Schlussfolgerung: si vis pacem para bellum!