Die Zahl der „Clochards“ oder „Strummerten“ war hierzulande vor etwa 40 bis 50 Jahren noch sehr überschaubar. Sie galten oft als stadtbekannt. Ihr Schicksal wurde als selbstverschuldet oder als Folge tragischer Erlebnisse bezeichnet. Mit der Zeit wurden es mehr und mehr Betroffene. Menschen aus dem Ausland kamen hinzu, die Grenze zwischen Drogensüchtigen und Obdachlosen verschwamm. Die Obdachlosigkeit breitete sich aus, während auch die allgemeine Wohnungsnot zunahm. Vor allem Arbeitsimmigranten lebten in einigen Vierteln der Hauptstadt und Städten des Südens, wo das Wohnen noch erschwinglich war, teilweise unter prekären Bedingungen. Nach und nach kam es zu einer Gentrifizierung, sowohl Kauf- als auch Mietpreise für Immobilien stiegen – und Menschen mit niedrigen Einkommen hatten es zunehmend schwer, eine feste Bleibe zu finden.

Der Wohnungsbau konnte nicht mehr mit der wachsenden Nachfrage Schritt halten. Er richtete sich vor allem an jene, die es sich noch leisten konnten. Derweil wird der Sozialwohnungsbau sträflich vernachlässigt und spielt eine untergeordnete Rolle. Mit einem Anteil von zwei Prozent an Sozialwohnungen ist Luxemburg eines der Schlusslichter in Europa, konstatiert die Politologin Lindsay B. Flynn von der Universität Luxemburg. Sie betont, dass Wohnen ein Grundbedürfnis ist, doch hierzulande mittlerweile zum Luxus geworden und für viele Familien wird die Wohnungsmisere zum Trauma. „Seit den 1990ern wird Wohnen zunehmend als Investmentform gesehen und weniger als Ort zum Leben oder als ein Recht, wie es die Verfassung nun verankert“, so Flynn auf science.lu. Dabei sei die „Vermarktlichung“ des Wohnungsraums keine luxemburgische Besonderheit. Wohnen als Existenzfrage ist ein globales Phänomen.
Wachsende Kluft
Der Reichtum und die Spekulation mit Immobilien und Terrains bilden die eine Seite der Medaille einer gesellschaftlichen Polarisierung, einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Die Wohnungsnot und ihre extreme Form, die Obdachlosigkeit, sind die andere. Am Anfang der Ausstellung „Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ in der Abtei Neumünster werden die Besucher mittels mehrerer Informationstafeln auf die Obdachlosigkeit in Luxemburg und in sieben deutschen Städten – Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Köln, Leipzig und München – aufmerksam, mit Zahlen und Daten sowie einer Reihe von Projekten und Organisationen in jeder Stadt. Was die Situation in Luxemburg betrifft, wo es zwar mehr Anlaufstellen für wohnungslose Menschen gibt als je zuvor, ist die Zahl der Bedürftigen über die Jahre gestiegen und die Not größer geworden. Die Hilfsstrukturen sind zunehmend aus allen Nähten geplatzt, wie etwa jene der „Stëmm vun der Strooss“. Das soziale Klima ist rauer, die Stimmung unter den Bedürftigen und gegen sie sind aggressiver geworden.
Um die „Wanteraktioun“, das als luxemburgisches Beispiel auf den Infotafeln gezeigt wird, hat sich, wie eingangs der Ausstellung erklärt wird, eine Zusammenarbeit von drei Akteuren des sozialen Sektors entwickelt: Croix-Rouge, Caritas (heute HUT) und Inter-Actions – Dräieck ASBL. Im Winter 2022/23 etwa wurden von der „Wanteraktioun“ auf Findel insgesamt 1.310 Personen aufgenommen, von denen 48 Prozent aus anderen Ländern der Europäischen Union, 41 Prozent aus Nicht-EU-Staaten und neun Prozent aus Luxemburg kommen. Die Ausstellungsmacher weisen angesichts des Mangels an Wohnraum und der hohen Mietpreise hier wie anderswo auf jenen Teufelskreis hin, in dem sich die Betroffenen befinden: ohne feste Arbeit keine Wohnung und ohne feste Adresse keine Arbeit.

In dem Begleitband „Who’s next?“ heißt es: „Suchtprobleme, Depressionen und andere körperliche und psychische Probleme sind dabei auch vielfach die Konsequenz von Obdachlosigkeit, aber nicht ihre Ursache.“ Die Ausstellung, eine Kooperation des Architekturmuseums der Technischen Universität München um Kurator Daniel Talesnik mit dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, die zuerst in München, Hamburg und Bozen zu sehen war und hierzulande in Zusammenarbeit mit der Vereinigung Inter-Actions organisiert wurde, zeigt eine Reihe von Ansätzen der Architektur, wie Antworten auf das Phänomen der Obdachlosigkeit gegeben und architektonische Lösungen das Leben der Betroffenen verbessern können. Zu sehen ist eine Reihe von Beispielen von Siedlungen in Europa sowie außerhalb Europas. Die Schau stützt sich auf Tafeln, Videos und Modelle. Einige hervorgehobene internationale Fallbeispiele wie in Los Angeles, São Paulo, Hongkong und München sollen dazu anregen, über mögliche Lösungsansätze nachzudenken.
Systemische Ursachen – und Lösungen
Eine Quintessenz von „Who’s next?“ ist, dass es systemischer Lösungen bedarf. Denn Obdachlosigkeit ist mehr als das Klischee von der sozialen Desintegration des Einzelnen, der durch persönliche Schicksalsschläge, Überschuldung oder Krankheit in eine Abwärtsspirale gerät. „Die Zahl der Menschen, die in Unterführungen, unter Brücken und in Parks campieren oder in Schlafsäcken auf Abluftschächten der U-Bahn schlafen, wächst rasant“, schreibt Andres Lepik, Direktor des Architekturmuseums an der Münchner TU. „Die individuelle Misere der Betroffenen ist das sichtbare Resultat eines gesellschaftlichen Systemversagens.“ Er verweist darauf, dass Architektur und Obdachlosigkeit in den industriellen Gesellschaften seit langer Zeit ein widersprüchliches und zugleich untrennbares Begriffspaar bilden: „Obwohl die Zahl neuer Wohnungsbauten in vielen Weltregionen beständig steigt, nimmt zugleich die Quote der Wohnungs- und Obdachlosen dramatisch zu.“ Durch die Covid-19-Pandemie verschärfte sich die ohnehin prekäre Lage der Obdachlosen in aller Welt zusätzlich, denn die meisten Notunterkünfte waren nur eingeschränkt oder gar nicht nutzbar. Viele Obdachlose erfroren im Winter auf den Straßen oder starben, weil sie keine Impfung erreicht hat.
Nach UN-Schätzungen leben gegenwärtig 1,6 Milliarden Menschen weltweit in unzureichenden Wohnungen oder haben keine dauerhafte Unterkunft. Zunehmend sind junge Menschen gefährdet, in die Obdachlosigkeit zu geraten, ebenso ganze Familien. Die Vereinten Nationen verabschiedeten im Februar 2020 ihre erste Resolution zur Obdachlosigkeit, um die Regierungen zu raschen und entschiedenen Gegenmaßnahmen aufzufordern. Einige Aktionspläne wurden bereits verabschiedet und entsprechende Gelder bewilligt. Finnland geht seit 2016 mit gutem Beispiel voran und konnte die Zahl der Obdachlosen deutlich reduzieren. In der Europäischen Union, wo die Zahl in den vergangenen zehn Jahren um 70 Prozent auf mehr als 700.000 Personen gestiegen ist, sollen die Mitgliedstaaten Obdachlosigkeit entkriminalisieren und den Betroffenen einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen und Bildung gewähren. Dies geht aus einer Reihe von Empfehlungen hervor, die das Europa-Parlament im November zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit und Beendigung der Ausgrenzung auf dem Wohnungsmarkt verabschiedet hat. Das Parlament betonte, dass Wohnen ein grundlegendes Menschenrecht ist und forderte von der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten Maßnahmen, um die Obdachlosigkeit in der EU bis 2030 zu beseitigen.
Aus der Unsichtbarkeit
Andres Lepik weist auf die systemischen Ursachen hin. Die große Mehrheit der Obdachlosen habe das Leben auf der Straße nicht freiwillig gewählt: „Obdachlosigkeit ist ein individuelles Schicksal, für das es eine Reihe von strukturellen und gesellschaftlichen Gründen gibt.“ Eine zentrale Ursache liege in der wachsenden Ungleichheit der Einkommen, eine weitere in der sinkenden Zahl von sozialen Wohnungsbauten durch die Liberalisierung des Wohnungsmarktes. Es bedarf also „systemischer Lösungsansätze“. Die nötigen planerischen Konzepte seien längst vorhanden. Welche Rolle kommt der Architektur in diesem Problemfeld zu? Nur wenige Architekten und Architektenschulen hätten sich in den letzten Jahren mit der Thematik befasst, so Lepik, obwohl sie eine fundamentale gestalterische Aufgabe sei. Sie werde „eklatant“ vernachlässigt. Dabei sei Obdachlosigkeit als eine extreme Form der Armut ein kollektives Problem. Die Ausstellung zeigt daher eine Reihe von Beispielen, was Architektur bewirken kann: vom „Shelter from the Storm“ im Londoner Stadtteil Islington über die Züricher Notwohnsiedlung „Brothuuse“ zu dem Projekt „VinziRast-mittendrin“ in Wien, von den „Plaza Apartments“ in San Francisco bis zu „The Brook“ im New Yorker Stadtteil Bronx. Die äußerst sehenswerte Ausstellung bietet einen umfassenden Überblick über die Thematik. Auf dem Boden sind übrigens die Umrisse von Schlafplätzen eingezeichnet. Die Besucher laufen Gefahr, diese aus Versehen zu betreten, was eine Anspielung auf die Unsichtbarkeit der Obdachlosigkeit ist. Mit „Who’s next?“ dürfte sie sichtbar im öffentlichen Diskurs bleiben.
Die Ausstellung
Der Besuch ist gratis. Die Schau, bis 2. Februar 2025 zu sehen, ist ergänzt durch das Projekt „Street Dreams Art Made of This“ des Journalisten Ricardo J. Rodrigues und des Fotografen Marc Wilwert.

De Maart

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